Gottesdienste feiern mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen – wie kann das gelingen? Isabelle Molz schreibt über inklusive Liturgien.
„Rede doch einfach ganz normal, dann werden dich schon alle verstehen!“ Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört und wie müde bin ich, ihn immer wieder aufs Neue zu zerlegen. Das fängt schon bei dem Wort ‚normal‘ an, denn was ist schon ‚normal‘? Wer setzt die Norm, von der aus alles andere bemessen wird? Setzt ein solches Denken nicht voraus, dass es auch ‚unnormales Sprechen‘ gibt? Was für mich vermeintlich normal ist, kann für jemand anderes ganz anders sein. Ein Kompromiss ist für mich: Rede so, dass du verstehst, was du sagst, und wenn du in fragende Gesichter schaust, dann versuche zu erklären, ohne zu belehren. Sprich mit den anderen, und frage sie, warum man dich nicht versteht.
Suche nach einer geeeigneten Sprache
Die Herausforderung der Suche nach der geeigneten Sprache stellt sich besonders dann, wenn man zusammen mit Menschen mit Behinderung Gottesdienst feiert. In solchen Feiern zeigt sich immer wieder, dass die gängigen Symbole und Zeichen der Liturgie sowie die Rituale mit ihren nonverbalen Elementen nicht immer aus sich heraus verständlich sind. Das gilt zweifelslos nicht nur für Menschen mit Behinderung, aber in Gottesdiensten, bei denen Menschen mit Behinderung mitfeiern, wird dies besonders offensichtlich.
Liturgie ist von ihrem Wesen her inklusiv
Die Erfahrung zeigt, dass es nicht einfach ist, Liturgie[1] inklusiv zu denken. Dabei ist Liturgie von ihrem Wesen her bereits inklusiv. Auch wenn in der konkreten Gestaltung von liturgischen Feiern sich Mitfeiernde ausgeschlossen fühlen können, wenn Liturgie nicht auf Augenhöhe gefeiert wird, sondern ein Oben und Unten inszeniert wird, oder wenn Gottesdienst fern der Lebenswirklichkeit ist, so will doch Gottesdienst ein Gesamtgeschehen aller Feiernden sein, von dem niemand ausgeschlossen werden darf. Augenscheinlich wird die Gesamtproblematik um Inklusivität von Liturgie besonders an der liturgischen Sprache. Es kommt nicht von ungefähr, dass die liturgische Sprache im Rahmen des synodalen Prozesses weltweit als Stolperstein benannt wurde und auch bessere Predigten gefordert wurden.
Orientierung an menschlichen Bedürfnissen
Erinnert werden darf daran, dass das Zweite Vatikanische Konzil forderte, sich an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren, so dass sie „[…] zu jener vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern geführt werden, die vom Wesen der Liturgie selbst erfordert wird […]“ (SC 14). Das bedeutet: Gottesdienste müssen für alle Menschen zugänglich und verständlich sein, wenn „die Liturgie der Gipfelpunkt (ist, IM), zu dem das Tun der Kirche strebt, und zugleich Quelle, aus der all ihre Kraft strömt. Denn die apostolischen Bemühungen richten sich darauf, dass alle […] sich versammeln (und, IM) inmitten der Kirche Gott loben […]“ (SC 10). Soweit die theoretische Grundlage – offen bleibt die Frage, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Ein Antwortversuch:
Liturgie ist erklärungsbedürftig
Liturgie ist erklärungsbedürftig, denn in ihrer konkreten Gestaltwerdung ist sie häufig exklusiv und nicht für alle verständlich. Dies ist keine neue Einsicht. Aber: Diese Problematik wird im pastoralen Alltag kaum beachtet, legt man doch das Hauptaugenmerk darauf, die Menschen überhaupt dazu zu bewegen, in die Kirche zu kommen und weniger auf die Frage, wie die Feier denn konkret gestaltet werden soll. Zudem wird häufig übersehen, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen den beiden Aspekten gibt. Den Menschen Liturgie zu erschließen, ist eine liturgiepastorale Aufgabe heutiger Zeit und eine oft übersehene Chance. Schon aus der frühen Kirche stammt das Konzept der mystagogischen Vertiefung. Hierbei wird davon ausgegangen, dass der Mensch in der Liturgie Erfahrungen mit Gott macht und lernt, sich diese zu erschließen.
