Innehalten, einfach, selbstbestimmt, bewusst und sorglos leben: Für Christoph Gellner ist Hansjörg Schertenleibs Cottage-Tagebuch «Palast der Stille» das Buch der Stunde.
Ein kleines Cottage auf einer Insel vor der Ostküste Amerikas: «sorglos, traumgleich, frei wie die Kindheit, wenn Winter die Erde in Weiß windet», wie das Zitatmotto T.S. Eliots die für seine Schönheit und Unberührtheit der Natur bekannte Gegend Neuenglands beschwört. In Massachusetts, am Walden Pond, wo Henry David Thoreau in einer Blockhütte seinen zweijährigen Aussteigerselbstversuch durchführte, setzt das neue Buch des Schweizer Schriftstellers Hansjörg Schertenleib (*1957) ein:
«Er will nicht länger effizient sein, strebsam, zwanghaft optimistisch und erfolgsorientiert, will nicht länger eingeschätzt und beurteilt werden, will nicht länger freundlich sein, um einen Frieden zu bewahren, dem er nicht mehr traut. […] Er ist in seinem sechzigsten Jahr, und er sinkt, sinkt. Bleibt er in der Schweiz, geht er unter.
Er ist am Ende.
Ich bin am Ende.
Also stehe ich am Anfang.»
«Hier sucht man keine Ruhe, hier findet man sie.»
Der Einstieg in das 176 Seiten umfassende Buch ist gut gewählt: Henry David Thoreaus «Walden oder Leben in den Wäldern» (1854), das Hohelied eines einfachen, selbstbestimmten kontemplativen Lebens, unabhängig von den Zwängen einer durchs Materielle geprägten Existenz, ja, im Einklang mit der Natur, ist längst zu einer Art grüner Bibel avanciert.
Zum Ur-Klassiker ökologisch sensibilisierten Nature Writings, inspiriert vom US-amerikanischen Transzendentalismus als auch von Goethe und vor allem Alexander von Humboldts ökospiritueller Überzeugung: «Alles ist Wechselwirkung». Insbesondere teilte Thoreau Humboldts Glauben, dass sich einzelne Beobachtungen zu einem Porträt der Natur als Ganzem zusammenfügen wie ein Faden im großen Teppich, aus dem die Natur gewebt ist.
Kaum zufällig beschließt Schertenleib sein Buch mit einem poetologischen Schlüsselzitat Thoreaus: «Erst nachdem wir wieder zu Hause angekommen sind, besteigen wir den Berg wirklich, falls wir das jemals tun.»
Die Segnungen selbstgewählter Einsamkeit und langer Weile
«Es gibt die Natur, aber nicht den Menschen, so groß ist die Stille, in der sich Hirsche, Schneehasen, Rehe und andere scheue Tiere zeigen, die uns meiden», beobachtet der Deutschschweizer Autor. «Diese Stille anzunehmen, in der man Dinge denkt, die einem sonst nicht einfallen wollen und in der jeder Laut an Bedeutung gewinnt, ist eine Herausforderung».
Neurologen hätten herausgefunden, dass die Aktivität der Großhirnrinde, wo sich das Hörzentrum befindet, in Phasen der Stille fast zum Erliegen komme, «wohingegen tiefer liegende Hirnregionen aktiviert werden. Regionen, zu denen Menschen, die ein lärmerfülltes Leben führen, kaum Zugang erhalten, Regionen, die offenbar einen tieferen Grad des Denkens ermöglichen.»
In einer der zahlreichen Rückblenden in Schertenleibs Kindheit und Jugend taucht assoziativ die Erinnerung an eine paradigmatische biblische Erzählung auf, die er im Zürcher Religionsunterricht kennen lernte, den er «als katholischer Junge besuchen musste».
Der Vikar las aus 1 Kön 19,11-12, «wie Gott sich Elia zeigte, indem er erst einen Orkan aufziehen ließ, danach ein Erdbeben herbeiführte und schließlich eine Feuersbrunst entfachte. Gott aber sei nichts von alledem, […] nein, Gott kam danach, als ein ‘stilles, ein sanftes Sausen’. ‘Heißt das’, fragte ich entgeistert, ‘Gott ist die Stille?’ ‘Genau das heißt es!’ Damit hatte er mich auf seiner Seite, der Vikar.»
