Es ist eine morbide Ästhetik, die Katrin Linkersdorff mit den Bildern von zerfallenden Pflanzen abbildet. Sie werden von Felix Evers im Rahmen der Hamburger Kunstausstellung als treffende Zumutung für Menschen des 21. Jahrhunderts entdeckt. Eine Anfrage an die spätmoderne Neigung zu perfekter Selbstinszenierung.
Ernst Barlach wurde Weihnachten 1925 von Herbert Jhering gefragt, was denn die Menschen von seiner Kunst erwarteten. Seine Antwort: „Ist es so etwas wie ein Luftwechsel der Empfänglichkeit? Ein wenig Sorge vielleicht, darum, dass das weithin gern Verschwiegene nicht vergessen werde; dass ich mich mit dem Bewahren solcher speziellen Dinge befasse, die da um die Wette verkommen, deren Elend niemands Kummer ist.“
Kathrin Linkersdorffs im temporären „Phoxxi – Haus der Photographie“ nahe den Hamburger Deichtorhallen zu bewundernden Kunstwerke, ihre Darbietung von Pflanzen im Zerfallsprozess sind eine willkommene Einladung zu Exerzitien in einer Ars-moriendi-Karfreitagsatmosphäre, sind ein Luftwechsel der Empfänglichkeit in Zeiten belastendster zeitgleicher Krisen. Die Menschen, die sich aus dem alltäglichen Wahnsinn von noch längst nicht verdauter Pandemie, von täglichen Kriegsnachrichten – nun sogar wieder im Heiligen Land –, von persönlichen Widerfahrnissen aufgrund von Inflation und Zukunftsängsten hineinwagen in die Ausstellung „Works“ vom 27. Oktober bis zum 21. Januar, lassen sich in dieser Kathedrale der Epiphanie bezaubern von einer botanischen Ästhetik jenseits des oberflächlichen Blicks. Luftwechsel der Empfänglichkeit: Schön ist, was vergänglich ist.
Eine Ausstellung als Zumutung und Störung
„Hauptsache schön und gesund!“ Das erscheint in leistungsorientierten Gesellschaftskonzepten die neoliberal formatierte Maxime. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt dies als Kuratieren der eigenen Identitätskonstruktion. Alles soll schön aussehen; makellos. „Gärten des Grauens“ mit Steinen und Rollrasen spiegeln diese vordergründige Ästhetik wider.
Der November, in den hinein diese Ausstellung auf vortreffliche Weise fällt, ist in diesem Kontext eine einzige Zumutung und Störung. Der Anspruch eines schönen, gesunden Lebens trifft auf die bittere Realität, die sich nicht verdrängen lässt und wie Linkersdorffs Pflanzen heraussprießt aus allen Rissen in von uns zubetonierten Gute-Laune-Straßen. November: Ein trister Monat. Sterben und Tod, Allerseelenandachten und Friedhofssegnungen, Volkstrauertag und Totensonntag – jedes Jahr von neuem stellen sich die Menschen den Dunkelheiten ihres Lebens. Seit der Pandemie, auf deren Schrecken unmittelbar der Ukrainekrieg samt Inflation folgte, leben manche Zeitgenossen in meinem Pfarrgebiet im Hamburger Osten in einem immerwährenden Novemberzustand. Günter Grass schrieb eine Novelle im Angesicht der rassistischen Morde von Mölln Ende November 1992 und nannte diese „Novemberland“; wir leben seit Jahren in einem trüben und grauen Novemberland, und uns peitscht der Novemberwind kalten Regen in die angstverzerrten Gesichter.
„Luftwechsel der Empfänglichkeit“: Steckt nicht gerade in solch einer Tristesse die wahre, weil wundgeliebte Schönheit?
An einem Sonntagnachmittag stehe ich vor dem Haus der Photographie, das der Umbauten wegen temporär seinen Platz direkt an den Hamburger Deichtorhallen gefunden hat. Rechts neben dem Eingang spielen zwei Kinder unter einem Kastanienbaum und werfen sich Kastanien zu; gegenüber fahren Züge in den Bahnhof ein und werden wegen der Bauarbeiten regelmäßig mit zweifachem Sirenengeheul von Bauarbeitern begrüßt; das Herbstwetter ist typisch hamburgisch: Eben noch Sonnenschein, dann sofort wieder ein Regenschauer. Hineingetreten in die Ausstellung, fällt mein Blick auf das zuerst präsentierte Werk aus der Serie „Fairies“. Die Künstlerin Kathrin Linkersdorff lässt sich von der japanischen Wabi-Sabi-Philosophie beeinflussen, die exakt diese novembergleiche Schönheit der Verletzlichkeit, des Unvollkommenen und des Vergänglichen zelebriert. Ursprünglich bedeutet „Wabi“ das Gefühl, im kalten Novemberregen sein Dasein zu fristen – also sich, wie es ein Weihnachtslied so treffend ausdrückt, „elend, nackt und bloß“ zu fühlen. Ein „heiliger Tausch“ vollzieht sich in der heilsamen Kombination mit „Sabi“, nämlich dem Gefühl, alt sein, Patina zeigen zu dürfen, über Reife und Weisheit zu verfügen. Symbole dieses wie im Weinfass geduldig gereiften Schönheitsideals sind die fotografisch kunstvoll dargebotenen Blicke Linkersdorffs auf unsere Pflanzenwelt.
