„Lass uns das Kreuz doch mal ein bisschen entstauben“, sagt der Installations- und Performancekünstler Tizian Baldinger. Im Zusammenspiel mit Thomas Erne gestaltet er im April einen Liturgy Specific Art Gottesdienst in Marburg. Christina Bickel hat sie vorab interviewt.
Christina Bickel: Wie bist Du, Tizian, auf den Slogan „Love Me“ für den Liturgy-Specific-Art-Gottesdienst und die Onlineausstellung gekommen? Was bedeutet der Slogan als Installation auf dem riesigen Kreuz hinter dem Altar der Marburger Universitätskirche?
Tizian Baldinger: Ich arbeite sehr oft mit Text und als mir in der Phase der Entwicklung die Idee für die Kirche klar wurde und ich das Kreuz in der Kirche inszenieren wollte, wollte ich auch Jesus oder Gott sprechen lassen. „Love Me“ fand ich sehr treffend. Ja, „Love Me“ – ich glaube, das macht irgendwie Sinn. Die Religion basiert für mich auf Nächstenliebe, weshalb ich dieses „Love Me“ sehr treffend fand.
Christina Bickel: Und was bringst Du, Thomas, mit dem „Love Me“ von Tizian Baldinger in Verbindung? Ist es auch die Nächstenliebe oder etwas anderes darüber hinaus?
Thomas Erne: Wir waren beim Reformationsjubiläum 2017 auf der Suche nach einem griffigen Titel und es waren viele kluge Leute, mitunter auch aus der Werbebranche, dabei. Es gab viele gute Antworten, aber keine überzeugte uns. Da hat jemand den Vorschlag gemacht, den Küster der Wittenberger Schloßkirche zu fragen. Ein bisschen ist dies hier genauso für mich. Manchmal kommt man, weil man so viel über die Dinge nachdenkt, nicht mehr auf das Naheliegende und man muss andere Leute fragen, die den Blick von außen haben. Ich glaube Tizian ist so jemand.
den Küster der Wittenberger Schloßkirche fragen
Um was geht es da am Kreuz? Der Slogan „Liebe mich“, den Tizian entwickelt hat, ist eigentlich für eine:n Theologe:in etwas hoch Ambivalentes. Wer liebt da eigentlich wen? Soll ich jetzt das Kreuz lieben? Ist der, der da am Kreuz hängt, so verzweifelt, dass er sagt, jetzt liebt mich doch wenigstens, ich mach doch alles für euch und liebe euch alle.
Ich als Theologe mache die Sachverhalte sehr kompliziert, sehr ambivalent. Und dann kommt hinzu: Tizian verpackt diesen Satz in eine völlig andere Ästhetik als in der Kirche üblich. Es ist ja nicht nur der Satz, sondern die Art und Weise, wie der Satz dort inszeniert wird. Mich erinnert dies an Las Vegas, an Trash, an Werbung – also eine schräge Ästhetik, die sonst in der Kirche selten vorkommt. Ein bisschen Elvis Presley und Hollywood. Das macht das Thema Liebe in der Kirche wieder interessant.
Ich als Theologe mache die Sachverhalte sehr kompliziert, sehr ambivalent.
Christina Bickel: Du bist jetzt schon ein bisschen weiter über die Fragestellung in den Bereich der Ästhetik hinausgegangen. Meine Frage ist, ob die Kunst von Tizian für Dich auch einen religiösen Charme besitzt?
Thomas Erne: Also zunächst einmal glaube ich, dass die Kirche nicht weiterkommt, wenn sie bei sich selbst bleibt. Sie muss die Zivilgesellschaft fragen. Sie muss auf den Marktplatz gehen und fragen, was seht ihr eigentlich bei uns, was erwartet ihr von uns. Tizian Baldinger ist gewissermaßen ein Vertreter der Zivilgesellschaft und ihrer Ästhetik, jedenfalls ihrer Avantgarde-Ästhetik. Diesen Blick kann ich nicht auf die Sache der Kirche werfen. Dazu bin ich zu sehr Insider.
Ob die Kunst deshalb selber schon religiös ist? Ich glaube, manchmal hat sie über die Intuition einer Transzendenz in allen Dingen eine große Nähe zu Religion. Manchmal ist es auch mehr als eine Nähe. Manchmal überholt die Kunst die Religion, aber manchmal ist sie es auch einfach Kunst, bleibt ganz bei sich und hat mit Religion gar nichts zu tun. Es ist eine große Spannbreite und das macht den Reiz der Zusammenarbeit aus. Wenn die Kunst wie die Religion wäre, würde ich sie nicht fragen. Man kann das Eigene nur durch das Andere erkennen und ich brauche auch die Kunst als Partnerin, die etwas ganz eigenes, etwas anderes ist und an der sich für mich die religiöse Aufgabe neu entwickelt.
ein schönes Erlebnis, einen Glücksmoment – oder neue Gedanken
Christina Bickel: Tizian, was prägt Deine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Christentum? Willst Du etwas Bestimmtes mit Deiner Kunst bewirken?
