Die Erzdiözese Salzburg hat am Pfingstmontag 2016 einen pastoralen Zukunftsprozess gestartet. Christian Bauer skizziert zum Auftakt ein mögliches Zukunftsbild der Pastoral im deutschen Sprachraum.
Lust auf Neues? – Vermutlich werden Sie diese Frage für sich auf ganz unterschiedliche Weise beantworten. Vielleicht gehören Sie zu denen, die von kirchlichen Zukunftsprojekten, die meist viel Papier, im pastoralen Alltag aber wenig Neues produzieren, längst die Nase voll haben. Dann denken Sie jetzt vielleicht: Nicht schon wieder! Vielleicht aber gehören Sie auch zu denen, die noch mit prinzipiellen Veränderungen in unserer Kirche rechnen und denen es damit gar nicht schnell genug gehen kann. Dann denken Sie jetzt: Na klar, endlich! Oder Sie gehören vielleicht zu jener dritten Gruppe, die sich genau davor fürchtet und der die ganze Unruhe, die Papst Franziskus in die Kirche bringt, ohnehin schon zuviel ist. Dann sagen Sie jetzt möglicherweise: Bitte nicht auch noch hier bei uns!
Bei alldem bringt uns nur die alte geistliche Kunst der Unterscheidung weiter, denn es ist ja weder alles Neue gut und alles Alte schlecht noch alles Neue schlecht und alles Alte gut. Wie auch immer Ihre eigene Antwort auf die Frage nach der Lust auf Neues lautet, ob Sie eher skeptisch, vorwärtsdrängend oder ängstlich gestimmt sind – ich lade Sie im Folgenden zu einigen pastoraltheologischen Lockerungsübungen ein, die innerkirchliche Verspannungszustände entkrampfen, blockierte Energien freisetzen und Lust auf Neues machen möchten.
1. Kirchlicher Strukturwandel
Das gerade ist ja der Job von Pastoraltheologinnen und Pastoraltheologen im gegenwärtigen Strukturwandel unserer Kirche: Lust machen. Lust auf Neues in der aktiven Gestaltung des Unvermeidlichen, Lust auf Begegnungen außerhalb des Pfarrmilieus. Dahinter steckt eine praktische Erfahrung: Menschen kommen dann ins Handeln, wenn ihre Lust größer ist als ihre Angst. Und comittment – inneres Engagement – entsteht überall dort, wo echte Beteiligung möglich ist, wo man auf eine ‚fehlerfreundliche’ Freude am Experimentieren trifft und wo Entscheidungsträger mit gutem Beispiel vorangehen.
Es kann immer erst dann einen wirklich nachhaltigen Aufbruch in der Pastoral geben, wenn alle Beteiligten bereit sind, sich zu bewegen. Und je mehr Geschichten des Gelingens wir dann auch erzählen können, umso kleiner wird vielleicht die Angst in der Kirche und umso größer die kollektive Lust auf Neues. Ein großer Konzilstheologe hat es einmal so formuliert: „Wie jung eine Institution ist, lässt sich an den Risiken ablesen, die sie einzugehen bereit ist.“ (M.-D. Chenu).
Kirche des Konzils
Nachdem man in den meisten anderen deutschsprachigen Diözesen jahrelang auf die ‚Hardware’ des eigenen Kirchenumbaus konzentriert war, kann inzwischen mehr und mehr auch die inhaltliche Frage ins Zentrum rücken, wofür genau unsere größeren pastoralen Räume denn nun eigentlich da sind – ob sie nun Großpfarrei, Pfarrverbände oder Seelsorgeeinheit heißen. Damit ist dann auch die Frage nach der grundsätzlichen theologischen ‚Software’ unseres Kircheseins gestellt: Wie funktioniert eine beteiligungsstarke Pastoral im Betriebssystem „Vatikanum 2.0“ (B. Spielberg) in unseren Breiten? Durch Papst Franziskus entdecken wir ja gerade, was es wirklich heißt, eine Kirche im vollen Sinne des Konzils zu sein. Eine Kirche des Konzils muss sich vor nichts und niemandem fürchten: vor keiner gesellschaftlichen Herausforderung, vor keinem kirchlichen Strukturwandel – und schon gar nicht vor ihren eigenen Mitgliedern.
