Seit der Adventszeit hören wir in der Liturgie des aktuellen kirchlichen Lesejahrs Texte aus dem Lukasevangelium (LkEv). Volker Niggemeier ruft im Sinne eines exegetischen reloads Aspekte aus der Lukasforschung (neu) auf.
„Lukas“ – vielseitig und facettenreich
Kein anderer Verfasser der neutestamentlichen Schriften lässt sich auf so vielseitige und gleichzeitig unterschiedliche Art treffend kennzeichnen wie der Verfasser des dritten Evangeliums. Mit der Tradition nennen wir den Verfasser „Lukas“. Er ist Charakterzeichner, Geschichtsschreiber, hellenistisch gebildeter Schriftsteller mit gleichzeitiger Verwurzelung in jüdischen Traditionen, versierter Stilist, begnadeter Erzähler und als solcher – last, but not least – Theologe.
Theologe der Heilsgeschichte, des Geistes, des Gebets, des sozialen Ausgleichs und Evangelist der Liturgie.
Auch hinsichtlich seiner theologischen Leitlinien lässt „Lukas“ sich differenziert charakterisieren: Er ist Theologe der Heilsgeschichte, des Geistes, des Gebets, des sozialen Ausgleichs und gilt als Evangelist der Liturgie. Wie kein zweiter Verfasser einer ntl. Schrift hat er die Entwicklung des Kirchenjahres maßgeblich beeinflusst.
„Lukas“ gilt als Judenchrist in der dritten nachchristlichen Generation. Er ist in den Schriften verwurzelt, weitet mit seinem Evangelium gleichzeitig aber die Perspektive auf die Völker und Gemeinden des Römischen Reiches im östlichen Mittelmeerraum.
Lukanische Theologie nur im Doppelpack!
Das LkEv stellt eine Ausnahme innerhalb der Evangelien dar, insofern es auf Weiterschreibung angelegt ist. Dieses Vorgehen ist im NT einzigartig. „Lukas“ hat erkannt, dass die Parusie des Herrn auf sich warten lassen wird. Entsprechend hat er eine unbestimmte längere Periode der Geschichte des frühen Christentums vor Augen.
auctor ad Theophilum
Im letzten Viertel des 1. Jh. verfasst „Lukas“ „eine ganz bestimmte Basisgeschichte“1 für die christlichen Gemeinden im gesamten Imperium Romanum. Dass LkEv und Apg aus einer Hand stammen, ist keine neue Erkenntnis. Man spricht in der Konsequenz vom lk Doppelwerk / Luke-Acts. Beide Bücher sind einem gewissen „Theophilus“ (Lk 1,3; Apg 1,1) gewidmet, weshalb die Exegese richtigerweise auch nicht von „Lukas“ sondern vom auctor ad Theophilum spricht.
„Lukas“ reloaded
Es soll hier nicht darum gehen, summarisch den aktuellen Forschungsstand zu „Lukas“ aufzuzeigen. Es wird auch nicht an allen Stellen dezidierte Hinweise auf die weiterführende Literatur geben.2 Vielmehr sollen im Sinne eines reloads Aspekte zu „Lukas“ neu aufgerufen und vergegenwärtigt werden, die in der jüngsten Lukasforschung untersucht werden.
Wer einen tieferen Einblick gewinnen möchte, dem sei nachdrücklich der Band zum LkEv aus der Reihe „Handbuch zum Neuen Testament“ empfohlen.3 Hier finden sich in umfangreicher Anlage fundierte und gut lesbare Ausführungen zu Auslegungen von Textabschnitten, aber auch eine 33 Seiten starke Einleitung, in der forschungsgeschichtliche Entwicklungen ebenso profund wie konzentriert nachgezeichnet werden wie sich umfassende Informationen zu allen zentralen Bereichen um „Lukas“ finden lassen.
„Lukas“ lässt uns über die Schulter blicken
Über den Verfasser erfahren wir am Anfang des LkEv etwas, wenn er sich zwar nicht mit Namen, aber mit seinem schriftstellerischen „Ich“ zu erkennen gibt und gleichzeitig – ganz in historiographischer Manier – einen Einblick in seine Arbeitsweise zulässt. Im Prolog hält „Lukas“ in einem einzigen kunstvoll gestalteten Satz fest:
Da es nun viele unternommen haben, eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns erfüllt haben, wie uns diejenigen überliefert haben, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren, beschloss auch ich, der ich von Beginn an allem sorgfältig nachgegangen bin, es der Reihe nach für dich aufzuschreiben, hochverehrter Theophilus, damit du die Zuverlässigkeit der Worte erkennst, in denen du unterrichtet wurdest. (Lk 1,1–4, eigene Übersetzung)
„Lukas“ versteht sich als Historiker.
„Lukas“ versteht sich als Historiker. Was das aus damaliger Sicht für die Art der Darstellung zur Folge hat, fassen die ersten vier Verse des LkEv mustergültig zusammen. „Lukas“ strebt eine zusammenhängende Erzählung (diēgesis) der Ereignisse an, die sich bereits erfüllt haben. Er stelle Tatsachen (pragmata) dar, nicht etwa fiktive Begebenheiten. Um historische Glaubwürdigkeit zu erlangen unterstreicht er, dass er sich auf Augenzeugen (autoptai) stützen kann. Letztlich hat er das Material in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen und es der Reihe nach (kathexēs) zu erzählen, damit sein sorgfältiges (akribōs) Arbeiten zu Tage tritt. Ziel ist es, den Lesern größtmögliche Zuverlässigkeit (asphaleia) über das Geschriebene zu bieten.