Tizian Baldinger: Der:die Künstler:in macht ja Kunst, weil sie:er das muss und agiert dann trotzdem irgendwie mit der Außenwelt, aber ich glaube, im Vordergrund steht sein:ihr persönliches Bedürfnis, sich mit Dingen zu beschäftigen. Als ich diese Aufgabe hatte, diese Kirche zu bespielen, bestand für mich die Frage darin, was möchte ich da zurücklassen und wie in irgendeiner Form einen Mehrwert schaffen. Ich möchte den Leuten entweder ein schönes Erlebnis, einen Glücksmoment geben, dass sie einfach sehen – ah cool – und dann sind sie für zwei Sekunden glücklich oder ich möchte sie auf neue Gedanken bringen. Ich hatte einfach das Ziel, etwas zu gestalten, was Sinn ergibt.
Ich war so fixiert auf das Kreuz, weil es so zentral ist in der Kirche und für die Religion. Ich habe gedacht: Lass uns das doch mal ein bisschen entstauben. Das hängt mit meiner Grundhaltung zusammen. Ich glaube, dass die ursprüngliche Idee des Christentums richtig gut war. Sie wurde einfach zweckentfremdet. Und ich dachte, lass uns doch etwas in der Kirche reinmachen, zu dem jede:r einen Zugang hat. Es ist doch egal, ob es ein:e Schwarze:r, ein:e Weiße:r, ein Muslim:a oder ein:e Hindu ist. Ein leuchtendes Kreuz mit „Love Me“ finden alle geil.
Christina Bickel: „Liturgy-Specific-Art“ ist ein Gottesdienstkonzept, in dem die:der Performancekünstler:in mit einer:einem Liturg:in interagiert. Was bedeutet das für Euch beide?
Tizian Baldinger: Ich behaupte, Künstler:innen sind ausgesprochene Egoman:innen. Sie interessieren sich hauptsächlich nur für sich selbst. Und so tue ich das hier auch. Thomas Erne zieht seine Show durch und ich meine. Am Ende klatschen die Leute für uns beide und so verbindet sich das Ganze zu einem. Aber klar, die richtig spannenden Teile sind die Vorbereitungsphase und nach dem eigentlichen Event die Gespräche miteinander und der Gedankenaustausch. Hier habe ich mit Thomas Erne vermutlich den Jackpot gewonnen. Das wird bestimmt interessant.
der Künstler als liturgischer Helfer
Thomas Erne: Wir haben mal ein Gespräch in der Kirchenbank gehabt und da war Tizian beinahe wie ein liturgischer Helfer. Er war ein dienstbarer Geist, vielleicht so ein bisschen wie ein Bote, ein Faun oder Engel, der sagt: Ich komme da mit einem Zauberstab, spiele und zaubere ein bisschen, während Du diesen Gottesdienst machst. Wir müssen noch darüber reden, wie das nachher genau wird.
Das mit dem:der Egoman:in ist eine spannende Sache, weil der egomane Künstler Tizian Baldinger den Slogan „Liebe mich“ mitbringt und die Kirche entstaubt. Das ist ja etwas Selbstloses. Du öffnest für jedermann das Thema. Darin ist sicherlich auch etwas vom Künstler selber zu sehen und aber das weist ja auch über Dich hinaus. Wenn die Installation gelingt, werden viele Menschen fragen, wer war das, aber das Entscheidende ist zunächst, dass sie für sich an dem Thema etwas entdecken, was sie zuvor nicht entdeckt haben und das ist die eigentliche Leistung des Künstlers, die weit über sein eigenes Ego hinausgeht. Von daher glaube ich, gute Künstler sind auch außerordentlich selbstlos, sonst sind sie keine guten. Das ist ein spannendes Thema: Wie egoistisch müssen wir sein, dass wir nicht nur egoistisch sind.
gute Künstler sind auch außerordentlich selbstlos, sonst sind sie keine guten
Tizian Baldinger: Das finde ich spannend. Ich habe die Frage auf den performativen Charakter bezogen. Nachher, wenn es um das ganze Projekt geht, versuche ich natürlich ganz klar diesen Mehrwert zu schaffen und mich zurückzunehmen. Ich bin grundsätzlich schon jemand, der die Absicht hat, nicht einfach seine Egoschiene durchzuziehen, sondern wirklich etwas zu schaffen, womit die Leute auch etwas machen können.