2. Kirche größer denken
Eine entsprechend konzilsbewegte, nach innen synodal verfasste und nach außen an die Ränder gehende Kirche der Nachfolge Jesu, wie sie Papst Franziskus vorschwebt, verwirklicht in ihrem Inneren, was sie auch nach Außen vertritt. Durch sie lodern viele kleine ‚Lagerfeuer’ des Evangeliums mitten in der Welt: heiße Kerne mit offenen Rändern und Menschen, die dafür sorgen, dass das Feuer nicht ausgeht. Oder weniger metaphorisch gesprochen: Orte der Nähe in einem Raum der Weite.
Beides brauchen wir ja im gegenwärtigen Strukturwandel unserer Kirche: Pfarrgemeinden als Orte der Nähe, die Heimat bieten und keine Orte der Enge sein dürfen (Stichwort: Milieuverengung). Und zugleich auch größere pastorale Einheiten als Räume der Weite, die Neues ermöglichen und keine Räume der Ferne sein dürfen (Stichwort: Kirchenverdunstung). Die Nähe der Orte wehrt der potenziellen Ferne der Räume, und die Weite der Räume entgrenzt die potenzielle Enge der Orte. Dabei dürfen wir die Kirche nicht nur im Dorf lassen, sondern sie zugleich auch größer denken als bisher – mindestens größer als unser gewohntes Pfarrmilieu.
Eine Kirche des Konzils ist nämlich nicht nur ‚drinnen daheim’, sondern auch „draußen zuhause“ – so das entsprechende Motto eines großen deutschen Outdoor-Unternehmens und eines kleinen Vorarlberger Säkularinstituts. Denn sie ist nicht nur eine ‚introvertierte’ Komm-her-Kirche der Sammlung (nach Lumen gentium, der ersten Kirchenkonstitution des Konzils), sondern immer zugleich auch eine ‚extrovertierte’ Geh-hin-Kirche der Sendung (nach Gaudium et spes, dessen zweiter Kirchenkonstitution). Das ist gar nichts Neues, denn Kirche war von Beginn an ja immer beides zugleich: eine Kirche der umherziehenden Wanderprediger und eine Kirche der sesshaften Hausgemeinden, eine Kirche der Gründer von Gemeinden und eine Kirche der Siedler in Gemeinden.
Römische Steilvorlage
Mir scheint, dass das jesuanische Wandercharisma mit Papst Franziskus in unserer Kirche nun auch wieder verstärkt zum Zug kommt – und das sogar im Zentrum kirchlicher Sesshaftigkeit: in Rom! In einem Interview sagte er einmal im Sinne dieser dualen Gesamtekklesiologie: „Statt nur eine Kirche zu sein, die mit offenen Türen aufnimmt und empfängt [Stichwort: Komm-her-Pastoral], versuchen wir, eine Kirche zu sein, die neue Wege findet, die fähig ist, aus sich heraus und zu denen zu gehen, die nicht zu ihr kommen [Stichwort: Geh-hin-Pastoral] […]. Die Gründe, die jemanden dazu gebracht haben, von der Kirche wegzugehen […] können auch zur Rückkehr führen. Es braucht Mut und Kühnheit.“
Das ist mal ein Wort – eine perfekte römische Steilvorlage jedenfalls für die diversen Strukturprozesse in den Diözesen. Auf diese Weise kann sich auch im deutschen Sprachraum das kirchliche Lehramt allmählich in ein pastorales ‚Lernamt’ verwandeln, das dem Lockruf von Papst Franziskus folgt und mit einer überraschbaren, lernbereiten Gottesvermutung in die Welt geht. Im Außen ihrer selbst hat die Kirche dabei vieles zu entdecken. Faszinierende Menschen, spannende Geschichten, aufrichtige Hingabe und am allermeisten: ihren eigenen Gott. Dessen Gnade wirkt nämlich, so das Konzil, auch außerhalb der Kirchenmauern. Dort draußen sind ja nicht nur fragende und suchende Menschen unterwegs, sondern auch antwortende und findende – nur eben anderswo.