Das trifft für alle Menschen zu
Die so gewonnene Deutung kann zum Schlüssel für ein umfassenderes Liturgieverständnis werden. Dieser Ansatz knüpft bei der Lebenserfahrung der Menschen an, aus der heraus sie ihre Beziehung mit Gott gestalten bzw. gestalten können. Die Deutungshoheit liegt dabei bei jeder Person. So zu denken, ist heute ungewöhnlich, aber schlussendlich eine Konsequenz des nachkonziliaren Liturgieverständnisses, das die tätige Teilnahme eines jeden Mitfeiernden ausdrücklich fordert und an das Wesen der Liturgie bindet. Dies trifft für alle Menschen zu, auch für Menschen mit Behinderung. Es ist evident: Nimmt man dies ernst, dann bedeutet das einen Kulturwandel in der Kirche.
Jede Liturgie, wenn sie diesem Anspruch genügen will, muss einen Bezug zur Lebenswirklichkeit haben, sonst besteht die Gefahr zu einem inhaltsleeren Ritual zu verkommen bzw. (noch mehr) an Relevanz zu verlieren. Alle, die eine Liturgie vorbereiten, in ihr mitwirken oder sie leiten, sind gefordert einen Perspektivwechsel vorzunehmen, und alles daran zu setzen, dass alle Menschen unabhängig von ihrer individuellen Konstitution den Gottesdienst nicht nur ‚besuchen‘, sondern in voll, bewusst und tätig mitfeiern können.
Gottesdienste miteinander vorbereiten
Gerade im Blick auf Menschen mit Behinderung sehen viele beispielsweise eine Herausforderung darin, Gottesdienste miteinander vorzubereiten. Es wäre aber eine vertane Chance, sich dieser Herausforderung nicht zu stellen, weil dann eine Deutungsmöglichkeit der Gottesbegegnung fehlt und die Inklusivität gefährdet ist. Es versteht sich von selbst, dass derartige Prozesse begleitet werden müssen. Auch sollte selbstverständlich sein, dass Menschen mit Behinderung liturgische Dienste versehen und damit auch eine Sichtbarkeit in der Liturgie erhalten.
Der liturgischen Sprache muss besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, wird sie doch als ausgrenzend erlebt. Es lohnt sich, die Erfahrungen von Menschen wahr- und ernst zu nehmen, die selbst liturgische Texte schreiben und damit versuchen, Liturgie verständlich zu machen. Für die Verantwortungsträger für liturgische Texte mag ein solcher Zugang noch ungewöhnlich sein, aber ohne zeitsensible Sprachversuche heutiger Glaubender und Suchender unterliegt die Sprache in der Liturgie der Gefahr, an den Menschen, wie sie nun einmal sind, vorbeizugehen.
Inklusive Liturgie braucht auch eine inklusive Pastoral.
Dies sind nur einige Aspekte, die dazu führen können, dass Liturgie inklusiv(er) wird. Inklusive Liturgie braucht aber auch eine inklusive Pastoral. Wenn Inklusion in den pastoralen Konzepten einer Kirchengemeinde keine Rolle spielt, dann wird sie es in der Liturgie auch nicht tun. Es ist nur schwer vorstellbar, dass eine inklusive Erstkommunionkatechese in einer liturgischen Feier mündet, die nicht inklusiv gestaltet ist. Und dieses Beispiel lässt sich für andere pastorale Handlungsfelder ebenso durchspielen. Damit sich die Perspektive ändert, braucht es eine offene Haltung für die Vielfalt der Menschen. Inklusive Pastoral bedeutet auch, dass Angebote für alle Menschen offen sein müssen und dass allen die Teilnahme ermöglicht wird.
Haltungsfrage
Und was bleibt am Ende? Vermutlich ist es die Erkenntnis, dass es noch so viele Entwürfe, Konzepte und wissenschaftliche Auseinandersetzungen geben kann: Inklusion ist immer eine Haltungsfrage. Inklusion kann nur dort gelingen, wo Menschen sich für andere Menschen und ihre Lebenswelt öffnen. Sie gelingt, wo Menschen nicht von ihren Defiziten her wahrgenommen werden. Bemühungen um Inklusion in Liturgie und Pastoral orientieren sich an jenen, die am wenigsten sichtbar sind.
Isabelle Molz ist Pastoralreferentin in der Erzdiözese Freiburg. Als Dekanatsreferentin ist sie auch lokale Projektkoordinatorin für den Kirchenentwicklungsprozess der Erzdiözese. In ihrer Dissertation hat sie sich mit dem Thema „Inklusive Liturgie. Liturgie feiern mit Menschen mit Behinderung“ auseinandergesetzt.
[1] Liturgie meint alle gottesdienstlichen Feierformen.