Christina Bickel: Abschließend möchte ich den Bogen noch einmal zum Ausgangspunkt unseres Gespräches, zum Kreuz und der damit verbundenen Christusfigur schlagen und Thomas bitten seine Beobachtungen zu Christusdarstellungen in der Gegenwartskunst zu schildern.
Thomas Erne: Wir haben die Kunstbeauftragten nach Christusdarstellungen der letzten 20 Jahre gefragt, von denen sie sagen, sie seien bemerkenswert und geben dem Ausdruck, was unserem heutigen modernen Lebensgefühl entspricht. Sie haben uns nichts geliefert. Es gibt also unter den modernen Künstler:innen – das wäre die Konsequenz – niemanden, der in der Lage oder willens ist, sich mit diesem großen Thema auseinanderzusetzen und ihm etwas abzugewinnen, wo die Menschen nachher sagen, da habe ich etwas davon, damit kann ich etwas damit anfangen. Das Kreuz steht nicht nur museal in der Gegend da, sondern es ist etwas, das mir etwas gibt. Tizian wäre so ein Beispiel. Also wir sind schon auf der einigermaßen verzweifelten Suche danach diese Leerstelle des Christusbildes mit guten aktuellen Beispielen zu füllen.
Das Kreuz steht nicht nur museal in der Gegend da, sondern es ist etwas, das mir etwas gibt.
Tizian Baldinger: Ich glaube, was vermutlich das Spannende sein wird, wenn ich auch nicht weiß, wie Du darauf reagierst, ist Folgendes: Ich glaube, dass sich die Kirche abschaffen müsste, um weiter zu bestehen. Ich würde die Kirche wirklich komplett einfach abschalten. Oder zumindest zu 90 Prozent für die Leute, die einfach nicht ohne können. Für sie müsste man die herkömmliche Kirche als Beatmungsgerät noch am Leben lassen. Den Rest abschalten und neustarten. Ich glaube ein Neustart würde der Kirche sehr guttun und das wäre überhaupt kein Problem.
Die Kirche müsste sich abschaffen, um weiter zu bestehen.
Thomas Erne: Tizian, wir werden am 25. April Kirche sein, Du und ich. Kirche besteht immer aus Neustart, wenn sie gut ist. Kirche ist nichts anderes als ein permanenter Neustart. Der Teil, der behauptet, man könne Kirche sein, ohne permanent immer wieder neu anzufangen, der schaltet sich jetzt schon ab.
Die Tradition ist eine Last. Aber Tradition ist auch ein ungeheurer Reichtum. Stell Dir mal vor, wenn dies alles weg wäre und sich niemand bemühen würde, dies immer wieder zu verflüssigen, was wir ja gerade machen? Das Symbol Christus, um das wir ringen ist uralt, aber es ist noch nicht ausgeschöpft. Davon bin ich fest überzeugt. Man kann nur bewahren, wenn man sich permanent, radikal infrage stellt. Das wäre die Alternative, auf die ich setze und das machen wir im April.
Tizian Baldinger: Ja, definitiv.
Christina Bickel: Das ist doch ein schönes Schlusswort! Vielen Dank für das anregende Gespräch.
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Prof. Dr. Thomas Erne ist Leiter des EKD-Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg und Universitätsprediger. Er hat 2010 die Tradition der Liturgy Specific Art Gottesdienste begründet.
Tizian Baldinger, *1982, in der Schweiz aufgewachsen. Baldinger ist für seine knallig leuchtenden Objekte aus LED-Leuchtstoffröhren, die die Popkultur zitieren und mit prägnanten Botschaften spielen, bekannt. Der gebürtige Schweizer und Absolvent der Hochschule für bildende Künste Hamburg lebt und arbeitet aktuell in Berlin.
Pfrin. Christina Bickel ist Theologin und Literaturwissenschaftlerin und arbeitet aktuell am EKD-Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart.
Der Liturgy Specific Art Gottesdienst mit Baldinger und Erne findet am 25.4. um 11 Uhr in der Marburger Universitätskirche statt. Der Künstler wird nicht nur mit einer großformatigen Installation in den Kirchraum intervenieren, sondern auch mit der Liturgie interagieren und die Predigt von Prof. Dr. Thomas Erne so in einem Spiel von Farbe, Licht, Symbolik und Aussage bereichern. Begleitend zur Installation vor Ort entsteht die Online-Ausstellung LOVE ME, die ebenfalls am 25.4.2021 virtuell eröffnet wird und bis 27.6.2021 läuft.
www.liturgyspecific.art, Instagram: @liturgyspecific.art