Manchmal sind es die kleinen Ausstellungen, welche die Augen öffnen. „Hilde in Italia“ ist so eine. Von Rainer Bucher.
„Kunst und Leben in der Fotographie von Hilde Lotz-Bauer“, so lautet der ebenso lakonische wie anspruchsvolle Untertitel einer nicht sehr viele Räume umfassenden, überaus berührenden Ausstellung im „Museo di Roma in Trastevere“, gleich neben der Piazza di Santa Maria in Trastevere und seiner antiken Basilika.
Hilde Lotz-Bauer, 1907 in München geboren, hatte mit 24 Jahren in Kunstgeschichte promoviert, bis 1933 eine Ausbildung als Photographin an der Bayerischen Staatslehranstalt für Lichtbildwesen in München absolviert, danach am Kunsthistorischen Institut in Florenz und an der Bibliotheca Hertziana in Rom gearbeitet.
1939 kehrt sie nach Florenz zurück, heiratet dort 1941 ihren zweiten Ehemann Wolfgang Lotz, 1943 übersiedelt sie mit ihm nach München. Von 1953 bis 1963 lebt das Paar in den USA, 1963 geht man wieder nach Rom, wo Lotz Direktor der Bibliotheca Hertziana wird. Nach dem Tod ihres Mannes 1981 zieht Hilde Lotz-Bauer 1985 nach München, wo sie 1999 stirbt.
Ihr photographisches Werk dokumentiert Kunst-, Architektur- und Industriedenkmäler, in der römischen Ausstellung aber stehen Alltagsszenen aus dem Italien der 1930er Jahre im Mittelpunkt. Aufgenommen wurden sie mit einer Leica: frühe Zeugnisse einer Straßenphotographie.
Vergangene Welten öffnen sich, aber vielleicht sind sie ja gar nicht so vergangen. Die Frage nach Nähe und Differenz stellt jedes der Bilder. Es geht um Macht, Armut und Würde.
Macht
Wie werden wir regiert? Wie funktioniert die „Regierung der Lebenden“? Michel Foucault stellt sich diese Frage in einer Vorlesung am Collège de France im Frühjahr 1980. Es ging nicht um von Regierungsformen und Regierungstechniken im Sinne institutionalisierter politischer Herrschaft, sondern um die Frage, wie das Verhalten von Individuen und Kollektiven gesteuert wird. Lotz-Bauer braucht ein Bild, um diese Frage für das Italien der 1930er Jahre zu beantworten:
Es sind Polizei, Grundbesitzer und Kirche. Alle drei sind spezifisch hoheitlich markiert und erhöht: durch die Uniform der Polizist, durch den Esel der Grundbesitzer, durch die Ordenstracht die Nonnen. Ihnen überlässt der einzig nicht Markierte, nicht Erhöhte, ein älterer Mann die Straße, er muss sie ihnen überlassen.
Und man sieht, wie für die Via della Conciliazione, jene große Prachtstraße, die auf den Petersplatz zuführt, 1936 ein ganzes Stadtviertel abgerissen wurde. Es geht um die Versöhnung zwischen faschistischem Staat und dem Vatikan, Mussolini selbst hatte den ersten Spatenstich getan. Wenn sich die Mächte der Welt einigen, müssen die kleinen Leute meist weichen.
Armut
Sieben Kinder hinter und vor einem Bretterverschlag. Wer je etwa „Christus kam nur bis Eboli“ von Carlo Levi gelesen oder den gleichnamigen Film von Francesco Rosi gesehen hat, weiß: Das ländliche Italien war lange arm, sehr arm, und nicht nur das ländliche Italien.
Der Wohlstand, dessen wir uns in Europa meistenteils erfreuen, er ist jungen, sehr jungen Datums. Man versteht auch, warum der Faschismus mit seinem – gerade technischem – Fortschritts- und Gemeinschaftsversprechen für viele so attraktiv war.
In anwachsenden Wohlstand hineingeboren und durchgängig in (europäischen) Friedenszeiten gelebt, konfrontiert dieses Bild und konfrontieren ähnliche andere Bilder mich, den deutschen Besucher, mit der Tatsache, dass dies eine extreme Ausnahme war und ist – diachron wie synchron.
Was bedeutet diese Ausnahme für mein Leben, mein Denken, ja mich überhaupt – außer natürlich Glück, ungeheures Glück in der Doppelbedeutung des Wortes.
Und welche Beschleunigung steckt in den knapp 90 Jahren, seitdem diese Bilder entstanden?
Würde
Und dann sind da noch diese Portraits, Frauen- und Kinderportraits zumeist.
Menschen in ihrer Schönheit, Einzigartigkeit und Würde.
Am Tag darauf bin ich nach Ostia gefahren, an den Strand, wo Pier Paolo Pasolini ermordet wurde: auch einer, der viel über Macht, Armut und Würde wusste. Und es zeigen konnte.
MUSEO DI ROMA IN TRASTEVERE
Noch bis zum 5. Mai 2024
Dienstag bis Sonntag 10.00-20.00
Eintritt: 7,50 €
______________
Rainer Bucher, Bonn, bis September 2022 Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
Ich danke Corinna Lotz für die Erlaubnis, Photos aus der Ausstellung zu veröffentlichen.