Hartmut von Sass hat mit seinem theologischen Essay „Atheistisch glauben“ (2022) Überlegungen zu einer post-theistischen Neujustierung des christlichen Gottes- und Glaubensverständnisses vorgelegt, dem Alexander Löffler nachgeht.
„Atheistisch glauben“ – dieser Titel regt zum Nachdenken an, noch bevor man den ersten Satz des Buches gelesen hat. Ist mit „atheistisch glauben“ eine Form von Glaube oder glauben gemeint, die sich in der Spur von Dietrich Bonhoeffers Rede eines „religionslosen Christentums“ bewegt? Oder geht es um die – apologetisch motivierte – Klarstellung, dass auch der weltanschauliche Atheismus eine Form von Glaube ist, nur eben keine theistische, sondern naturalistische? Oder ist „atheistisch“ als „nichttheistisch“ zu lesen, so dass hier ein Glaube bedacht wird, der den Theismus hinter sich gelassen hat?
Abschied von Gott als transzendenter Wirklichkeit
Tatsächlich ist Letzteres der Fall, denn der Autor hält den Theismus für eine überlebte, unhaltbare theologische Theorie. Seines Erachtens werfe sie nämlich mehr Fragen auf, als sie lösen könne. Um nur zwei zu nennen: Wenn Gott ein allgütiges und zugleich allmächtiges Wesen ist, warum gibt es dann so viel Leid in der Welt? Wenn Gott tatsächlich ein absolutes und zugleich personales Wesen ist, wie kann der Mensch dann mit ihm in eine reale Beziehung treten, ohne Gott dabei zugleich zu begrenzen? Der Autor will mit seinem Buch aber nicht nur den Theismus hinter sich lassen. Er hält alle theologischen Denkmodelle für fragwürdig, die Gott als eine metaphysische Wirklichkeit begreifen, also als etwas, das „jenseits“ oder „hinter“ der physischen Wirklichkeit existiere. Von Sass will Gott als eine rein innerweltliche Größe verstanden wissen. Denn eine andere Welt als die, wie die Naturwissenschaften sie beschreiben, gebe es nicht. Entsprechend lautet die Grundthese des Buches in Bezug auf den Glauben: „Glaube richtet sich auf diese Welt, nicht auf parallele oder künftige Welten.“ (20)
Christlicher Glaube ohne Gott?
Damit ist deutlich, auf was das Wort „atheistisch“ im Buchtitel abhebt und was der Essay als ganzer will: Es geht um die Explikation einer Form christlichen Glaubens, die ohne Gott als transzendente Wirklichkeit auskommt. Oder wie der Autor das theologische Grundanliegen seines Werks selbst formuliert: „Kein ontologisch autarkes Wesen wird nun theologisch charakterisiert, sondern die Theologie expliziert den glaubend vollzogenen Bezug auf diese eine Welt. Der atheistischen Revision religiösen Glaubens geht es folglich nicht um einen zur Welt addierten Referenten, sondern um eine irreduzible Referenz auf die uns umgebende Welt.“ (38)
Der Glaube als eine Weise, alles neu zu sehen – „inklusive sich selbst“ (51)
Wenn Gott aber der Welt und dem Menschen als transzendente Wirklichkeit genommen ist, wie ist dann aus christlicher Perspektive noch von „Glaube“ und „glauben“ zu sprechen? Auch hier gelte es, ein neues Verständnis einzuüben. Wird klassischerweise beim Glaubensbegriff zwischen (propositionalem) Glaubensinhalt und (personalem) Glaubensakt, also zwischen dem Für-wahr-Halten von Überzeugungen (fides quae creditur) und dem liebenden Vertrauen in Gott (fides qua creditur), unterschieden, so schlägt von Sass nun eine modale Bestimmung des Glaubensbegriffs vor. Unter „glauben“ sei nicht länger ein Tun, also ein „glauben, dass“ und ein „glauben an“, zu verstehen, denn es existiere weder ein Gott, an den geglaubt werden könne, noch gebe es Offenbarungsinhalte, die zu glauben wären. Unter „glauben“ sei vielmehr ein Modus zu verstehen, der alle Tätigkeitsbereiche des Menschen betreffe und unter ein neues Vorzeichen stelle. „Glaube“ in dieser adverbialen Bestimmung meine dann eine Weise, alles in der Welt (und die Welt als Ganze) neu zu sehen und zu verstehen (24).
Die Welt wird zur Schöpfung, die Mitmenschen zu Nächsten.
So wie sich ein Kunstwerk in verschiedenen Hinsichten betrachten lasse – ästhetisch, chemisch, monetär –, so gelte dies auch von der Welt. Gläubige Menschen würden die Welt eben in religiöser (und nicht in naturalistischer) Hinsicht betrachten und verstehen. Konkret bedeutet dies: Die Welt bleibt dann nicht einfach Welt, sondern wird zur Schöpfung, die Mitmenschen werden zu Nächsten, die zu lieben sind, und sich selbst betrachtet man fortan als gerechtfertigte:n Sünder:in, das heißt als eine von Gott geliebte und erlöste Person. Ob sich diese neue Sichtweise aber tatsächlich einstelle, bleibe der Verfügungsgewalt des Menschen entzogen. Von Sass sieht daher auch bei seinem (modal bestimmten) Glaubensverständnis das Moment der Unverfügbarkeit bewahrt, der Geschenkcharakter des Glaubens. Denn es gilt: „Ohne Glauben also keine Schöpfung, kein Nächster, ja nicht einmal ein Sünder, der auf Erlösung hoffte.“ (53) Zu ergänzen wäre: Ohne Glaube ist freilich auch kein „Gott“.
