Von der Mystikerin Marguerite Porète gibt es eine einzige Schrift, der „Spiegel der schlichten Seelen“. Dietmar Mieth geht der literarischen und theologischen Bedeutung dieser widerständigen Denkerin nach.
„Antigone stirbt zwar, aber ihre Tat bleibt in der Sprache. Worin jedoch besteht ihre Tat? Diese Tat ist und ist nicht ihre eigene, eine Überschreitung der Normen der Verwandtschaft und der Geschlechterzugehörigkeit, durch die der brüchige Charakter dieser Normen zutage tritt, ihre plötzliche und verstörende Übertragbarkeit und ihre Fähigkeit, in Zusammenhängen und Weisen wiederholt zu werden, die sich nicht voll vorhersehen lassen.“[1]
Es ist gewiss etwas gewagt, dieses Zitat einer zeitgenössischen Philosophin auf Marguerite Porète anzuwenden, aber der Vergleich passt durchaus im Sinne der „Überschreitung der Normen“ und der daraus folgenden Verurteilung sowie der Verweigerung von Auswegen aus dieser Verurteilung.
Zur Person
Marguerite stammt aus dem Hainaut (dt. „Hennegau“), d.h. von der französischen Nord-Grenze. Ihre Geburt wird um 1260 vermutet. Ihr Tod am 1. Juni 1310 auf der Place de Grève in Paris, ist durch Chroniken, die von ihrer Verbrennung als Ketzerin berichten, dokumentiert.[2] Vor 1306 fand die Verbrennung ihres (einzigen) Buches „Spiegel der schlichten Seelen“ in Valenciennes statt. Sie wurde vom für Valenciennes zuständigen Bischof von Cambrai, Guy de Colmieu (oder Guido de Collemezzo, einem Italiener) angeordnet. Er starb 1306, d.h. dieses Ereignis kann nicht nach aber bereits vor 1306 stattgefunden haben.
„Spiegel der schlichten Seelen“
Marguerite schreibt in ihrem „Spiegel“ auch über den Wasserkreislauf, und zwar am Beispiel von Oise – Seine – Meer – Wolkenbildung – Regen – Quellwasser. Die Wahl dieser Geographie legt nahe, dass sie in Paris zu tun hatte. In Valenciennes hätte sie die Schelde in den Mittelpunkt stellen müssen, hier ist es die Seine, in welche die Oise bei Paris mündet.
Als Lehrerin in Valenciennes, als „clergesse“, war sie mit dem „Kompendium (Spiegel) für die schlichten Seelen“ verklagt worden. Nach der öffentlichen Verbrennung ihres Buches durch den Bischof von Cambrai, erhielt sie die Auflage, dieses Buch nicht zu verbreiten. Ob das noch in ihrer Hand lag, bleibt offen. 1308 wurde sie im Auftrag des Erzbischofs von Lens, Phillip de Marigny, zuständig als Metropolit für Paris, verhaftet.
Ihre literarische Bedeutung
Nach Bernard McGinn, Abendländische Mystik, gehört Marguerite mit Mechthild von Magdeburg und Hadewijch von Brabant zu den bedeutendsten Vertreterinnen der Mystik des Mittelalters.
ein religiöser Bestseller des Mittelalters
Für die (französische) religiöse Volkssprache leistete Marguerite – auf ihre Weise und auf einer anderen Ebene – ähnliches wie Dante für die italienische, Lullus für die spanische und Eckhart für die deutsche Sprache. Ihre kleine Schrift wurde zu einem religiösen Bestseller des Mittelalters. Angesichts der Kundigen, die sich mit den berühmten Männern intensiv beschäftigt haben, stellt sich die Frage, weshalb dieses Buch einer Mystikerin so wenig bekannt ist.
