Peter Ebenbauer über spätmoderne Welterfahrung als Katalysator für neue theologische Aufgaben.
Wir leben gegenwärtig in einer haltlos gewordenen Weltsituation, mitten in ökologischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen globalen Ausmaßes, deren Entwicklungen und Ergebnisse alles andere als eindeutig oder vorhersehbar sind. Fraglich geworden ist in dieser Weltsituation, zumindest innerhalb der liberalen Gesellschaften in der westlichen Welt, auch die christliche Glaubenspraxis mit ihren theologischen Begleitdiskursen; fraglich nicht nur aus der Außenperspektive, die religiöse Praxis gerne unter den Generalverdacht falscher Ideologie und subtiler Machtausübung stellt, sondern auch aus der Innenperspektive jener den Kirchen angehörigen Menschen, die ihre modernen Wertehaltungen und Lebensformen mit den kirchlichen Regulativen und Traditionen nur mehr sehr begrenzt in Einklang bringen können oder wollen. Am Anwachsen dieser Diskrepanzen haben bis heute nicht zuletzt innerkirchliche Immunisierungsversuche gegen (spät-)moderne Veränderungsdynamiken ihren Anteil.
Massive Eruptionen zwischen religiöser Praxis, Theologie, säkularen Wertehaltungen und politischen Agenden.
Dies alles führt gegenwärtig zu massiven Eruptionen in den Verhältnissen zwischen religiöser Praxis, Theologie, säkularen Wertehaltungen und politischen Agenden, beispielsweise im Streit um den öffentlichen Geltungsraum religiös motivierten Handelns und seine gesellschaftspolitischen Implikationen, wenn es etwa um kirchliche Asylbetreuungseinrichtungen oder Feiertagsregelungen geht, oder auch im kirchlichen Ringen um die Akzeptanz säkularer Lebensformen wie Homosexualität oder Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partner*innen. Was die gottesdienstliche und sakramentale Praxis der christlichen Kirchen betrifft, so hat deren gesellschaftliche Strahlkraft in den letzten Jahrzehnten noch einmal deutlich abgenommen.
Die Welt der Rituale und rituellen Praktiken hat sich dagegen außerhalb der klassischen kirchlichen Handlungsfelder dynamisch entwickelt, und zwar sowohl auf der Ebene der Individuen, als auch in gruppenspezifischen und kollektiven Kontexten. Auf individueller Ebene begegnen wir heute rituellen Praktiken, die auf Selbstentwicklung, Selbstkontrolle, Ermächtigung und persönliches Wohlergehen ausgerichtet sind. Manche sehen darin einen postsäkularen Kult der Performanz, der durch subtile Einflussfaktoren ökonomischer und kapitalistischer Art mitgesteuert ist. Auf der Ebene von Gruppen-Identitäten begegnen in zunehmendem Maß rituelle Markierungen von Zugehörigkeiten und Lebensbereichen, die durch interaktive Partizipation im Sinn von Marken- oder Eventbindung, sei es im Sport, in der Kultur, in der Politik oder in der Freizeitgestaltung, gekennzeichnet sind. Kollektiv höchst wirksam ist die Performance der neuen (sozialen) Medien in ihrer Verschränkung mit Konsum, Wirtschaft und Politik.
Die Zukunft scheint von ungreifbaren Kräften bestimmt, die unmittelbar ins alltägliche Leben hereinreichen.
In allen diesen Kontexten scheint die Zukunft von Einflussfaktoren und Kräften mitbestimmt zu sein, die einerseits unmittelbar ins alltägliche Leben hereinreichen, andererseits aber auch ungreifbar und unveränderbar anmuten und nicht selten ein Grundgefühl des Ausgeliefertseins wachrufen. Welche Kräfte und Mächte bestimmen und beeinflussen heute und morgen die Entwicklungen regionaler und globaler Verhältnisse, die Lebensmöglichkeiten von Individuen und Gesellschaften? Mit welcher Zukunft dürfen sie rechnen? Gibt es angesichts der aktuellen ökologischen und politischen Szenarien überhaupt eine erstrebenswerte Zukunft für die kommenden Generationen?
Theologie muss die heutigen Erfahrungen von Menschen an den Bruchstellen der Plausibilitäten wahrnehmen.
