Welche Signale sendet die Kirche in die jetzige Situation, wenn sie das allgemeine Gottesdienstverbot lockert? Bernd Hillebrand schaut genau hin.
Eine extrem kontroverse Stimmung entsteht momentan innerhalb der Kirchen angesichts des bevorstehenden Endes des allgemeinen Gottesdienstverbots. Die einen jubilieren und die anderen geraten unter inneren Druck, weil Gottesdienste in der Öffentlichkeit wieder stattfinden sollen. Es ist verständlich und nachvollziehbar, dass nach einer langen Zeit des Verzichts die Sehnsucht und nun die Erleichterung groß ist, dass gemeinsames Gottesdienstfeiern in Kirchen wieder möglich wird. Auf den zweiten Blick fragen sich jedoch viele, ob sie unter den strengen Auflagen überhaupt Gottesdienst oder auch Eucharistie in ihrem eigentlichen Sinn feiern können und wollen.
Was sind Bedingungen für gemeinschaftliches Feiern?
Angesichts der neuen Situation stellen sich plötzlich Fragen, was Bedingungen für gemeinschaftliches Feiern sind. Wieviel innere Freiheit und Gelassenheit ist notwendig, damit die Angst vor dem anderen und vor einer möglichen Ansteckung nicht ein Miteinander verhindern? Kann eine mitfeiernde Person guten Gewissens einem Gottesdienst beiwohnen, an dem aufgrund von Anzahlsbeschränkungen nicht alle teilnehmen können, die es eigentlich möchten? Wie fällt die Auswahlentscheidung, wenn mehr als zwei Ministrant*innen ihren Dienst tun wollen? Welche Konsequenzen entstehen, wenn participatio actuosa als eucharistisches Existenzial des II. Vaticanums nicht mehr gegeben ist, da Singen oder Akklamationen nur bedingt möglich sind? Wie verändert sich das innere Feiern und die innere Präsenz eines/einer Zelebrant*in, wenn die gottesdienstliche Performanz von wiederholtem Desinfizieren der Hände geprägt ist? Und schließlich fragen sich Priester und Pastoralteams, ob sie Gottesdienste verantworten können, in denen ältere Gottesdienstbesucher*innen vielleicht sogar von ihnen selbst, angesteckt werden.
Wie verändert sich das Feiern, wenn es von wiederholtem Desinfizieren der Hände geprägt ist?
So positiv und erfreulich wie die Wiederaufnahme von Gottesdienstfeiern klingen mag, so bedrängend sind auch die Fragen, die sich Zelebrant*innen wie auch Gottesdienstbesucher*innen angesichts eines Neustarts stellen. Zelebrant*innen stellen sich die Frage, ob sie sich, ihrem eigenen Gewissen folgend, auch gegen die Feier von Gottesdiensten entscheiden können und wollen.
Angesichts dieser diffusen Situation, die alles andere als überzeugende Bedingungen darstellt, wieder mit Gottesdiensten in der Öffentlichkeit zu beginnen, stellt sich mir viel grundsätzlicher die Frage, ob es im jetzigen Moment primäre Aufgabe von Kirche ist, den Heilsdienst in der Form öffentlicher Liturgie so schnell wie möglich wieder zu garantieren.
Ist es primäre Aufgabe von Kirche, den Heilsdienst in der Form öffentlicher Liturgie so schnell wie möglich wieder zu garantieren?
Es gibt ja durchaus alternative Liturgieformen wie zum Beispiel Gottesdienstübertragungen, Gottesdienste in Familien und Hausgemeinschaften, in Onlineforen oder andere kreative Formen, die lebendig gelebt und gefeiert werden. Die innere und äußere Not hingegen vieler Menschen ist in der momentanen Situation groß. Viele machen sich Sorgen um ihre berufliche Zukunft. Familien sind an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Alte und kranke Menschen machen sich Sorgen, gesund zu bleiben und leiden gleichzeitig an Einsamkeit. Die Einschränkungen sind nach wie vor groß und viele würden gerne Freund*innen wieder besuchen, sie umarmen und die Nähe zu ihnen erfahren. Wäre es nicht gerade jetzt ein wichtiges und genuin christliches Zeichen hinein in diese Gesellschaft, sich solidarisch mit allen zu zeigen, die auch verzichten und unter Einschränkungen leiden müssen? Diese Solidarität mit all den Gastronom*innen oder geschlossenen Kitas wäre eine gelebte und erfahrbare Liturgie gebrochenen Brotes, in der uns der Auferstandene erscheinen könnte.
Solidarität mit Gastronom*innen oder geschlossenen Kitas wäre eine gelebte und erfahrbare Liturgie gebrochenen Brotes.
Mir scheint, dass gerade in der Situation von Not und Problemen theologische Engen und die Notwendigkeit von pastoraltheologischen Weiterentwicklungen aufscheinen. Zwei Spuren möchte ich andeuten, die eventuell das schnelle Streben nach und Einfordern von Gottesdiensten erklären können.