Die wichtigste Übereinstimmung mit Meister Eckhart ist das Vivre sans pourquoi, bei Eckhart „Leben ohne Warum bzw. ohne Worumwillen“. Marguerite hält sich wie Meister Eckhart vor allem an die theologischen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe. Sie vertritt die Relativität der Tugenden, wenn man sie als disziplinierende Normen versteht und nicht als persönliche Einübung. Aus der eigenen religiösen Innerlichkeit entfaltet sie ein religiöses Selbstbewusstsein.
Die theologischen Tugenden sind für Marguerite die noblen „Damen“.
Marguerites „Miroir des simples âmes“, so meine Annahme, richtet sich in der Tugendlehre gegen „Le Miroir des nobles dames“ des Franziskaners Durand(us) de la Champagne (ca. 1295). Die theologischen Tugenden sind für Marguerite die noblen „Damen“. Daher könnte diese Bemerkung sich direkt gegen das Tugendbuch (für Frauen!) des Durand de Champagne OFM richten, eine klassische Tugendlehre, sowie der erste Fürstinnen-Spiegel, geschrieben für die Königin Jeanne.
Mit der Gewichtung der theologischen Tugenden, die alle anderen Tugenden steuern und umfassen, richtet sich Marguerite gegen die Disziplinierung. Sie wendet sich dagegen, die Tugenden als Instrument der Domestizierung einzusetzen. Man muss ihre Tugendlehre in die breitere damalige literarische Tugend-Kontroverse einordnen. In diese Kontroverse gehört m.E. auch „Le Fauvel“ (um 1315), eine Verspottung der Tugenden in einem Bild-Roman mit Liedern.
Marguerites Akzente als Mystikerin
Bei Eckhart wird Kirche als solche nicht eigens thematisiert. Kirche war im mittelalterlichen Kontext als Gegenstand theologischer Traktate nicht üblich (auch nicht bei Thomas von Aquin!). Kirche war deutlich präsent als ein „Außen“, Christus war für die religiöse Erfahrung dagegen „innen“. Mittelalterliche Mystikerinnen sprechen nicht von der „Kirche in den Seelen“ (Romano Guardini). Die „Kirche außen“ wird bei Marguerite hingegen sehr explizit thematisiert: Sie ist die „kleine“ Klerikerkirche, der die erhoffte „große“ Kirche als Laiengemeinde gegenübersteht. Eckhart betrachtet seinerseits die Kirche nicht als handelnd in der „Zeit der Ernte“ (Mt 13,30 und 39). Die Letzturteile Gottes stehen noch aus. Das wussten auch die Inquisitoren oder Thomas von Aquin, aber es hinderte sie nicht, vom Staat der Feuertod zu verlangen (vgl. Thomas, S.th. II q 11, a 3)
(kirchen-)politische Provokationen
Marguerites „Miroir“ enthält folgende (kirchen-)politische Provokationen:
- Statt ein Kompendium („Spiegel“) für „nobles dames“ (verfasst von Durand de la Champagne), ein Kompendium („Miroir“) für „simples âmes“ (etwa gleichzeitige Schriften!)
- Eine Kritik der „kleinen“ (klerikalen) Kirche und die Vision „de l´Eglise la grande“
Die Sorge Papst Clemens V., der den päpstlichen Hof nach Avignon verlegte und das Konzil von Vienne (1311-1313) einberief – beides formell nicht in Frankreich, sondern auf Reichsgebiet –, richtete sich auf die Häresie in den ekstatischen und libertinistischen, religiös pointierten, Wanderbewegungen.
Vom Prozess zur Verurteilung
Der Prozess gegen Marguerite wurde vom Großinquisitor Frankreichs, Guillaume Imbert de Paris OP, im päpstlichen Auftrag erst zögerlich geführt, vielleicht in der Hoffnung, die Verbreitung des Buches durch Kooperation mit der Autorin zu behindern. Marguerite verweigerte freilich den Kooperations-Eid, im Gegensatz zu Eckhart, der diesen Reinigungseid öffentlich leistete, um sich im gegen ihn geführten bischöflichen Inquisitionsprozess in Köln zu verteidigen!
