Wolfgang Reuter und Andreas Odenthal berichten von einem Forschungsprojekt zu Liturgie und Seelsorge in der Psychiatrie.
(K)eine Alltagsszene: „Gott segne Sie, Sie gute Seele“, sagte ein Teilnehmer einer Eucharistiefeier in der Kapelle des LVR-Klinikums Düsseldorf zum Priester, der ihm gerade die Hostie gereicht hatte. Anstatt wie gewohnt mit dem „Amen“ zu antworten, gestaltete er die seelsorgerliche Beziehung um: Er beantwortet den Empfang des Leibes Christi mit einem eigenen Segenswort für den Priester. Aus einem Empfangenden wird ein Gebender. Mehr noch, der Teilnehmende wird zum kreativ Handelnden, indem er nun selber den Priester segnet. Damit verkehrt er die gewohnte Spender-Empfänger-Beziehung und übernimmt selbst rituelle, seelsorgliche und auch priesterliche Funktionen. Eine andere Hierarchie wird eingeführt, nämlich die des Segens. Der gut gewählte Moment wird zu einem „heiligen Augenblick“ der Begegnung glaubender Menschen mittels Segen und Sakrament.
Profil des Projektes: Aus dem seelsorglichen Alltag heraus
Szenen wie diese waren Anlass das Projekt „Liturgien an AndersOrten“ zu starten, das vom Referat Behinderten- und Psychiatrieseelsorge des Erzbistums Köln sowie dem Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft und der Pastoralpsychologie an der Universität Bonn getragen wird. Realisiert wird es von einer Arbeitsgruppe, in der Seelsorger*innen aus der kategorialen Seelsorge für Menschen mit Behinderungen und für psychisch Kranke, sowie Wissenschaftler aus dem universitären Kontext zusammenarbeiten. Regelmäßige Arbeitstreffen dienen dazu, Szenen aus dem seelsorglichen Alltag vorzustellen, sie unter Bezug auf das Leitthema zu analysieren und unter Supervision weiter aufzuarbeiten.
(Andere) „Hierarchien“ in den Blick genommen
In der praktisch-theologischen Analyse der Szenen gerät ein für das Handeln der Kirche zentrales Thema in den Blick: die Hierarchien, in der Liturgie ebenso präsent wie in der Praxis der Seelsorge. Auch in der Arbeitsgruppe bilden sich verschiedene Hierarchien ab: Arbeitsverhältnisse, ordiniertes Amt und Laien in der Seelsorge, unterschiedliche Expertisen in Praxis und Wissenschaft. Darüber hinaus entwickeln sich im seelsorglich-liturgischen Kontext neue Hierarchien, welche bisher so nicht im Blick der seelsorglich Handelnden waren. Der Arbeitsprozess wird unter anderem deshalb supervidiert, um diese Hierarchien sichtbar zu machen, zu hinterfragen und sie nutzen zu können.
Hierarchien bestimmen natürlich das kirchliche rituelle Handeln. Sie sind in jeder seelsorglichen Beziehung wirksam. Aus diesen Gründen erfordern sie eine grundsätzliche Offenlegung wie auch Würdigung und Korrektur. Dies wird in der eingangs geschilderten Szene deutlich. Ihr entscheidender Fokus liegt darin, dass Hierarchien hier gegen den Strich gebürstet werden und so eine neue rituelle Erfahrung entsteht, nämlich die des gegenseitigen Gebens und Nehmens. Bewegt sich dieses Beispiel noch in den Grenzen traditioneller liturgischer Praxis, soll im Projekt der Blick auf vielfältige Formen von Liturgien und Ritualen geweitet werden, die sich in der Seelsorge mit psychisch kranken Menschen und Menschen mit Behinderungen ergeben. Es geht zum einen um die „angebotenen“ rituellen Formen, zum anderen aber um die von konkreten Menschen im Kontakt mit den Seelsorger*innen erbetenen, wie auch um die von ihnen selbst gestalteten Rituale des Alltags.
Dimensionen rituellen Handelns im Kontext von Liturgie und Seelsorge
Damit geht es um die Fragen nach Deutungshoheit und Ritualkompetenz, die quer durch die Hierarchien laufen. Vor diesem Hintergrund untersucht das Projekt „Liturgien an AndersOrten“ rituelle Erfahrung multidimensional. Bisher so nicht in den Blick genommene Dimensionen rituellen Handelns im Kontext von Liturgie und Seelsorge regen den praktisch-theologischen Diskurs an:
- Von Liturgien und AndersOrten ist hier ganz bewusst im Plural die Rede, wodurch die Vielfalt liturgischen und seelsorglichen Handelns thematisiert wird.
- Dabei ist die Bedeutung von „Liturgie“, „Seelsorge“, „Ort und Raum“, „Lebens-Raum“ und „AndersOrten“ näher zu beschreiben.
