Dörte Massow, Lehrerin, Mutter und engagierte Christin erzählt zunächst in zwei Beiträgen die unabgeschlossene eigene Geschichte, und die der Politischen und Feministischen Theologie.
Für die 1953 geborene Autorin entwickelte sich der Satz „Talita Kumi“, „Mädchen, steh auf!“ aus dem Markusevangelium (Mk 5,41) zu einem Leitmotiv – schon in den Kindergottesdiensten und dem Konfirmandenunterricht in der Evangelisch-lutherischen Kirche in Niedersachsen, die Dörte Massow als Orte der Bildung erlebte. Aber auch der familiäre landwirtschaftliche Haushalt prägte sie als Ort, in dem Mädchen gleichwertig in der Mitarbeit zu partnerschaftlicher Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit erzogen wurden. Politisiert wurde sie 1965-1971 im Sozialkundeunterricht des Gymnasiums am Wall, früher „Höhere Töchterschule“ in Verden – in einer der letzten Mädchenklassen und in der Begegnung mit den VertreterInnen der Politischen und Feministischen Theologie.
Mutgeschichte(n) von Dörte Massow
Die Mutgeschichten zahlreicher Frauen in der Bibel und bis heute in der Christinnen- und Frauengeschichte sind eine Entdeckung und begeistern mich. Die Feministische Theologie hat über meinem Glauben seit Ende der 70er Jahre einen Schleier gelüftet und mich gestärkt im Wahrnehmen eigener weiblicher Kompetenzen, im theologischen Denken und politischen Handeln als Studentin, als Lehrerin, als Mutter dreier Kinder und als engagierte Christin in der Gesellschaft.
Feministische Theologie hat einen Schleier gelüftet.
Meine Eltern, beide 1927 geboren, hatten als Kinder des Zweiten Weltkrieges keine Chancen für ihre Sehnsucht nach Bildung. Früh mussten sie Verantwortung in ihrem Beruf als Landwirte in Niedersachsen übernehmen. Es ist ein großes Glück, dass sie mir und meinen vier Geschwistern eine weiterführende Bildungslaufbahn ermöglichten. Kinderbücher gab es zuhause nicht außer Struwwelpeter und Grimms Märchen. Meinen Bildungshunger stillte ich mit den erzählten biblischen Geschichten aus dem Kindergottesdienst und in der Schule. Zusammen mit meiner Freundin besuchte ich als erstes Mädchen in der Familie und im Dorf das Gymnasium in der Kreisstadt Verden. Im Sozialkundeunterricht des Gymnasiums lernten wir eine sehr kritische Sicht auf die jüngste deutsche Geschichte.
Politisierung durch Theologie
Im Konfirmandenunterricht forderte ich 1967 den Pastor im Dorf zu Gesprächsrunden nach dem Gottesdienst heraus. Als Studentin an der Pädagogischen Hochschule Münster erfuhr ich die ernüchternde Entmythologisierung durch die historisch-kritische Exegese und ihre theologischen Vertreter in der Evangelischen Theologie am Anfang der siebziger Jahre. Ich lernte in der Katholischen Hochschulgemeinde die Politische Theologie und ihren Widerstand gegen Ungerechtigkeit in Lateinamerika kennen; Persönlichkeiten wie Dom Helder Camara und Ernesto Cardenal besuchten die Gemeinde. Im protestierenden StudentInnenmilieu der siebziger Jahre in Münster und im sehr politisierten Frankreich 1973/74, wo ich in Le Mans ein Jahr als Fremdsprachenassistentin an Gymnasien arbeitete, studierte ich weiter die historischen Hintergründe für eine gesellschaftskritische Grundhaltung. Meine Berufsjahre als Grundschullehrerin in Westfalen begannen 1976 im überwiegend katholisch geprägten Paderborn. Dort schloss ich mich der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) an. Aus Tübingen kam die Pastorin Antje Heider-Rottwilm. Sie lud in den 80er und 90er Jahren ReferentInnen aus Theologie und Gesellschaft ein, Dorothee Sölle, Judith Jannberg, Christa Mulack, Eugen Drewermann, u.a. Wir gründeten in der ESG einen feministisch-theologischen Gesprächskreis und spürten die Geschichten von Frauen in den biblischen Texten und in der Kirchengeschichte auf. In den Gottesdiensten experimentierten wir mit neuen liturgischen Elementen und bezogen KünstlerInnen mit ein.
