Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt in der Kirche werden derzeit intensiv diskutiert. Ein von Adrian Loretan herausgegebenes Buch befasst sich mit tieferliegenden rechtlichen und theologischen Fragen, mit denen sich die Kirche auseinandersetzen muss. Daniel Kosch stellt die Publikation vor.
In der Schweiz steht seit September 2023 das Thema sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche im Zentrum der Berichterstattung und der Diskussionen zum Thema Religion und Kirchen. Es wühlt Gläubige, kirchliche Mitarbeitende und staatskirchenrechtliche Behörden auf, beschäftigt die Politik und führt zu vielen Kirchenaustritten. Ausgelöst wurde dies durch die Publikation eines wissenschaftlichen Berichts von Historiker:innen der Universität Zürich «zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» und durch begleitende journalistische Enthüllungen zum Umgang amtierender Schweizer Bischöfe mit Missbrauchs-Betroffenen, mit Tätern sowie mit (kirchen-)rechtlichen Verfahren und einschlägigen Akten. Intensiv debattiert wird die Frage, was zu tun ist: Einrichtung unabhängiger Meldestellen, Sicherstellung der konsequenten Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden, Aufbau eines interdiözesanen kirchlichen Strafgerichts, Professionalisierung der Personalauswahl, Eröffnung des Zugangs zu Archiven etc.
Was bedeutet es theologisch,
dass sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch
im Zentrum der Kirche verübt und vertuscht werden?
So dringend diese konkreten Fragen sind, so wichtig ist es für die Kirche als Glaubens- und Wertegemeinschaft, sich vertieft und grundsätzlich mit der Frage zu befassen, was es bedeutet, dass sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch im Zentrum der Institution von Amtsträgern verübt und vertuscht werden. Denn damit sind Fragen und Irritationen verbunden, die für den Glauben, die Botschaft und das institutionelle Selbstverständnis der Kirche weitreichende Folgen haben. Deshalb müssen auch die Selbstkorrekturen der Kirche, die aufgrund der aufgedeckten Verbrechen und missbrauchsfördernden Strukturen zwingend notwendig sind, weiter gehen und tiefer reichen als die derzeit diskutierten Massnahmen. Zu dieser unumgänglichen Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen enthält die von Adrian Loretan herausgegebene Publikation «Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt in der Kirche» anregende, herausfordernde und teils anspruchsvolle Beiträge.
Rechtliche und systemische Aspekte
Im einleitenden Beitrag geht Adrian Loretan auf rechtliche und systemische Aspekte der Problematik ein. Hellhörig macht insbesondere die Feststellung, dass die Missbrauchsbetroffenen selbst in den kirchenrechtlichen Bestimmungen zum sexuellen Missbrauch bis vor kurzem keinen Platz hatten und das kanonische Recht «völlig ungeeignet» sei, «um sexuelle Gewalt von Priestern angehen zu können» (16). Denn dessen Fokus liegt auf dem Täter und nicht auf der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung einer anderen Person, zumal dieses Konzept dem Kirchenrecht fremd ist. Problematisch sind auch fehlende Gewaltenteilung und Rechenschaftspflicht. «Wir haben es heute mit einem priesterlichen Willkürsystem zu tun» (25).
«Darf der Rechtsstaat ein Willkürsystem unterstützen?»
Diese Feststellung wirft auch für das Verhältnis des Staates zur Kirche eine brisante Frage auf: «Darf der Rechtsstaat ein Willkürsystem unterstützen?» (23). Mit Berufung auf die Politologin Tine Stein hält er zudem fest: «Mit dem Kirchensteuersystem und weiteren Privilegien werden ‘durch den demokratischen Verfassungsstaat noch diejenigen prämiert, die in der Kirche die Macht haben’» (25), was allerdings stärker auf den Deutschen als auf den Schweizer Kontext zutrifft, wo die Kirchensteuern nicht von den Bischöfen, sondern von demokratisch verfassten staatskirchenrechtlichen Körperschaften verwaltet werden.