Die erste Spur führt zu den Grunddiensten von Kirche. Nach dem Konzil haben die vier Grunddienste wichtige Pfeiler kirchlichen Handelns konstituiert. In den letzten 50 Jahren hat es unterschiedliche Aufbrüche in allen vier Bereichen gegeben. Allerdings haben sie sich im Denken vieler immer mehr isoliert und voneinander abgegrenzt.
Die Grunddienste von Kirche haben sich immer mehr voneinander abgegrenzt.
Für die Diakonie übernahm die Caritas die Verantwortung. Die Martyria übernahmen die pastoralen Mitarbeiter*innen und in den letzten Jahrzehnten die aufbrechenden geistlichen Gemeinschaften. Die Koinonia hingegen steht nach gesellschaftlichen Veränderungen und kirchlichen Verlusterfahrungen im fluiden Netzwerk großer Gemeinden vor völlig neuen Herausforderungen. Die Liturgie schließlich blieb vor allem den Priestern vorbehalten, über die sich nun die meisten fast ausschließlich definieren. Die wechselseitige Verflechtung der Grunddienste als perichoretisches Verhältnis, wie Ottmar Fuchs sie entfaltet hat, wurde nie ausreichend rezipiert. Dadurch gerät bis heute das wechselseitige Ineinandergreifen von Gottes- und Nächstenliebe, von Martyria und Diakonia aus dem Gleichgewicht. Angesichts von bedrohlichen Defiziterfahrungen verliert Kirche in händeringendem Selbsterhaltungsstreben tendenziell ihre solidarische Aufgabe und Verantwortung. Die Versuchung ist groß, in einer sich immer mehr verflüssigenden Kirche, in der große Transformationsprozesse stattfinden, die eigene Stabilität vor allem durch die Liturgie zu sichern. Dieser Effekt scheint mir auch in der momentanen Situation zu greifen.
Angesichts von Defiziterfahrungen verliert Kirche tendenziell ihre solidarische Aufgabe und Verantwortung.
Die zweite Spur führt auf Augustinus zurück. Was hier nur angedeutet werden kann, findet sich in der Relecture einer politischen Theologie und im Besonderen der Forderung nach einer neuen Theodizee-Empfindlichkeit bei Johann Baptist Metz (Lerngemeinschaft Kirche, Gesammelte Schriften Band 6/2). Metz zeigt, dass durch eine Übersteigerung des Schuldgedankens bei Augustinus eine einseitige Soteriologie entstand, die sich vor allem auf die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen, gerade auch durch die Heilsmittel der Kirche, reduzierte. Die zweite soteriologische Seite, die messianische Rettungsdimension Jesu verlor an Aufmerksamkeit, die an die Leiden der Menschen und an das Leiden Jesu Christi erinnert, in deren Fokus sich unumgänglich die Theodizeefrage stellt.
Gerade der Bezug zum Leiden der Anderen und der Solidarität mit ihnen macht Eucharistie leidensfähig.
Aus dieser Aufmerksamkeit für das Leiden der Menschen heraus entsteht dann eine Option für die Armen und für die Anderen. Nur dadurch isoliert sich Gottesdienst und Eucharistie im Besonderen nicht als autarkes Geschehen und Recht zwischen den Gläubigen und Gott. Gerade der Bezug zum Leiden der Anderen und der Solidarität mit ihnen macht Eucharistie leidensfähig. Angesichts der massiven Forderung momentan nach der Wiederaufnahme öffentlicher Gottesdienste scheint mir das augustinische Erbe noch nicht überwunden und Kirche in der Gefahr zu sein, ein starkes Zeichen im solidarischen Ver-zicht als kairos zu verspielen und zu verpassen.
Eucharistisches Handeln als Solidarität mit den Menschen könnte gerade im gottesdienstlichen Verzicht sichtbar werden.
Beide Spuren deuten darauf hin, dass eine theologische Einseitigkeit im Handeln von Kirche entstand. Eucharistisches Handeln als Solidarität mit den Menschen könnte gerade im gottesdienstlichen Verzicht sichtbar werden, der leidet mit allen Leidenden, die unter den Einschränkungen der Corona-Pandemie Not erfahren. Diese Solidarität wäre dann eine Liturgie des gebrochenen Brotes, mit der bereits das Urchristentum die Botschaft des Auferstandenen lebte und weitergab: Präsenz bei den Menschen und diakonisches Handeln für die Menschen. Beides sind Zeichen des Jetzt und Haltungen, die das Urchristentum überleben ließen (vgl. Christoph Markschies, Das antike Christentum).
Es wäre ein befreiendes Zeichen der Solidarität, wenn Kirche noch auf öffentliche Gottesdienste verzichtet.
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Dr. Bernd Hillebrand ist Professor für Praktische Theologie, Schwerpunkt Pastoraltheologie, an der Katholischen Hochschule Freiburg i.Br.
Beitragsbild: pikrepo.com