«Wie wunderbar still es ist!»
Der befreiende Aufbruch aus der «Enge» der Eidgenossenschaft in die Fremde ist für ein Schweizer Schriftstellerleben seit Gottfried Keller und Robert Walser keinesfalls untypisch. Von 1996 bis 2015 lebte der eigenwillige Autor von zwei Dutzend Romanen, Erzählungen, Gedichten und Stücken, der auch aus dem Englischen übersetzt, in Country Donegal im rauhen Nordwesten Irlands.
«Die Jahre in Irland haben mich auch gelehrt, wochenlang allein zu sein und die Stille zu schätzen und zu genießen und nicht bloß zu ertragen. Stille ängstigt mich nicht, sie ist tröstlich, ein Geschenk.» «Schwerer als den Wind ertrug ich nach einigen Jahren in Irland den Regen, den ewigen Dauerregen Donegals, als der Klimawandel dafür sorgte, dass die Sommer ausblieben». Als selbst Einheimische anfingen, vom Auswandern zu reden, wusste er, «es war an der Zeit weiterzuziehen». Schertenleib ging in die Schweiz, 2016 erwarb er ein Cottage in Maine, dem nördlichsten Bundesstaat der USA.
«In dieser Stille höre ich das Fallen der Schneeflocken, die von den Bäumen schweben und vom Luftzug meiner Handbewegung wieder in die Höhe steigen, als Knistern eines Flügels, der sich entfaltet.» Es ist tiefster Winter, die grimmige Kälte lässt keine falsche Naturverklärung aufkommen: «Ich werde keine Wege schaufeln können, die bleiben. Keinen zur Garage, keinen zum Gartenschuppen. Was ich tue, wie schön, ist sinnlos. Ich bin machtlos gegen die Natur, weitermachen werde ich trotzdem.»
«Kiefern sind die besten Übersetzer des Windes», überlässt sich Schertenleibs Ich-Erzähler ganz der Anschauung der Natur. «Während ich zusehe, wie die Flocken eine Wand um die Insel ziehen, die stetig näher rückt, als schleiche sie sich an, geht mir die Beobachtung, von der ich nicht weiß, wo ich sie gelesen habe, durch den Kopf, Schnee sei stiller Beifall für die Erde. Ich sitze in meinem Ausguck wie in einem Gemach, das alle Töne dieser Welt aussperrt. Ich sitze ruhig und beispielhaft. Gehen und rennen sollen andere, so sie wollen. Oder müssen.»
«Ich stehe nicht mehr in Konkurrenz, habe nicht den Anspruch, alles zu sehen, zu hören»
«Bald stellte es sich als Segen heraus, einzig über Festnetz erreichbar zu sein und nicht länger von den Nachrichten, Meldungen, Meinungen und Urteilen auf Internetportalen behelligt zu werden», erfahren wir über Schertenleibs Lebensalltag fern von Smartphone, Breaking News und Social Media, ohne Fernseher, Radio, Mikrowelle und elektrischem Dosenöffner. «Ich brauche nicht länger einsatzbereit zu sein, gehöre nicht länger zum Zug derer, die Tag für Tag motiviert ins Feld ziehen, stehe nicht mehr in Konkurrenz, habe nicht den Anspruch, alles zu sehen, zu hören, bin in meinem Versteck angekommen, im Zweimannzelt im Irgendwo, am Rand des Waldes, am Saum des Meeres.»
Immerhin kann er eines der zehn Computerterminals im ruhigen und oft leeren Lesesaal der Public Library Bibliothek für Mails oder zum Skypen nutzen und dort Bücher, DVDs und CDs ausleihen. »In Maine überleben lange Gedanken, aber nur kurze Sätze», versichert ihm ein fast 80-jähriger Witwer und Vietnamveteran. Doch trifft er Jeffry nie bei den Computern, sondern im Gang zwischen Nature Writingund Poetry: «Der Winterwind hier bläst dir die Wörter aus den langen Sätzen, […]. Ein Winter hier ist mindestens vier Gedichtbände lang, also deck dich ein»!