Die sogenannte Missbrauchskrise
Der Beitrag von Doris Reisinger problematisiert den oft unreflektiert verwendeten Begriff «Missbrauchskrise». Sie zeigt auf, dass sexueller Missbrauch und auch dessen Ahndung durch staatliche Gerichte keine erst kürzlich bekannt gewordenen Sachverhalte sind. Jüngeren Datums und eigentlicher Grund der «Krise» ist jedoch die «Auseinanderentwicklung normativer Ordnungen» (43). In der kirchlichen Logik ist sexueller Missbrauch ein Vergehen gegen die Sittlichkeit und wird als sündhafter Gebrauch von Sexualität verstanden. Es handelt sich gewissermassen um ein «Verbrechen ohne Opfer beziehungsweise ein Verbrechen, dessen Opfer unsichtbar und ohne Stimme» bleiben (46). Sie werden lediglich «Zeugen» eines Vergehens gegen den Zölibat oder das sechste Gebot. Die Gesellschaft und das staatliche Recht haben jedoch eine ganz andere Perspektive entwickelt: Sexueller Missbrauch wird längst nicht mehr als «Vergehen gegen die Sittlichkeit» und Verletzung von sozialen Normen, sondern als Verstoss gegen die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person und damit als Verletzung eines Menschenrechtes verstanden.
Das Bewusstsein für die Tragweite des begangenen Unrechts hat zugenommen,
aber die Perspektive bleibt kirchenzentriert.
Wichtig sind auch die Beobachtungen von Doris Reisinger zur Entwicklung der kirchlichen Narrative zur Deutung der Krise. Vom Narrativ der «Kirchenverfolgung» über das Narrativ der «Einzelfälle» und jenes der «Lernkurve» ist die Kirche zum Narrativ des «Reformprozesses» übergegangen. Das Bewusstsein für die Tragweite des begangenen Unrechts und die Anerkennung von Veränderungsbedarf haben zugenommen, aber die Perspektive blieb kirchenzentriert, wie auch der Begriff «Missbrauchskrise», der ebenfalls die Kirche und nicht die Missbrauchsbetroffenen im Blick hat.
Mit dem Ausbruch der Missbrauchskrise
ist das Ende der katholischen Kirche wie wir sie kannten
unausweichlich geworden.
Im Schlussteil zeigt die Autorin auf, dass es in der Kirche zwei entgegengesetzte Bewegungen gibt, denen jedoch gemeinsam ist, dass sie zum «Ende der Kirche, wie wir sie kannten» (58) führen. Setzt sich die Option «radikalisierter Katholizismus» durch, die sich «als ein Beharren auf der alten Ordnung um jeden Preis beschreiben» lässt (58), führt dies zu einem immer weiteren Auseinanderdriften von liberaler Gesellschaft einerseits und auf überkommenden Lehrpositionen und Strukturen beharrender Kirche anderseits. Daraus resultiert zum einen eine Radikalisierung, zum anderen eine gesellschaftliche Marginalisierung. Eine entgegengesetzte Entwicklung wäre die «radikale Reform» (62), weil die Autorin es als unmöglich erachtet, «die Ordnung zu reformieren und gleichzeitig an ihr festzuhalten». Denn ohne «Überschreitung der Grenzen des aktuell geltenden Kirchenrechts und der katholischen Doktrin» (64) ist eine wirksame Reform nicht möglich. So oder so ist «mit dem Ausbruch der sog. Missbrauchskrise … das Ende der katholischen Kirche in ihrer tradierten Gestalt unausweichlich geworden» (65).
