Unter dem Titel «Dichten gegen das Vergessen» zeichnet Denise Buser Porträts von zwölf Lyrikerinnen aus zwei Jahrtausenden. Franziska Loretan-Saladin stellt das Buch vor.
«Michele, bist du mit dem Burghotel auf Ischia zufrieden? Klappt der Internetempfang?»[1] Überrascht lese ich diese Zeilen im Buch von Denise Buser, denn das Burghotel „Castello il Monastero“ auf Ischia kenne ich aus einem Urlaub vor ein paar Jahren. Unvergesslich ist mir der Aufgang durch die dunklen Gänge im Kontrast mit dem Weitblick auf Ischia, das Meer und den Himmel, der sich auf der Terrasse ganz oben öffnet.
Vittoria Colonna
Das wusste ich nicht, dass hier vor 500 Jahren eine Dichterin gelebt hatte: Vittoria Colonna (1490/92-1547) aus dem italienischen Hochadel, Gemahlin eines spanischen Adeligen aus der Familie d’Avalos. Nach dessen Tod als Folge einer Kriegsverletzung oder Vergiftung zog sie nach Rom und war unter anderem mit dem Künstler Michelangelo befreundet. Sie soll ihn auch beraten haben bei der Gestaltung des grossen Gemäldes über das Weltgericht in der sixtinischen Kapelle. Maria, der Mutter des Weltenrichters, möge er kein demütiges Gesicht geben, keine „Puppe, die ohne zu murren akzeptiert, dass der eigene Sohn gedemütigt und umgebracht wird“, sondern das einer «Frau, die ihrem Hader Ausdruck gibt, der man anmerkt, dass sie sich fragt, ob sie nicht als blosses Werkzeug diente». (95)
mit dem Künstler Michelangelo befreundet
Für das Porträt Vittoria Colonnas gibt Denise Buser zwei Personen das Wort: Die eine ist eine fiktive Erzählerin. Sie berichtet Michele von der früheren Burgbewohnerin Vittoria Colonna. Die zweite Person ist Francesco Hollanda, der in seinem Reisebericht[2] «vier Gesprächssonntage in der Kirche San Silvestro mit Vittoria Colonna und Michelangelo Buonarroti nachzeichnet» (104).
Das Kapitel «Vittoria, Michelangelo und ich, der Protokollant von San Silvestro» über die Dichterin aus dem 16. Jahrhundert (89-106) stelle ich nicht allein wegen des persönlichen Bezuges zur Burg auf Ischia an den Anfang dieser Besprechung. Es steht zudem exemplarisch für die Detailgenauigkeit, mit der Denise Buser die mir meist unbekannten Lyrikerinnen zum Leben erweckt, sowie für die schriftstellerische Form, die die Autorin für die Porträts verwendet: Oft ist es ein Dialog zwischen Personen mit einem Bezug zur vorgestellten Dichterin. Manchmal spricht eine der Dichterinnen selbst, wie beispielsweise die Beat-Dichterin Leonore Kandel (1932-2009) oder Helene Bossert (1907-1999) aus dem Schweizer Kanton Baselland.
Detailgenauigkeit und schriftstellerische Form
Der Chronist Francesco Hollanda berichtet auch über die Beziehung zwischen Vittoria Colonna und dem Meister Michelangelo. Die beiden habe eine grosse Freundschaft verbunden, «zwischen zwei gleichgesinnten Seelen, die sich in ihrer Abgrenzung respektierten.» (91) Und manchmal wollte die Dichterin mit Hollanda spazieren gehen. Er schildert ihr Aussehen und ihre körperliche Schwäche, die ihren Geist aber nicht daran hinderte, unverändert nach Nahrung zu verlangen. (vgl. 94) Bei einem Spaziergang trägt er eine Strophe aus einem ihrer Sonette vor:
Ich wünschte, die wahre Sonne, die ich
immer anrufe, hätte eine ewige Lampe in
meinen Geist gesandt und nicht so einen
kurzen Strahl, der oft nur ein wenig und
ganz langsam ringsum kreiste, […] (94)
Indem Francesco Hollanda aus dem Sonett rezitiert oder wenn die fiktive Erzählerin in ihre Emails an Michele Gedichte Vittoria Colonnas einfügt, kann Denise Buser aus dem Werk der Dichterin zitieren und damit beide vorstellen: Die Dichterin und – an ausgewählten Beispielen – ihre Dichtung.