Die Unzufriedenheit mit dem «herausgeputzten Schatzkästlein» Schweiz, die Sehnsucht, ins Offene, Weite und Eigene zu gelangen, ist ein durchgehendes Motiv in Schertenleibs erzählerischem Oeuvre. Der in einfachen Verhältnissen aufgewachsene 62-Jährige staunt selber über seinen Weg zur Literatur: «Zum Leser von Büchern wurde ich mit siebzehn, als mir der Deutschlehrer der Gestalterischen Berufsmittelschule […] Peter Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied in die Hand drückte. Ich kapierte, Literatur trifft mich, geht mich an, erzählt von mir.» Bald schon wagt der «grüblerische Einzelgänger» den «Schritt vom Schriftsetzer zum Schriftsteller»: «er muss seine eigene Sprache finden, muss Sätze aus eigenen Wörtern bilden, um auszudrücken, wer er sein könnte».
«Das Abenteuer Schreiben»
«Jedes Buch, das er fortan in Angriff nimmt, wird ihn in unbekanntes Gelände führen, in dem er sich verlaufen und verirren darf, das ist der Anspruch, den er an das Abenteuer Schreiben stellt», vergegenwärtigt Schertenleib seine literarischen Anfänge. «Er will nicht darüber schreiben, was er sieht, er will darüber schreiben, war er sich vorstellt. Es ist ihm unverständlich, dass die meisten Menschen die Gewissheit ausstrahlen, in die richtige Richtung unterwegs zu sein. Aufrecht sitzen sie in Tram und Bus in Fahrtrichtung, die verschlossenen Gesichter nach vorn gerichtet, gekämmt und geduscht, einen gültigen Fahrschein in der Tasche. Er will schreiben, aber in welche Richtung ihn dieses Schreiben führt, will er nicht wissen.»
Die Zürcher Jugendunruhen 1980, bei denen ihm drei Stadtpolizisten einen Arm brechen, weil er einer jungen Frau helfen will, auf die sie in einem Hinterhof einprügeln, wird zum Schlüsselerlebnis, das ihn mit dem zivilen Ungehorsam Thoreaus verbindet: «Ich bin einundzwanzig Jahre alt und nicht länger gewillt, die Sprache unserer Väter zu verstehen, die Sprache unserer Väter zu sprechen.» Eine Maxime von Schertenleibs Romanen lautet: «Man sollte nur Dinge tun, die Eltern nicht verstehen.»
Mit Verweis auf zahlreiche «Komplizen» – neben Thoreau, Ralph Waldo Emerson sowie Sophia und Nathaniel Hawthornes «Paradies der kleinen Dinge» führt er im Anhang u.a. von Ralf Rothmann «Milch und Kohle», dessen Epilog beschwört das «Studium der Stille«, sowie Markus Werners famosen Kontingenzroman «Festland» an, zudem viele Musikbeispiele –, zieht Schertenleib in «Palast der Stille» eine Art Zwischenbilanz über sein Leben und Schaffen. «Wer eine Geschichte erzählt, erzählt immer auch von sich», lautet sein Resümee. «Wer schreibt, muss nicht nur aus der bodenlosen Tiefe an die Oberfläche tauchen, er muss ebenso untergehen können und ertrinken, um nach langen Schrecksekunden wieder zum Leben zu erwachen und zu berichten, was er gesehen.»
- Hansjörg Schertenleib: Palast der Stille. Kampa: Zürich 2020.
- Henry David Thoreau: Walden oder Vom Leben im Wald. Manesse: München 2020.
- Heinrich Detering: Menschen im Weltgarten. Die Entdeckung der Ökologie in der Literatur von Haller bis Humboldt, Wallstein: Göttingen 2020.
- Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. Bertelsmann: München 2016.
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Christoph Gellner, Dr. theol., ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts TBI in Zürich und Experte für Literatur und Religion.
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