Ökumenisches Forum Christlicher Frauen in Europa
Der Lektüre- und Gesprächskreis entwickelte sich zu einer Frauengruppe, die in den achtziger Jahren beschloss, sich dem Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa (ÖFCFE) anzuschließen. Wir folgten dem Impuls der Gründerin und Pastorin Ruth Epting in Basel, die seit 1982 die europäischen Frauen in den Kirchen durch das ÖFCFE vernetzte und ihnen so als Theologinnen Ort und Stimme gab. Dr. Cornelia Göksu u.a. dokumentierten 2009 die junge Geschichte des ÖFCFE in „Ökumene weiblich“ 1. Wir verschlangen Bücher von feministisch-theologischen Autorinnen wie Elisabeth Moltmann-Wendel, Claudia Janssen, Luise Schottroff, Ingeborg Kruse, Hildegunde Wöller, Pnina Navè Levinson, Marga Bühring. Wir nutzten die ganzheitlichen Methoden und Erfahrungen aus dem Bibliodrama und so wurden biblische und historische Frauen der Christenheit in unseren öffentlichen Fortbildungen spürbar und sichtbar. Mit leidenschaftlichen Forschungen und Studien machten wir uns die Bibel neu zu eigen, so auch in theologischen Seminaren von Marie-Theres Wacker in Paderborn. Für die Liturgie der Gottesdienste veränderten wir Texte in geschlechtergerechter Sprache und experimentierten mit Gottesnamen, was dann später mit der Bibel in gerechter Sprache endlich eine für alle zugängliche Methode wurde. Biblische Frauen haben eine prägende Spur in meine Biografie gelegt.
Spuren biblischer Frauen:
Die indische Malerin Luzy D´Souza-Krone malte „Das weibliche Antlitz Gottes“ und das Misereor Hungertuch von 1990 über „Biblische Frauengestalten – Wegweiser zum Reich Gottes“. Sie machten das Leben biblischer Frauen künstlerisch sichtbar. Als Hebammen hatten Schifra und Pua im Buch Exodus (Ex 1,15-21), zusammen mit Mutter und Schwester des Moses eine enorme Klugheit und Widerstandsleistung gegen die herrschenden Gesetze aufgebracht, die ihm als Führer seines Volkes das Überleben möglich machte. Der elementare kämpferische Einsatz dieser Frauen war Vorbild für meinen Mut zum Aufbegehren.
Mut zum Aufbegehren!
Ruth und ihre Schwiegermutter Naomi bringen als Flüchtlingsfrauen in ihrer Not lebenserhaltende Klugheit und Solidarität auf (Rut 1,22, Rut 2,8; Rut 4, 13-17). Im Konflikt über das rechte weibliche Verhalten kämpfen die rührige, verantwortungsbewusste Martha und die versonnene, bildungshungrige Maria zu Füßen Jesu in der Erzählung bei Lk 1,52. Die geistliche Kraft von biblischen Prophetinnen, wie z.B. Hulda, hat mich beeindruckt, ebenso wie die Autorität und Achtung, die die fähige Richterin und Stammesführerin Deborah erfuhr. Nüchtern galt es in der Entlarvung von Mythen und Legenden zu erkennen, wo Frauen von Männern für politische oder interessengeleitete Zwecke benutzt wurden, wie z.B. von Abraham, der seine Frau Sarah dem ägyptischen Pharao als seine Schwester anbietet. In Legenden um Eva und Lilith wurde die verworfene Lilith wegen ihrer wilden, dunklen, erotischen Seite als Frau abgewertet und die angepasste, unterwürfigere Eva zum Vorbild erklärt. Die Legende von Martha, die den Drachen zähmt, zeigt uns in der Debatte um den rechten Umgang mit Feinden eine Alternative auf zu Georg, dem Drachentöter. Die tiefenpsychologischen Interpretationen von Ingrid Riedel und Eugen Drewermann gaben Hilfen für die Bedeutungsanalyse archaischer Bilder und Geschichten.
Entlarvung des Missbrauchs von Frauen
Die Auseinandersetzung mit Gottesbildern, besonders auch mit dem Heiligen Geist in der Trinität Gottes, war wesentlich in meiner feministisch-theologischen Entwicklung. Christa Mulack untersuchte die weibliche Seite Gottes anhand der jüdischen Kabbala. Andere Autorinnen fanden mithilfe sprachlicher Analysen heraus, dass aus der hebräischen Ruach und der griechischen Sophia große weibliche Seiten von Gottes Antlitz sprechen. Sie ermöglichten mir die Unterscheidung der Geister. In Hesekiel 37 rührt der Atem Gottes als weibliche Ruach viele Male das Totenfeld, bis die Gebeine der Gefallenen wieder lebendig werden, wie Marie-Theres Wacker darlegte. Ich erfuhr bei einer bibliodramatischen Arbeit im damaligen Frauenstudien- und Bildungszentrum der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) in Gelnhausen, dass in der lateinamerikanischen Theologie dies ein kraftvoller Glaubenstext für die Auferstehung ist.
Am 20. August 2018 lesen Sie die Fortsetzung dieser Geschichte von Dörte Massow, die heute in Hamburg lebt und dort das Ökumenische Forum in der HafenCity mitgestaltet.
Text und Bild: Dörte Massow
- Bücking, Elisabeth; Göksu, Cornelia; Heiling, Inge; Liekefett, Waltraud; Nickel, Katharina (Hg. als Vertreterinnen des ÖFCFE Deutschland), Ökumene weiblich. Frauen überschreiten Grenzen, Berlin 2010 ↩