Vom „Hau den Lukas“ zur Würdigung des „Lukas“ als theologischer Erzähler
Der auctor ad Theophilum stand vor knapp 50 Jahren unter „Anklage der [damaligen] Theologie“ (W. G. Kümmel)4. Hintergrund waren breit angelegte redaktionskritische Arbeiten, in welchen die Theologie des „Lukas“ besonders an der des Paulus gemessen wurde. Heute dagegen ist es Konsens, dass der Verfasser von Lk-Apg ein facettenreicher, ja gewiefter Erzähler und als solcher Theologe ist.
„Lukas“ ist ein facettenreicher, ja gewiefter Erzähler und Theologe.
„Lukas“ bekennt sich selbst dazu, seine Jesusgeschichte auf der Grundlage ihm vorliegender älterer Darstellungen abgefasst zu haben (Lk 1,1–4.). Hinzukommen, wie man annehmen muss, mündliche Überlieferungen über Leben und Wirken Jesu. „Lukas“ bietet mit seiner Erzählung in literaturgeschichtlicher Perspektive somit eine Art Momentaufnahme, die einerseits Vorlage für weitere Fortschreibungen ist, andererseits gleichzeitig von „Lukas“ selbst fortgeschrieben wurde.
Eine Erkenntnis der gegenwärtigen exegetischen Forschung ist es, dass die Narrative im Kontext ihrer mündlichen wie schriftlichen Vor- und Nachgeschichte komplexe und „überaus kontext- und kommunikationssensible Sprachzeugnisse darstellen.“5 Als strategischer Erzähler bettet „Lukas“ die Ereignisse, Szenen und Episoden, von denen er berichtet, neu in sein Werk ein.
Von Langeweile in der Lukasforschung auch weiterhin keine Spur
Einleitend wurde notizenhaft angezeigt, auf welch unterschiedliche Weise „Lukas“ sich treffend kennzeichnen lässt. Allein durch die Tatsache, dass wir mit dem Doppelwerk Lk-Apg zusammengenommen mehr als ein Viertel des neutestamentlichen Textbestands vorliegen haben, lassen sich dem auctor ad Theophilum die oben angeführten Attribute zuschreiben. Neuere exegetische Arbeiten sind in vielerlei Hinsicht angelegt und finden sich nahezu auf allen Ebenen. Dies zeigen allein drei Studien aus den vergangenen drei Jahren.6
Ein Forschungsfeld, wie die Frage nach der Israeltheologie des „Lukas“, die ambivalente Züge trägt, wird die aktuelle Forschung ebenso weiter beschäftigen wie die Frage nach der Vielschichtigkeit lukanischer Christologie. Die Frage, wie „Lukas“ ein Christusbild zeichnet, das „charakteristische, unverwechselbare Pinselstriche“7 trägt, bietet nach wie vor Potential für weitere Untersuchungen. Es wird also auch zukünftig keine Langeweile in der Lukasforschung aufkommen.
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Volker Niggemeier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Exegese des Neuen Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Bild: pixabay.com
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Vom Autor bisher bei feinschwarz.net erschienen:
- Michael Wolter: Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 25. ↩
- Einen Einblick in neuere Forschungen zu „Lukas“ bietet Martin Meiser: »Langeweile« in der Lukasforschung? – Von wegen!, in: W. Kraus / M. Rösel (Hrsg.): Update-Exegese 2.1. Ergebnisse gegenwärtiger Bibelwissenschaft. Mit einem Geleitwort von H. Bedford-Strohm, Leipzig 2015, 145–153. – Neuere Forschungstendenzen werden auch in Lukas Bormann: Lukasevangelium und Apostelgeschichte, in: Ders.: Theologie des Neuen Testaments. Grundlinien und wichtigste Ergebnisse der internationalen Forschung (Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft; UTB 4838), Göttingen 2017, 293–323, abgebildet. ↩
- Wolter: Lukasevangelium, welcher neuerdings auch auf zwei Bände verteilt in der Reihe BMSEC (Waco, Texas) veröffentlicht ist |The Gospel According to Luke. Translated by Wayne Coppins and Christoph Heilig. Volume I: Luke 1–9:50 (2016); Volume II: Luke 9:51–24 (2017)|, bes. 1–33. – Einen schnelleren fundierten Einblick erhält man über Ch.Böttrich: Art. Lukasevangelium / Evangelium nach Lukas (wibilex.de). ↩
- Werner G. Kümmel: Lukas in der Anklage der heutigen Theologie, in: ZNW 63 (1972), 149–165. ↩
- Vgl. Jan Rüggemeier: Strategisches Erzählen und Strategiewechsel im Umfeld neutestamentlicher Erzähltexte. Das lukanische Gleichnis vom barmherzigen Samariter als Anschauungsbeispiel, in: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research 5.2 (2016), 63–83. ↩
- Heidrun Gunkel: Der Heilige Geist bei Lukas. Theologisches Profil, Grund und Intention der lukanischen Pneumatologie (WUNT II 389), Tübingen 2015; Christian Blumenthal: Basileia bei Lukas. Studien zur erzählerischen Entfaltung der lukanischen Basileiakonzeption (HBS 84), Freiburg i. Br. U. a. 2016; Torsten Jantsch: Jesus der Retter. Die Soteriologie des lukanischen Doppelwerks (WUNT 381), Tübingen 2017. ↩
- Josef Ernst: Lukas. Ein theologisches Portrait, Düsseldorf 21991. ↩