Spätestens seit dem Votum des Altenberger Ökumenischen Gesprächskreises von Pfingsten 2020 ist die Forderung wieder auf dem Tisch: Die im Januar 1521 verhängte Exkommunikation Martin Luthers sollte endlich aufgehoben werden. Historische Hintergründe von Bernward Schmidt.
Die Tübinger Dogmatikerin Johanna Rahner sieht in der Aufhebung der Exkommunikation Luthers ein wichtiges ökumenisches Zeichen und argumentiert damit, dass Ökumene nicht zuletzt von Symbolen lebe. Dieser Auffassung widersprach jüngst Bertram Meier, Bischof von Augsburg und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Bayern, der sich gegen solcherart Symbolpolitik wehrte: Mit dem Tod Luthers sei die Exkommunikation erloschen und ohnehin gebe es in der Ökumene Wichtigeres zu tun. Denn bei aller Dankbarkeit für die erreichten Gemeinsamkeiten sei es geboten, sich mit den noch bestehenden Differenzen zu beschäftigen.
Nun wäre es verfehlt, dem Augsburger Bischof eine anti-ökumenische Gesinnung vorzuhalten. Doch lässt sich fragen, ob denn ein Symbol der römisch-katholischen Wertschätzung für Martin Luther mit einer weiteren und intensiveren Arbeit an den bestehenden Differenzen konkurrieren müsste oder ob es nicht vielmehr den ökumenischen Bemühungen einen Schub verleihen würde. Dies könnte umso mehr gelten, als der Altenberger Gesprächskreis ebenfalls einfordert, die Verwerfung der Päpste als „Antichrist“ durch Luther in ähnlicher Weise zurücknehmen. Doch ungeachtet solcher „kirchenpsychologischer“ Fragen scheint zunächst ein genauerer Blick angebracht, worauf die Exkommunikation Luthers eigentlich basiert. Damit also ad fontes.
Ad fontes
Die Exkommunikation Martin Luthers wurde bekanntlich mit der Bulle Decet Romanum Pontificem vom 3. Januar 1521 ausgesprochen. In einer etwas langatmigen Argumentation zu Beginn verweist dieses Dokument Papst Leos X. auf das grundsätzliche Recht der Päpste, falsche Lehre in der Kirche zu verurteilen und entsprechende Strafen zu verhängen, sowie auf die Vorgeschichte in der causa Lutheri, zu der auch die Häresien der „Griechen“ und „Böhmen“ gezählt werden (gemeint sind die byzantinischen Ostkirchen und die Hussiten). Was unter diesen Häresien genau zu verstehen ist, wird in der Bulle nicht näher erläutert.
Es ergibt sich jedoch aus dem diskursiven Kontext, insbesondere den Diskussionspunkten zwischen Martin Luther und Johannes Eck auf der Leipziger Disputation im Sommer 1519. Hier war es mit Blick auf „Griechen“ und „Böhmen“ vor allem um Fragen von Ekklesiologie und Autorität gegangen und Luther hatte nicht nur die Lehrautorität von Päpsten und Konzilien sehr grundsätzlich relativiert, sondern auch begonnen, die Nähe seiner Theologie zu derjenigen des Jan Hus zu verstehen. Vor diesem Hintergrund dürften die Ausführungen in Decet Romanum Pontificem zu verstehen sein, zumal Johannes Eck an der Bearbeitung des „Falles Luther“ in Rom gewissermaßen als Luther-Experte beteiligt war.
Die erwähnten Irrtümer, so die Bulle weiter, hätten sich auch in den Schriften Luthers gefunden; daher seien diese und alle übrigen Werke und Predigten Luthers verurteilt worden, in denen sie sich fänden, entsprechende Rechtsfolgen für alle Kleriker und Laien eingeschlossen. Insbesondere das Verbot der Lektüre von Luther-Schriften spielt dabei eine wichtige Rolle. Der Kern der Sache in Decet Romanum Pontificem aber ist ein anderer: Bereits mit der vorangehenden Bulle Exsurge Domine, mit der Luther die Exkommunikation angedroht und etliche Thesen aus seinem Werk verurteilt worden waren, hatte der Papst Luther eine Frist von 60 Tagen ab Promulgation der Bulle gesetzt, um seine Ansichten zu widerrufen.
Luther, so die Bulle, habe diese Frist verstreichen lassen und damit in Kauf genommen, dass er mitsamt seinen Anhängern zum Ketzer erklärt und exkommuniziert werden würde – anders als einige seiner Anhänger, denen der Papst Absolution gewährt habe (damit ist u.a. der Nürnberger Humanist Willibald Pirckheimer gemeint). Statt dessen habe Luther nicht nur keine Reue gezeigt, sondern weiterhin Schriften gegen den Papst und seine Lehrautorität verfasst sowie in diesem Sinne gepredigt. Daher wird Luther nun exkommuniziert. Der Kaiser sowie der gesamte Klerus in Deutschland werden aufgefordert, die Exkommunikation bekannt zu machen und gegen Luther in Wort und Tat vorzugehen. Dazu gehört auch, dass die Pfarrer die Bulle Exsurge Domine von 1520 bekannt machen, in der die dogmatische Grundlage für die Exkommunikation gelegt worden war.