Dichten gegen das Vergessen
Das Kapitel über Vittoria Colonna zeigt beispielhaft etwas von der unermüdlichen Recherchearbeit, mit der die Autorin den von ihr ausgewählten Frauen so nahe wie möglich zu kommen sucht.
Im Vorwort berichtet Denise Buser davon, was sie bei ihrer Arbeit für dieses Buch besonders gefreut hat: «Das schönste Ergebnis meiner Begegnungen mit den Dichterinnen und ihrem Werk ist allerdings: Sie sind keineswegs vergessen. Wo immer ich nach ihnen suchte – an Orten, wo sie einst lebten, in Bibliotheken und Archiven –, wurde ich fündig.» (7) Die Orte waren manchmal durchaus ungewöhnlich: So lagerte zum Beispiel das Privatarchiv der Dichterin Helene Bossert in einem denkmalgeschützten Jugendstil-Kaufhaus, dessen friedliche Stimmung einen Kontrast zum bitteren Schicksal der Dichterin bildete. (vgl. ebd.)
Sie sind keineswegs vergessen.
Denise Buser wurde hellhörig für die Stimmen und das Leben der Dichterinnen, die sie durch deren Gedichte vernahm – über Jahre und Jahrhunderte hinweg. Sie schreibt: «Neben aller Zeitgebundenheit und den Unterschieden der Lebensumstände dringt die Schönheit ihrer Lyrik bis in die Gegenwart vor.» (8) Vorsichtig fragt sie nach den Gründen dafür: «Weil sie [die Lyrik] etwas von ihrem Leid und ihren Leidenschaften verrät? Spielt die spezielle Verdichtung der Lyrik eine Rolle, die den Dichterinnen einen kleinen, aber grossartigen Freiraum verschaffte – zwischen allen Pflichten, im Haus, in der Fürsorge für andere?» (ebd.) Die folgende Aussage klingt wie eine Prämisse, welche die Autorin ihren Recherchen zugrunde gelegt haben mag: «Wer wenig Freiräume hat, lernt diese besonders gut zu nutzen. Ich möchte es eine Tradition der Freistatt nennen oder ein geheimes Wissen um die Macht, aus wenigen Worten viel zu machen. So viel, dass das Licht ihrer Worte noch immer leuchtet, die Lyrik noch immer nachklingt.» (ebd.)
die Macht, aus wenigen Worten viel zu machen
Eine Zusammenfassung der biografischen Daten, meist einem Bild der jeweiligen Dichterin, beschliesst jedes Kapitel. Dank einer ebenfalls beigefügten Quellen- und Literaturliste können interessierte Leser:innen sich auch selbst in das Werk der einen oder anderen Dichterin vertiefen. Kennenlernen können sie diese zunächst aber durch die poetischen Porträts. Darüber hinaus enthält das Buch einen umfangreichen Anhang mit einer Auswahl an Gedichten von jeder der zwölf porträtierten Frauen. (209-261)
Audre Lorde
Ich gebe zu, mir waren nur wenige der Dichterinnen auch nur dem Namen nach bekannt. Eine von ihnen ist die 1934 geborene Audre Lorde (1934-1992). Ihr ist das Kapitel «Ein Leben im Plural» (73-87) gewidmet, bezeichnete sie sich selbst doch als «black, lesbian, mother, warrior, poet» (86). Dieses Porträt gestaltet Denise Buser in einem Wechsel zwischen dem (fiktiven?) Erlebnis einer totalen Sonnenfinsternis, für das Lorde mit ihrer Partnerin Gloria ein Jahr vor ihrem Tod auf die Insel Hawaii reiste, und Rückblenden in die Biografie der Dichterin.
«Ein Leben im Plural»
Mit Spannung erwarten die beiden Frauen das besondere Ereignis der Sonnenfinsternis, während dazwischen der persönliche Erfahrungshintergrund für das engagierte Werk Audre Lordes entfaltet wird. 1974 reiste die in Harlem/New York geborene Dichterin mit den beiden Kindern aus ihrer siebenjährigen Ehe und ihrer damaligen Partnerin Eudora nach Afrika. Sie «ist pausenlos unterwegs und sie findet dabei nicht nur eine Göttin, Sebulisa, sondern einen ganzen Kontinent. (…) Kann sie nicht einfach ein Stück Afrika in den neuen Aufbruch als Black Feminist mitnehmen? Rein äusserlich wird sie fortan mit einer weit geschnittenen, bunt verzierten Bluse und einem hochgewickelten Turban auftreten. Sie ist auf dem Weg, eine Ikone des schwarzen Feminismus zu werden.» (81)
ein Stück Afrika in den neuen Aufbruch als Black Feminist mitnehmen
Dazu zitiert Denise Buser Ausschnitte aus dem Gedicht Between Ourselves (Unter uns):
Ich glaube nicht,
dass unsere Bedrängnis
all unsere Lügen
geheiligt hat.