- Ein besonderer Fokus wird auf die relationale und räumliche Dimension des Liturgisch-Rituellen zu richten sein.
- Zu untersuchen sind die Ambiguitäten zwischen dem kanonisierten und damit festgelegten Ritual und persönlich-kreativer ritueller Praxis im Hinblick auf die Ritualkompetenz der Beteiligten.
- Damit verbunden ist die Frage nach den handelnden Subjekten in Seelsorge und Liturgie und der Deutungshoheit über das rituelle Tun.
- Der Begriff und die Praxis des „Ritentransfers“ werden neu beschrieben.
„AndersOrte“
Der Fokus des Projektes zielt auf „AndersOrte“: Damit sind Felder jenseits der traditionellen und klassischen (Pfarrei-)Strukturen kirchlichen Handelns gemeint. Sie ereignen sich im Kontext der Seelsorge mit behinderten Menschen und Menschen mit psychischer Erkrankung. Mit ihnen geschieht zunächst – ganz klassisch – institutionell verankerte und von den Kirchen verantwortete Seelsorge, gewährleistet durch entsprechendes Fachpersonal. Zu dessen Aufgaben gehört es, auch die rituellen Formen der Kirche zu wahren und zur Verfügung zu stellen. An diesem Punkt wird ein Perspektivwechsel versucht: Was geschieht eigentlich mit den im institutionellen Rahmen „von oben“ angebotenen Ritualen? Was machen die Menschen damit? Wie gehen sie kreativ damit um? Welche Anlässe für Liturgien fordern sie jenseits des „Angebotes“ ein? Und: welche eigenen Rituale bringen die Menschen an AndersOrten selbst mit ein? Kurz: Es geht darum, die Menschen neu als Akteure der Liturgie und „Designer“ ihrer Rituale wahrzunehmen und praktizierten Ritentranfers als Inspiration für die liturgische und seelsorgliche Praxis zu verstehen.
Ein Katalog von Fragen
Mit dem Perspektivwechsel ist ein Katalog von Fragen verbunden: Welche Rolle spielt die Kirche mit all ihren Grundvollzügen, wenn Seelsorgende sich, wie in dieser Untersuchung, auf die Erfahrungen und die rituellen Kompetenzen der Menschen im relationalen Sinn einlassen? Welche Rolle kommt dann den Amtsträger*innen in der Seelsorge zu, unter denen einige ja Teil des ordinierten Amtes sind, andere wiederum nicht? Was ist überhaupt Liturgie? Ist jedes im seelsorglichen Kontext vollzogene Ritual bereits Liturgie der Kirche? Welche Standards gelten hier, welche sind aufgrund der Bearbeitung der untersuchten Szenen neu zu entwickeln? Welche Sprachformen werden verwendet, und welche Gottesbilder werden damit transportiert? Wo sind Grenzen dessen, was im Kontext kirchlichen Handelns rituell praktiziert werden kann, und wer bestimmt sie? Wie ist mit einer Individualisierung des Ritualdesigns umzugehen im Hinblick auf die Öffentlichkeit der Kirche? Eine wichtige Frage ist auch die nach dem Zueinander allgemein religiöser Bedürfnisse und spezifisch christlicher Füllung.
Im Focus – Die Betroffenen am „AndersOrt“
Diese Fragen, wie auch die beschriebene Szene aus dem Gottesdienst zeigen an, wie wichtig es ist, hier konzeptionell weiter zu denken. Zugleich wird offenkundig, wie durch die Kompetenz der Leidenden Perspektiv- und Paradigmenwechsel in die seelsorgliche Praxis der Kirche eingebracht werden können. Das Feld der Seelsorge mit behinderten Menschen oder Menschen mit psychischer Erkrankung bietet sich in besonderer Weise an, weil Seelsorge sich hier ex-zentrisch ereignet und von den Betroffenen auf ganz eigene Weise gestaltet und eingefordert wird. Die „AndersOrte“ werden so zu einem ‚locus theologicus‘. Eine besondere Offenheit der Betroffenen für unbewusste und sinnlich-symbolische Dimensionen des Lebens mag in Kombination mit ihrer spezifischen Vulnerabilität zu einer ganz eigenen rituell-liturgischen Praxis führen.
Die besonderen Felder rituell-liturgischer Praxis an AndersOrten sind auch deshalb so spannend, weil sich hier Entwicklungen vollziehen, die eventuell mit zeitlicher Verzögerung auch gemeindlich-kirchliche Strukturen ergreifen und sich somit als paradigmatisch erweisen können.
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Bild: Klinikkirche im LVR-Klinikum Düsseldorf, © klinikseelsorge.
Wolfgang Reuter, Dr. theol. habil., Privatdozent für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, Leiter der Behinderten- und Psychiatrieseelsorge in Düsseldorf/Neuss, Psychoanalytiker in eigener Praxis.
Andreas Odenthal, Dr. theol., Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Bild: (C) Schafgans dgph.