3. Verbündete für das Evangelium
Dort kommen dann auch in verstärktem Maße evangeliumsnahe Randsiedlerinnen und Randsiedler des Christentums in den Blick, die im Transitbereich zwischen Kirche und Welt leben: Freundinnen und Freunde des Evangeliums, potenzielle Verbündete für die Sache Jesu. Tomáš Halík nennt sie „Zachäus-Menschen“, weil sie in interessierter Halbdistanz zum Glauben leben. Im Gespräch mit ihnen kommt man Gott selbst auf die Spur – und zwar als dem verborgenen Geheimnis einer zwar weithin kirchenfernen, deswegen aber noch lange nicht gottlosen Welt.
Papst Franziskus lockt auf diese Fährte: „Wir müssen die Stadt von einer kontemplativen Sicht her, das heißt mit einem Blick des Glaubens erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt. Die Präsenz Gottes begleitet die aufrichtige Suche, die Einzelne und Gruppen vollziehen, um Halt und Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unter ihren Bürgern und fördert […] das Verlangen nach dem Guten, nach Wahrheit und Gerechtigkeit.“ (EG 71).
‚Nachgehende’ Pastoral heißt in diesem Zusammenhang nicht, den Leuten solange nachzugehen, bis sie einen Verfolgungswahn bekommen, sondern vielmehr: Wir gehen unserem Gott nach, folgen den Spuren seiner geheimnisvollen Präsenz mitten im Leben der Welt. Eine in diesem Sinn ‚nachgehende’ Kirche zieht sich, auch wenn sie kleiner wird, nicht aus der Fläche zurück. Von einer ‚flächendeckenden’ Pastoral geht sie über zu einer ‚Flächen entdeckenden’ Pastoral – zu einer Pastoral, welche die Fläche ihrer gesellschaftlichen Umwelt als einen Ort der verborgenen Präsenz Gottes im Geheimnis der Welt entdeckt.
Nehmen wir die damit verbundenen Herausforderungen doch einfach sportlich: Es gibt noch ganz andere Orte der Pastoral als unsere Pfarrgemeinden. Und es gibt vielleicht auch noch ganz andere Orte Gottes als unsere Kirche. Gesellschaftliche Orte, an denen Menschen das Glück ihres Lebens nicht nur suchen, sondern auch finden. Die meisten von ihnen, so eine neuere religionssoziologische Erkenntnis von Detlef Pollack, sind nämlich gar nicht antikirchlich oder gar glaubensfeindlich – es gibt schlicht und einfach Wichtigeres in ihrem Leben als Sonntagsmesse, Kirchenkaffee und Pfarrgemeinderat…
Barrierefreie Willkommenskultur
Wir brauchen daher einen neuen pastoralen Existenzialismus, in dem dieses ‚Wichtigere’ zur Sprache kommen und auch die säkulare Bedeutung des Evangeliums neu entdeckt werden kann. Öffnen wir uns also beherzt nach außen. Und zwar weniger, weil diese anderen Menschen uns so nötig hätten, sondern vielmehr weil wir sie brauchen: ihre anderen Erfahrungen, ihre anderen Geschichten vom Leben und damit auch ihre anderen Geschichten von Gott. Es gilt, diese anderen Menschen einzuladen, in ungezwungener „Komplizenschaft geteilter Hoffnungen“ (A. Depierre) – frei nach Bruno Kreisky – ein Stück des Weges mitzugehen. Auch sie haben nämlich das Recht auf einen barrierefreien Zugang zu Gott und auf eine entsprechende Willkommenskultur in unseren Pfarren.
4. Pastorale Gründerzeit
In den ‚christentümlichen’ Zeiten der Vergangenheit, in denen es kaum ein echtes kirchliches Außen gab, weil ohnehin alle irgendwie ‚drinnen’ waren, war das alles kein Problem. In ‚nachchristentümlichen’ Zeiten wie heute aber, in denen wir Christinnen und Christen längst eine gesellschaftliche Minderheit darstellen, lautet die pastorale Gretchenfrage: Wie hältst Du’s mit dem Außen? Ist die Außengrenze unserer Kirche für Dich eher eine Schmerzgrenze oder aber eine Reizschwelle? In jedem Fall ist unsere Sendung in die Welt nichts Zusätzliches, was nach Maßgabe des Möglichen ‚irgendwie’ auf pastoralem Restenergieniveau geschehen könnte.