Eine Art „heiliger Tausch“
Wer die Ausstellung wie einen spirituellen Exerzitienweg im Haus der Photographie innerlich mitgeht, bekommt einen gewandelten Blick auf das Schöne, Gute und Wahre. Im Betrachten erfahren Menschen einen Luftwechsel der Empfänglichkeit im Sinne des sogenannten heiligen Tauschs, den Kathrin Linkersdorff mit jeder ihrer Pflanzenkreationen nachvollzieht: Gott, der Schöpfer aller Ding, entäußert sich all seiner (Königs-) Gewalt, wird niedrig und gering (wie es im Kirchenlied „Lobt Gott, ihr Christen“ so treffend heißt) und nimmt an eines Knechts Gestalt; in der Krippe und am Kreuz übergibt er „elend, nackt und bloß“ und nur noch mit Windeln bzw. einem Leinentuch bekleidet seine Königsgewänder jedem neugeborenen Kind: Der bettelarme Mensch wird zum himmelreich geliebten Königskind, jeder Kinderwagen zu einer Königskutsche.
Die großartige Ausstellung in Hamburg ist in vier Unterbereiche aufgeteilt: Im Eingangsbereich finden sich Linkersdorffs Werke aus der Serie „Fairies“, in der die Künstlerin mit Tulpen arbeitet, die getrocknet und entfärbt werden, um anschließend – in Flüssigkeit getaucht – zu neuem Leben zu erwachen; weiter hinten, getrennt durch eine Wand voller getrockneter Lotosblüten, wird erstmals die Serie „Microverse“ dargeboten, in der natürliche Stoffkreislaufprozesse visualisiert werden – entfärbte Pflanzen und Früchte dienen als Wachstumssubstrat für Bakterien, die mittels der Entwicklung farbiger Antibiotika bunte Kolonien ausbilden; auf einer Empore können Werke aus der Serie „FLORISZENZEN“ aus der „RE-NAISSANCE- Reihe“ bestaunt werden, die ihrem Anspruch nach die Zeit anhalten – hier werden getrocknete Kapseln und Fruchtstände in Wasser eingetaucht und samt der sich bildenden Wasserbläschen vor hellem Hintergrund aufgenommen; auf der Empore links, zu betreten durch einen dunklen Stoffvorhang, schließlich die „WABI SABI-Reihe“, die den Blumen eine Lebendigkeit verleiht, die der staunende Betrachter selbst in einer natürlichen Umgebung kaum wahrnehmen würde.
Schönheit des Vergänglichen, des Schmerzes
Und die Sinne spielen Streiche: Bisweilen meine ich, eine Tarantel zu erblicken, wieder ein anderes Mal eine Feuerqualle mit ihren Nesselfäden, schließlich eine Stabheuschrecke mit ihren stelzigen Beinen – ein Feuerwerk der farblichen und filigran konzipierten botanisch-photographischen Ästhetik.
Kathrin Linkersdorff inspiriert zu einer persönlichen „Wabi-Sabi-Ausstellung“, zu einem Fotoalbum der schmerzensreichen, der ohnmächtigen, der eine eigene Fragilität offenbarenden biographischen Episoden; den vergänglichen, aber exakt in diesem Prozess so wunderschönen Pflanzen gleich, prägt, wandelt und demaskiert mich und uns alle die Ohnmacht, das Leid, der Schmerz. Der Schmerzensschrei schlechthin ist Donald Sutherlands Klageruf im Film „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, als er seine ertrunkene Tochter aus dem Gartenteich heben muss. In „Gleißendes Glück“ verkörpert Martina Gedeck eine Schmerzensfrau, die innerhalb einer individuellen Karwoche – Gewalt in der Ehe inklusive – schlussendlich eine österliche Erlösung feiern darf. Der Tatort „Im Schmerz geboren“ thematisiert eindrucksvoll, wie erlittener Schmerz ein gesamtes Leben prägen und zur blutigen Rache führen kann.
Wann durchbohrte mein Herz zum letzten Mal ein Schwert? Vor wem habe ich mich so sehr gefürchtet, dass es mir Schmerzen verursachte? Wen vermisse ich schmerzlichst? Mit welchem Menschen verbindet mich eine „Schmerzensseelenverwandtschaft“? An welchem Grab zerreißt es mein Herz? Es lohnt sich, diesen existenziellen Fragen in Ruhe nachzugehen und sie nicht zu verdrängen. Ein Sakrament für den erfahrbaren Luftwechsel der Empfänglichkeit ist die brennende Kerze im kalten Novemberregen: „It is hard to hold the candle in the cold November rain („November rain“, Guns N´ Roses).“
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Felix Evers, geb. am 11.1.1971 in Kiel, Pfarrer in Hamburg-Billstedt seit 2019.
Poträtfoto: Marc von Kopylow