Mathematik: Hassfach oder große Liebe? Die Theologin und Mathematikerin Susanne Tepel sucht mithilfe formaler Logik nach der Form einer zukunftsfähigen Pastoral. Dabei dient ihr ein mathematisches Modell als Inspiration: Mathematik als kreatives Werkzeug der Theologie.
Mathematik und Pastoral — als ob Gott „berechenbar“ wäre?!
Nein, eben nicht — aber genau für Unvorhersehbares und nicht Kalkulierbares hat der Mathematiker George Spencer-Brown (1923-2016) seine Gesetze der Form[1] entwickelt.
George Spencer-Brown setzt in seiner Logik der Formen auf die Idee der Unterscheidung und die Idee der Bezeichnung. „Wenn einmal eine Unterscheidung getroffen wurde, können die Räume, Zustände oder Inhalte auf jeder Seite der Grenze, indem sie unterschieden sind, bezeichnet werden.“ Somit beginnt seine Logik mit der Aufforderung: „Triff eine Entscheidung.“ Diese Unterscheidung lässt sich an einem einfachen Beispiel zeigen: Spencer-Brown unterscheidet etwas von etwas anderem und schreibt dies so:Das liest sich: „Etwas“ unterscheidet sich von „Anderes“. Auch die Bibel beginnt mit einer Vielzahl von Unterscheidungen: „Am Anfang erschuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1):
Die nächsten Tage in der Bibel zeigen weitere Unterscheidungen: „Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht.“ (Gen 1,5)
„Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.“ (Gen 1,27)
So stellt sich auch die Entscheidung vom Baum der Erkenntnis zu essen oder nicht: „Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.“ (Gen 3,2f)
Womit — auch wenn der Mensch immer wieder versucht, Gott zu sein — die Unterscheidung bleibt:
Aber Gott und Menschen leben nicht einfach nur nebeneinander her, sondern Gott sucht immer wieder die Beziehung, Gott offenbart sich den Menschen. Nicht nur im Sinne übernatürlicher Glaubenswahrheiten, sondern Gott teilt sich selbst den Menschen mit. Es muss also irgendwie zu einer „Grenzübertretung“ zwischen Gott und Mensch kommen. Die Kommunikation des Evangeliums ist kein aus der Geschichte überliefertes „zu glaubendes Paket“ ist, sondern Beziehungsgeschehen zwischen Gott und den Menschen.
Die Unterscheidung trennt, aber verbindet zugleich. Mit Hilfe der Formenschreibweise von George Spencer-Brown lässt sich auch diese Dynamik abbilden. Dazu hilft eine weitere Form, das so genannte Re-entry:
Diese Form liest sich: „Etwas“ überschreitet die Grenze, kommt mit „Anderes“ in Berührung; „Etwas“ verändert sich, „Anderes“ verändert sich, dennoch bleiben „Etwas“ und „Anderes“ voneinander unterschieden: Spencer-Brown bezeichnet dies als Re-entry. Zu welcher Zeit, ob und wie häufig eine solche Grenzüberschreitung und ein „Wiedereintritt“, der verändert, geschieht, bleibt offen.
Somit lässt sich die Formenschreibweise auch auf die Begegnung Gott und Mensch übertragen: Mensch und Gott begegnen einander, verändern sich, bleiben aber unterschieden und getrennt. Dies ist ein ewiger Prozess mit immer wieder neuen unvorhersehbaren Ergebnissen. Einen so komplexen Sachverhalt zu beschreiben, kann Bücher füllen und bleibt doch immer noch defizitär. Mit der Schreibweise der Formen lässt sich ein solches Beziehungsgeschehen auf einfache aber geniale Weise abbilden:Diese Form liest sich dann so: Gott und Mensch begegnen sich, es kommt zu einer Grenzüberschreitung, also einer Transzendenzerfahrung, einer Gottesbegegnung, die etwas verändert. Was genau verändert wird, ob der Mensch im Kern seiner selbst getroffen wird, ist nicht vorhersehbar. Trotz der Grenzüberschreitung und der möglichen Veränderungen bleiben Mensch und Gott voneinander verschieden. Wann und wie oft diese Grenzüberschreitung geschieht, bleibt ebenfalls offen. Diese Überschreitung (Ereignis!) kann nicht geplant oder „gemacht“ werden. Sie geschieht und wird lediglich in der Reflexion wahrgenommen.
Zur Veranschaulichung der Formenschreibweise soll noch ein weiteres Beispiel dienen: Jahrhunderte lang wurde die Frage diskutiert, ob und wie Jesus Christus wahrer Mensch und wahrer Gott sein kann. Eine Vorstellung, die menschliches Denken schlichtweg übersteigt. Mit der Formenschreibweise von George Spencer-Brown könnte man das Ergebnis aus dem Konzil von Chalcedon so formulieren:
Hier wird das Ungetrennte und Unvermischte beider Naturen bezeichnet. Die Trennung bleibt und die Vereinigung erfolgt in der Person Jesus Christus. Ob die Geschichte anders verlaufen wäre, wenn zur Zeit des Konzils von Chalcedon die Formenschreibweise bereits bekannt gewesen wäre?