Mission ist vielmehr, so das Zweite Vatikanum, das Wesen der Kirche. Sie findet sich erst dann selbst, wenn sie aus sich herausgeht (R. Bucher). Und wer weiß, vielleicht erleben wir dann ja auch – wie in anderen Krisenzeiten der Christentumsgeschichte – sogar eine neue pastorale Gründerzeit. Eine Zeit der Gründung von neuen christlichen Gemeinden im Geist der Wanderprediger, in denen im Wortsinn ‚attraktive’, also anziehende neue pastorale Orte entstehen: voll sozialer Phantasie, mit gesellschaftlicher Zugkraft und einer guten Portion kulturellem Sexappeal. Orte entkrampfter christlicher Zeitgenossenschaft. Orte sich wechselseitig intensivierender Freiheiten, an denen man gleichstufig, ergebnisoffen und handlungskreativ miteinander ins Gespräch kommt: über Gott und die Welt, über Menschen und Mächte, über das Leben und die Liebe und das kleine Glück in dieser Zeit. Orte auch, an denen man in einer zunehmend unsicheren und gefährdeten Welt gegen die Feinde unserer offenen Gesellschaft politisch Stellung bezieht: gegen religiöse Fundamentalisten vom IS und anderen Gruppen genauso wie gegen politische Extremisten von FPÖ oder AfD – um nur die beiden aktuellsten Herausforderungen zu nennen.
Nachfolge genügt
Dann werden unsere größeren pastoralen Einheiten vielleicht auch wirklich zu Räumen einer neuen pastoralen Weite, in denen Altes in Würde sterben und Neues in Freiheit leben darf. In denen man innerkirchlich Andere in ihrer Unterschiedlichkeit anerkennt und einander nicht gleich das Katholischsein abspricht. Wo die jeweils höhere Ebene im ‚Stresstest‘ des pastoralen Alltags nur das übernimmt, was die niedrigere selbst nicht mehr schafft und wo auch nichtordinierte Amtsträgerinnen und Amtsträger lokale Gemeindeleitung innehaben.
Und dann werden vielleicht auch unsere Pfarrgemeinden zu Orten einer neuen pastoralen Nähe, deren Seelsorgeteams spirituelle Kraftzentren bilden, die andere begeistern und mitziehen. Wo die Unterscheidung von Haupt- und Ehrenamtlichen von gestern ist, weil alle sich vor allem als Jüngerinnen und Jünger Christi mit je unterschiedlichen Dienstämtern verstehen. Und dann ist vielleicht auch endlich Schluss mit dem Klerikalismus mancher Priester, Diakone und Laien im Volk Gottes! Denn in einer Kirche der gemeinsamen Jüngerschaft aller Getauften geht es zunächst einmal primär um die Nachfolge Jesu, sekundäre hierarchische Abstufungen sind im Vergleich dazu zweitrangig: „Nachfolge genügt“ so kurz und bündig hat das die Würzburger Synode bereits 1975 formuliert.
5. Kundschafter des Neuen
Oft genug bestimmen in unseren Pfarrgemeinden vor Ort, aber auch darüber hinaus die innerkirchlichen Bremser das gemeinsame Tempo. Eine Diözese jedoch, die sich im Geist von Papst Franziskus dem Aufbruch in eine evangeliumsbewegte Kirche der Jüngerschaft verschreibt – eine solche Diözese macht sich dennoch auf den Weg. Sie wartet nicht, bis sich auch noch die letzte Katholikin oder der letzte Katholik in Bewegung gesetzt haben, sondern sie schickt schon einmal kleine pastorale Suchtrupps voraus, Kundschafterinnen und Kundschafter des Neuen. Denn sie weiß, dass zwar nichts sicher ist im Land der Zukunft, vieles aber möglich – und dass letztlich in allem gilt: Auch fremder Boden trägt…
Nutzen wir also den gegenwärtigen ‚Franziskusmoment’ in unserer Kirche und machen wir uns beherzt auf den Weg – im festen Vertrauen auf Gott und seinen offenen Himmel, aufmüpfig, widerborstig und vielleicht sogar ein wenig verrückt, in jedem Fall aber ohne übertriebene Angst vor der eigenen Courage und ganz so, wie es das folgende Wort des Schweizer Dichterpfarrers Kurt Marti nahelegt: „Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wohin kämen wir denn und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir [denn nur] gingen?“ (K. Marti).
Bild: Christian Bauer