Sind es nicht genau diese großen und bedrängenden Zukunftsfragen, die die Theologie heute aufgreifen muss, wenn sie einer ihrer zentralen Aufgaben treu bleiben möchte; der Aufgabe nämlich, die Erfahrungen, die Sorgen und die Hoffnungen von Menschen und Gesellschaften an den Bruchstellen ihrer Plausibilitäten und angesichts der dort hereinbrechenden Fragen nach Transzendenz und existentieller Orientierung in eine diskursfähige kommunikative Gestalt zu bringen? – In eine Gestalt, die nicht nur mit den aktuell kursierenden Wissensbeständen und Kalkülen ökonomisch dominierter Rationalität rechnet, sondern auf der Basis kritisch gesichteter kultureller wie religiöser Traditionen und Praktiken widerständig, unkonventionell und dabei auf überraschende Weise innovativ sein kann.
Die „Zeichen der Zeit“ sind in den Konstellationen der gesellschaftlichen und globalen Kräfte zu suchen.
Theologie ist seit jeher ein Ringen um Erkenntnisse, Perspektiven und Optionen, die die Geschichten, Überzeugungen, Hoffnungen und Praktiken von Gruppen und Gesellschaften im Kontext ihrer immanenten und transzendenten Macht- und damit Zukunftskonstellationen begleiten. Wie sie sich selbst jeweils formiert, hat elementar mit allen diesen Bezugsgrößen zu tun. Gegenwärtig stehen Theologien aus unterschiedlichen Religionen und Traditionen in stark polarisierten Kraftfeldern, die von fundamentalistischen Ideologien bis hin zu kontextuell und transdisziplinär offenen sowie wissenschaftsbasierten Konzepten reichen. Von Mächten, gar von Zukunftsmächten zu sprechen ist eine kritische und verantwortungsvolle Angelegenheit, erst recht wenn sie mit dem Anspruch auf Rationalität und methodische Transparenz verbunden ist.
Zu den bedeutenden und aktuellen Maximen christlicher akademischer Theologie zählt neben diesem Anspruch zweifellos diejenige von der „Erforschung der Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums“ (Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 4). Die Zeichen der Zeit liegen aber gegenwärtig genau in jenen Konstellationen und Szenarien, die elementar mit gesellschaftlichen und globalen Kräften und Mächten der Zukunft verbunden sind: die Klimakrise, die Digitalisierung der Technik und der Gesellschaft, die globalen Migrationsbewegungen, die interkulturellen und interreligiösen Dynamiken und Spannungen, die Verwobenheit von Politik, Ökonomie und Kapital sowie nicht zuletzt die Polaritäten zwischen unterschiedlichen Konzepten individueller und sozialer Lebensgestaltung.
Theologie – ein Generator von Zukunftsperspektiven, auf die wir nicht mehr zu hoffen wagten.
Theologische Diskurskultur und Erkenntnisanstrengung erfordert unter diesen Bedingungen mehr denn je das intensive Gespräch mit nicht-theologischen Disziplinen, vorwiegend aus den Geistes- und Kulturwissenschaften. Deren Rezeption und der risikobereite Einsatz ihrer genuinen Ressourcen aus historischer, weisheitlicher und praktischer Analyse kann eine offene und selbstkritische Theologie in den Konstellationen spätmoderner Welterfahrung zu einem Bindeglied und Kommunikator zwischen den Disziplinen werden lassen – und zu einem unkonventionell produktiven Generator von Zukunftsperspektiven, auf die wir unter dem Regime realpolitischer und realökonomischer Verhältnisse vielleicht nicht mehr zu hoffen gewagt hätten.
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Peter Ebenbauer ist Leiter des Instituts für Liturgiewissenschaft, Christliche Kunst und Hymnologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz und Schriftleiter der Zeitschrift LIMINA – Grazer theologische Perspektiven.
An der Grazer Theologischen Fakultät erscheint seit Herbst 2018 die neue Open-Access-Zeitschrift LIMINA – Grazer theologische Perspektiven. Die Zeitschrift versteht sich als theologisches Diskurslabor an den Schwellen (lat. limina) neuer Konstellationen in den aktuellen Dynamiken zwischen Gesellschaften, Kulturen, Kirchen und Religionen. Sie versucht Theologie im eben beschriebenen Sinn zu bieten. „Mächte der Zukunft“ lautet der Themenschwerpunkt der ersten Ausgabe, die im November 2018 erschienen ist. „Neue Nationalismen und die Vision der einen Menschheit“ thematisiert die zweite Ausgabe, die noch im Mai 2019 online verfügbar sein wird. Alle Ausgaben und Beitrage der Zeitschrift LIMINA – Grazer theologische Perspektiven sind über die Internetadressen www.limina-graz.eu und http://unipub.uni-graz.at/limina jederzeit frei verfügbar.