Christlicher Glaube – eine bloße Projektion?
Gerade die zuletzt ergänzte Aussage gerät beim Lesen des Büchleins immer wieder leicht aus dem Blick. Denn im Buch ist viel von „Gott“ und „Gottes Wirklichkeit“ die Rede, und das auf durchaus interessante Weise. So etwa, wenn man liest: „Nicht an Gott glaubt der Mensch (…), sondern in seiner Wirklichkeit wandelt der von ihr getroffene Mensch, dem Gott sich in seiner unendlichen Freiheit offenbart.“ (70) Oder: „Gott ist nicht derjenige, zu dem gebetet, sondern die Wirklichkeit, in der gebetet wird.“ (125). Solche Passagen wecken leicht den Eindruck, dass hier doch noch von Gott als einer metaphysischen Wirklichkeit die Rede ist. Sie nähren die Hoffnung, dass die eingangs erwähnten Problemstellungen einer theistischen Weltsicht sich vielleicht doch noch zufriedenstellend meistern lassen könnten. Allerdings kann und darf die Weiterverwendung des klassischen Vokabulars nicht darüber hinwegtäuschen, dass im von Sass’schen Ansatz Gott als eine metaphysische, transzendente Wirklichkeit endgültig verabschiedet ist. Mit „Gott“ oder „Gottes Wirklichkeit“ ist in diesem Ansatz lediglich eine Bewusstseinslage des Menschen gemeint, die sich einstellen kann oder nicht. Gottes Wirklichkeit kann sich in dieser Welt einstellen, wenn der Mensch diese Welt in religiöser Hinsicht betrachtet, nämlich mit den Augen des Glaubens und den Symbolen, die diesen Glauben prägen, wie von Sass selbst schreibt: „Die Wirklichkeit Gottes stellt sich ein, indem Menschen ihr Leben in der Sprache des Glaubens verstehen und sich selbst in den Bildern ihrer Religion sehen; umfangen also von einem geistigen Wirken, das anders als in Schriften, Gesten, Klangwelten nicht wird wirken können – aber auch nicht anders wirken müsste“ (129).
Gott wird zur bloßen Idee.
Gott wird hier zu einer reinen Vorstellung des menschlichen Bewusstseins, zu einer bloßen Idee, wenngleich auch zu einer segensreichen, die den Menschen beruhigt und ihm Hoffnung gibt: Eine Idee, die sich einstellen kann oder nicht. Aber Gott ist eben keine vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit. Spätestens mit dem Tod eines Menschen geht nicht nur seine, sondern auch Gottes Welt, einschließlich Gott selbst, unter. Von daher stellt sich die Frage, zu welcher Hoffnung (der im Büchlein ein ganzes Kapitel gewidmet ist) die hier vorgenommene atheistische Revision des religiösen Glaubens tatsächlich berechtigen kann. Denn was nützt es einem Menschen, im Glauben alles neu zu sehen, wenn sich dieses gläubige Sehen am Ende als reine Projektionsleistung entpuppt? Was klassischerweise als „Auferstehung von den Toten“ bezeichnet wird, wird im von Sass’schen Ansatz wie folgt atheistisch revidiert: „Man steht von den ‚Toten‘ auf, indem man (wieder) zum Glauben findet; und wem dies widerfährt, der hat bereits das ‚ewige Leben‘ (so Joh 3,36); das ist zugleich die Wiederkunft Christi, in dessen Reich der Gleichnisse ein Glaubender wandelt“ (139f). Der christliche Glaube bietet in dieser Konzeption keine Hoffnung über den Tod hinaus.
Das aufrichtige Ringen eines Theologen.
Auch wenn Hartmut von Sass‘ Vorschlag einer post-theistischen Neukodierung des christlichen Gottes- und Glaubensverständnisses wohl für die allermeisten Christ:innen keine wählbare Option darstellen wird, weil hier im Letzten doch das Kind mit dem Bad ausgeschüttet wird, so ist das aufrichtige Ringen eines Theologen um ein adäquates Gottesverständnis freilich zu würdigen. Vermutlich werden nämlich ebenso viele Christ:innen an einen Gott glauben, den es so gar nicht gibt, weil sie das Absolute und Unbedingte unbedacht vergegenständlichen und relativieren. Hier die richtige Balance zu finden, ist die bleibende Herausforderung christlicher Theologie. Denn „Gott ist kein ‚etwas‘ oder ‚jemand‘“, wie auch Hans-Joachim Höhn mit Recht betont. „Er ist aber auch nicht ‚nichts‘.“[1]
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Alexander Löffler ist Jesuit und Professor für Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main.
[1] Hans-Joachim Höhn, Gottes Wort – Gottes Zeichen. Systematische Theologie, Würzburg 2020, 174.
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