Die Androhungsbulle Exsurge Domine
Anfang 1521 wurde also in ausführlicher Form lediglich die Konsequenz aus dem gezogen, was Leo X. rund ein halbes Jahr zuvor in der berühmten Bannandrohungsbulle geschrieben hatte. Diese Bulle mit dem Anfang Exsurge Domine vom 15. Juni 1520 bietet 41 Sätze aus verschiedenen Werken Luthers, die verurteilt werden. Sie lassen sich zu gewissen thematischen Einheiten gruppieren: Sünde, Buße, Beichte (1-14); Eucharistie und Laienkelch (15-16); Ablass (17-22); Exkommunikation (23-24); Autorität von Papst und Konzilien (25-30); Sünde im vermeintlich guten Werk (31-36); Purgatorium (37-40); Vorgehen gegen Bettler (41). Hier ist nicht der Ort, jeden einzelnen Satz zu diskutieren; doch schon bei oberflächlicher Betrachtung wird klar, dass die Sätze heute nicht mehr gleichermaßen scharf verurteilt werden würden – zu viel ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil im ökumenischen Dialog geschehen.
Wer in eine theologische Einzeldiskussion der in Exsurge Domine präsentierten Propositionen eintritt, wird sich freilich zweierlei vor Augen halten müssen: erstens, dass nicht alle den gleichen Charakter aufweisen, so dass sich unter dogmatische Sätze auch solche disziplinarischen Charakters mischen (z.B. Nr. 14: „Niemand ist verpflichtet, dem Priester zu antworten, er sei reuig, noch darf der Priester danach fragen.“, DH 1464). Zweitens aber die schwerwiegendere Tatsache, dass nicht jede einzelne Proposition mit einer differenzierten Qualifikation versehen wurde, sondern die entsprechenden Qualifikationen summarisch am Ende des Textes erscheinen: Die genannten Sätze werden verurteilt, und zwar „je nachdem (respective) – häretisch oder anstößig oder falsch oder fromme Ohren verletzend oder einfache Gemüter verführend und der katholischen Wahrheit widerstrebend.“ (DH 1492).
Das „respective“ hat an dieser Stelle den für die damaligen Verfasser großen Vorteil, dass sie sich nicht für jede einzelne Proposition auf eine Qualifikation festlegen mussten – zum Preis einer nicht zu unterschätzenden Unklarheit. Denn welche Sätze nun als häretisch angesehen werden sollten und damit auch die Exkommunikation rechtfertigen, welche dagegen nur als anstößig oder verführerisch für einfache Geister, bleibt offen. Formal steht Exsurge Domine ganz in der Tradition spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Lehrverurteilungen, die erwähnte Problematik eingeschlossen.
Bleibt man auf der formalen Ebene, ist es sicherlich korrekt, dass die Exkommunikation des Jahres 1521 mit Luthers Tod 1546 hinfällig geworden ist. Doch greift dies aus zwei Gründen zu kurz. Denn erstens werden neben Martin Luther auch seine Anhänger erwähnt und ebenfalls mit geistlichen Strafen bedroht, so dass sich auch heutige evangelische Christ*innen betroffen sehen können. Zweitens sagt das bloße „ob“ einer Aufhebung der Exkommunikation Luthers nichts über die zugrundeliegende Lehrverurteilung aus. Hier aber gälte es anzusetzen, schon allein wegen des inneren und äußeren Zusammenhangs beider Bullen: Es wäre zu prüfen und für die Gläubigen transparent zu machen, inwiefern und mit welchen Gründen die Urteile von 1520 aufrecht erhalten werden sollen oder aber obsolet geworden sind.
Vorbild: die Rücknahme der Exkommunikationen zwischen Rom und Byzanz
Zu Recht verweist der Altenberger Gesprächskreis auf die 1965 erfolgte „Rücknahme“ der Exkommunikationen zwischen Rom und Byzanz aus dem Jahr 1054. Auch hierbei handelte es sich um wechselseitige personenbezogene Exkommunikationen, die eine nicht näher definierte Anhängerschaft einschlossen. Und ebenso wie 1521 hätte auch 1054 noch niemand von einer Kirchenspaltung gesprochen – die Exkommunikationen wurden von den Zeitgenossen jeweils anders bewertet. In der gemeinsamen Erklärung von Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras vom 7. Dezember 1965 heißt es, man könne nicht so tun, als seien die Ereignisse der Vergangenheit nicht gewesen, was sie waren. Doch könne man sie durchaus in der Gegenwart in anderem Licht betrachten und ihre Auswirkungen begrenzen.
Dem Bedauern über die Ereignisse von 1054 und ihre Folgen fügen Papst und Patriarch die Absichtserklärung hinzu, sie aus der Mitte und dem Gedächtnis der Kirche zu tilgen. Letzteres ist zwar aus historischer Sicht ein bedenkliches Anliegen, gleichwohl haben Paul VI. und Athenagoras ein Modell erarbeitet, das heute wiederum Anwendung finden könnte. Denn weder ignoriert es bestehende Differenzen noch erklärt es sie für unbedeutend, doch es räumt Trennendes beiseite, das nur noch Ballast ohne tiefere Bedeutung ist.
Es ist wahr: Dem Anliegen der Ökumene ist mit reiner Symbolpolitik sicher kein Dienst erwiesen; es braucht eine inhaltliche Debatte, die auch außerhalb der institutionalisierten Kreise wahrnehmbar ist, damit Ökumene mehr sein kann als ein Projekt theologischer Eliten und einer ungeduldigen „Basis“. Die angestoßene Diskussion um Martin Luther wäre ein geeignetes Projekt.
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Bernward Schmidt ist Inhaber des Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Photo: Papst Leo X, Bulla Decet Romanum Pontificem vom 3.1.1521.