Mit der Formenschreibweise von George Spencer-Brown lassen sich also nicht nur mathematische Formeln darstellen, sondern auch Ereignisse und paradoxe Zusammenhänge. Auch wenn diese Formen beim ersten Lesen ungewöhnlich erscheinen, so bieten sie eine einzigartige Möglichkeit der Beschreibung ereignishafter und dynamischer Prozessentwicklungen.
Form einer Pastoral in der nächsten Gesellschaft
Wenn es stimmt, dass pastorales Handeln jenes Handeln ist, durch welches Gott und Menschen — gestützt auf Prinzipien der Lehre, das Verhältnis der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute — einander begegnen,[2] dann kann dieses Handeln auch nur im Kontext der nächsten Gesellschaft geschehen. Wenn sich diese Gesellschaft, in der wir heute leben, derart radikal verändert, ist zu fragen, ob und wie sich pastorales Handeln verändern muss. Mögliche Ziele, wie zum Beispiel die leeren Kirchenbänke wieder zu füllen, möglichst viele Ehrenamtliche zu rekrutieren und nur die Anzahl derer zu zählen, die regelmäßig in die sonntägliche Eucharistiefeier kommen, sind zu überprüfen. Die Veränderungen in der nächsten Gesellschaft sind derart radikal und komplex, dass es kein Zurück in die frühere Zeit gibt – wie also sieht eine Form einer Pastoral in der nächsten Gesellschaft aus?
Überträgt man nun die Definition von Pastoral aus der Pastoralkonstitution in die Formenschreibweise, so lässt sich das Ereignis, dass Evangelium und Mensch einander begegnen, wie folgt schreiben:
Diese Begegnung geschieht, sie ereignet sich, sie lässt sich nicht planen, nicht kontrollieren, nicht organisieren. Dieses Ereignis der Begegnung geschieht in der Welt von heute.
Gemäß der Pastoralkonstitution ergänze ich in dieser Form noch „das Verhältnis der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute“. So ergibt sich die folgende Form:
In diesem komplexen und sich dauernd verändernden Zusammenspiel geschieht Pastoral – in der Welt, in der wir leben — jetzt und heute, die gekennzeichnet ist durch Individualisierung, Selbstmanagement, Konsumorientierung, fehlender Normen und Strukturen, Agilität, Mobilität, Kurzfristigkeit, Unverbindlichkeit und postulierten Gemeinschaften, geprägt von Ereignishaftigkeit und Netzwerkorganisation.
In meinen Forschungsarbeiten bringe ich die unterschiedlichen Bereiche „in Form“ und untersuche insbesondere die Grenzüberschreitungen.
Die bisher wesentlichen Erkenntnisse zeigen, dass eine Pastoral in der nächsten Gesellschaft in einer Haltung der Bereitschaft, sich selbst verändern zu lassen, geschehen kann. Dabei geht es nicht darum, „Gott oder den Glauben irgendwo hin zu bringen“, auch nicht um eine passende Übersetzung in die sich verändernde Welt zu generieren (Kontextualisierung), sondern vielmehr darum, das Evangelium und den eigenen Auftrag immer wieder neu – vor allem im Fremden und Unbekannten zu entdecken. Ein Leben in der Spannung von „Gott ist nicht da“ (Leere) und „Gott ist da“ (Begegnung mit dem Fremden und Unbekannten).
Und so „ist die Mathematik ein Weg, immer weniger über immer mehr zu sagen. Ein mathematischer Text ist somit nicht Selbstzweck, sondern ein Schlüssel zu einer Welt jenseits des Umfangs gewöhnlicher Beschreibung.“ [3]
Susanne Tepel ist Theologin und Mathematikerin. Sie arbeitet an einer praktisch-theologischen Dissertation über George Spencer-Brown in Tübingen.
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[1] Spencer-Brown, George: Laws of Form — Gesetze der Form. Übersetzung Thomas Wolf. Leipzig 1997.
[2] Vgl. Die einleitenden Fußnote zu Beginn der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes gibt eine Definition dessen, was das Konzil unter Pastoral versteht: Die Konstitution „wird ‚pastoral’ genannt, weil sie, gestützt auf Prinzipien der Lehre, das Verhältnis der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute darzustellen beabsichtigt. (…) Im ersten Teil entwickelt die Kirche ihre Lehre vom Menschen, von der Welt, in die der Mensch eingefügt ist, und von ihrem Verhältnis zu beiden. Im zweiten Teil betrachtet sie näher die verschiedenen Aspekte des heutigen Lebens und der menschlichen Gesellschaft, vor allem Fragen und Probleme, die dabei für unsere Gegenwart besonders dringlich erscheinen.“
[3] Spencer-Brown, Laws of Form, xxxv.