Die Uno-Kinderrechtskonvention und der heilige Stuhl
Der Beitrag der Juristin, Kirchenrechtlerin und ehemaligen Politikerin Mary McAleese befasst sich mit der UNO-Kinderrechtskonvention, die der Heilige Stuhl 1990 «mit Enthusiasmus unterstützte» und unterzeichnete (78). In der Folge war der Vatikan jedoch nicht bereit, das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit zu anerkennen, indem er sich ausdrücklich von der Auffassung abgrenzte, dass die körperliche Bestrafung eines Kindes sinnvoll sein kann. Dabei schreckten die Vertreter der Kirche nicht vor zweifelhaften Argumentationsmustern zurück, um der Forderung der Konvention nicht nachkommen zu müssen. Zum einen beschränkten sie – entgegen früheren Aussagen – den Geltungsbereich der Konvention auf die wenigen im Vatikanstaat wohnhaften Kinder, statt ihre Bedeutung für die rund 300 Millionen Kinder zu würdigen, die in der katholischen Kirche aufwachsen oder in katholischen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen geschult und erzogen werden. Zum anderen behaupteten sie, die zuständigen Gremien der internationalen Organisationen könnten den Heiligen Stuhl nicht verpflichten, «seine allgemeingültigen Lehren oder das Kirchenrecht zu ändern, um der KRK (d.h. der Konvention) zu entsprechen» (91).
Der Heilige Stuhl hat seine Glaubwürdigkeit als Verfechter der Kinderanliegen verspielt.
McAleese bilanziert, damit habe der Heilige Stuhl «seine Glaubwürdigkeit als Verfechter der Kinderanliegen und als Verfechter der Sache Christi verspielt» (94). Es gibt zu denken, dass dies ausgerechnet unter dem Pontifikat von Franziskus der Fall ist und dass der Eindruck entsteht, die Kirche beanspruche, über internationalen Menschenrechtsnormen zu stehen, und dies ausgerechnet in Zeiten, in denen ihre Mitverantwortung für sexuelle Gewalt an Kindern unübersehbar geworden ist.
Alternativen zur kirchlichen Infantilisierung und Gotteskrise
Das «Plädoyer aus Missbrauchsperspektive» des systematischen Theologen Wolfgang Treitler ist der längste, anspruchsvollste und grundsätzlichste Beitrag des Buches. Er problematisiert fundamentale theologische Fragen wie jene nach dem Gottesbild und des Missbrauchs Gottes für eigene Interessen, nach der Selbstverabsolutierung der Kirche, nach der Verknüpfung von Dogma und Gehorsam samt ihren entmündigenden Folgen. Und er bringt die Missbrauchskrise auch damit in Verbindung, dass die Kirche den «jüdischen Kern des Christentums» verraten hat, zu dem das Wissen um «das göttliche Abgrundgeheimnis» und um die Tatsache gehört, dass dieses «niemals fixiert werden» kann» (144).
Das Gebet eines missbrauchten Menschen
kann in seinem Kern schweigend ausmünden
und der Gott-Losigkeit mit Wort-Losigkeit
versuchen zu entsprechen.
Zu den eindringlichsten, weil gleichzeitig existenziellen und theologisch dichten Aussagen dieses Beitrags und des gesamten Buches gehören einige Sätze zur Frage, wie man als missbrauchter Mensch weiter beten kann. Sie machen zugleich deutlich, wie zentral es für die Kirche ist, sich ehrlich und im Dialog mit den Betroffenen den theologischen und spirituellen Herausforderungen zu stellen, die sich aus Machtmissbrauch und sexueller Gewalt in der Kirche ergeben:
«Selbst als missbrauchter Mensch wird man weiter beten können, nicht mehr jedoch im Horizont billiger Erwartungen, die an den Bittgebeten kleben und einen furchtbaren Infantilismus Erwachsener und Mündiger religiös verlängern und vertiefen. … Gebet eines Missbrauchten kann und wird – hier gilt es, radikal einzeln zu denken – in seinem Kern schweigend ausmünden und der Gott-Losigkeit mit Wort-Losigkeit versuchen zu entsprechen» (194f.).
Adrian Loretan (Hg.), Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt in der Kirche. Beiträge aus Rechtswissenschaften und Theologie (ReligionsRecht im Dialog, Bd. 33), Wien 2023.
Daniel Kosch, Dr. theol., leitete von 1992-2001 die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und war von 2001-2022 Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) . Von 2020 bis 2023 nahm er als Beobachter aus der Schweiz am Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland teil. 2023 publizierte er ein Buch zum Thema «Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen» (Edition Exodus).