(…)
denn wir alle sind Kinder Eshus
Gott der Wechselfälle und des Unvorhersehbaren
und jede von uns trägt viele Veränderungen
unter der Haut. (81-82)
Die Korona-Erfahrung der Sonnenfinsternis – wenn also die Sonne nur noch als Leuchtring zu sehen ist – fällt quasi zusammen mit der Rückblende auf einen Vortrag, den Audre Lorde 1984 an der Freien Universität im Westteil Berlins gehalten hatte. Wie eine Königin trat sie mit ihrem kunstvoll geschlungenen Turban vor das Publikum im vollbesetzten Saal. «Der Tonfall von Dichterinnen und Dichtern aus aller Welt ist damals eher erhaben, untermalt von milder Pathetik. Auch sie schlägt diesen tragenden Ton bei den ersten Gedichtzeilen an.» (84) Und dann, nach fünfundvierzig Minuten bricht sie die Lesung ab und bittet «alle weissen Frauen, den Saal zu verlassen. (…) Kaum zwei Dutzend Frauen, verstreut im Saal, bleiben zurück. Noch unsicher tauschen sie Blicke aus, doch in ihre Verlegenheit mischt sich mehr und mehr eine freudige Ahnung, die schliesslich die Oberhand gewinnt.» (ebd.)
Wie eine Königin trat sie vor das Publikum
An diese und ähnliche Momente des Eintauchens «in die Aura eines gespannten Publikums» erinnert das Heliospektakel die Dichterin. Als ob die Natur stehenbliebe, herrscht mitten am Tag Finsternis und verstummen die Vögel. Eine Bezauberung ergreift von ihr Besitz. (vgl. 84f)
«Ich habe mein Leben im Plural gelebt.» und «’Black sisters of Germany, I won’t leave this room until you connect to each other… Könnt ihr mich verstehen’, hakt sie augenzwinkernd, mit leichtem amerikanischen Akzent auf Deutsch nach.» (85)
Auch wenn Denise Buser nicht angibt, aus welchen Quellen sie die sehr persönlichen «Innenansichten» der Dichterin gestaltet – das Porträt ist spannend gestaltet und wirkt in sich stimmig.
Fazit
Die Porträts dieses Buches haben mir die Augen geöffnet für ganz unterschiedliche Dichterinnen und exemplarisch auch einige ihrer Gedichte. Gleichzeitig habe ich das Buch als eigene Dichtung der Autorin Denise Buser gelesen. Ihre Herangehensweise aus verschiedenen Perspektiven und mit Originalzitaten ermöglicht viel Nähe zu den Dichterinnen. Es bleiben innere Bilder der Frauen und ihrer Lebensumstände hängen, trotz der oft grossen zeitlichen Distanz zu deren Lebenszeit. Denise Buser hat selbst gegen das Vergessen geschrieben.
Das Buch:
Denise Buser, Dichten gegen das Vergessen. Lyrikerinnen aus zwei Jahrtausenden, Basel (Zytglogge Verlag) 2023
Franziska Loretan-Saladin, Luzern, Dr. theol., war bis im Sommer 2023 Lehrbeauftragte für Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern; freiberuflich mit Predigtweiterbildung und Spiritualität unterwegs. Sie ist seit 2015 Mitglied des Redaktionsteams von feinschwarz.net.
[1] Denise Buser, Dichten gegen das Vergessen. Lyrikerinnen aus zwei Jahrtausenden, Basel (Zytglogge Verlag) 2023, 89. Die Zahlen in Klammern im Text beziehen sich auf dieses Buch.
[2] Francisco Hollanda, Vier Gespräche über die Malerei, geführt zu Rom 1538, Originaltext mit Übersetzung, Einleitung, Beilagen und Erläuterungen von Joaquim de Vasconcellos (Hrsg.), Wien 1899.