Druckmittel Exkommunikation
Wegen Marguerites Eidverweigerung benutzte der Inquisitor als Druckmittel die Exkommunikation. Als dieses Mittel trotz langer Anwendung nicht wirkte, wurde der Prozess zu Ende geführt. Der Inquisitor hielt die Autorschaft anonym, ließ handverlesene Theologen über einzelne Sätze urteilen, sodann handverlesene Kanonisten über die Frage der Rückfälligkeit befinden. Das „Autodafé“ zur Verurteilung fand vor einer großen Honoratioren-Versammlung am 31. Mai auf der Place de Grève (heute Place de l´Hotel de Ville) statt. Marguerite wurde einen Tag später, am 1. Juni 1310, zugleich mit einem namenlosen jüdischen Konversen, der als „rückfälliger“ Jude verurteilt war, verbrannt.
Chroniken dokumentieren das Urteil, zugleich wird es in den Clementinen“, d.h. in den von Papst Clemens gebilligten Beschlüssen des Konzils von Vienne (1311-1313) aufgenommen und allgemein gegen die Beginen verwandt.
Was bleibt von Marguerites Buch heute?
Es handelt sich ausdrücklich um ein Buch der Liebe: „Der Liebende/die Liebe hat für euch dieses Buch geschaffen, und ich habe es für euch geschrieben. Die Seele wird vom Nicht-Denken erfasst durch die Nähe des Fern-Nahen (Loingprés) der sie in Frieden erfreut.“ (ch. 84, p.156) Wichtig ist hier die Reziprozität der Liebe.
Nach Marguerite sagt l´amour: „Kein Magister, dessen Weisheit aus der Natur stammt [also kein Philosoph], kein Magister der Heiligen Schrift [das war Eckhart], keiner von denen, die in gehorsamer Liebe zu den Tugenden verweilen, kann und wird es verstehen … nur derjenige, der dem Weg der Hohen Liebe (Fin amour) folgt.“ (ch. 9, p.61)
gegen Kirchenbevormundung und Werkgerechtigkeit
Marguerite bringt l´amour gegen scholastischen Rationalismus („raison“), gegen Kirchenbevormundung und Werkgerechtigkeit ins Spiel. Die Erfahrung der Nichtigkeit und des „Nicht“ wird bei Marguerite mit dem Entzug des Geliebten parallelisiert. Man muss freilich „raison“ bei Marguerite eher als eine selbstherrliche, eingeschränkte Vernunft verstehen, wie sie bei Eckhart nicht gegeben ist. Denn es heißt bei Marguerite auch: „Davon überrascht werden nur … Menschen, die Füße haben und keinen Weg, Hände und nichts zu tun, Münder und keine Worte, Augen und keine Sicht, Ohren, ohne zu hören, Verstand, ohne zu denken, Leiber, ohne zu leben, Herzen, ohne zu verstehen.“ (ch. 86, p.158) Das sind deutliche Reminiszenzen an jesuanische Äußerungen. Oder: „Nur wem Gott das Verstehen gegeben hat, der weiß es, niemand sonst, denn es ist nicht in der Schrift, noch in der menschlichen Weisheit …, diese Gabe kommt vielmehr aus der Fülle des Nicht.“ (ch. 7, p.58)
eine Kunst …, die auf zugängliche Weise „in die Tiefe“ geht.
Das „Nicht“ des Eigenwollens in der total überlassenen Liebe entspricht der „Abgeschiedenheitslehre“ bei Meister Eckhart. Der Literaturnobelpreisträger Jan Fosse äußerte in einem Interview[3], dass er diese Abgeschiedenheit als Voraussetzung für eine Kunst betrachte, die auf zugängliche Weise „in die Tiefe“ geht. Er hat gut erfasst, dass hier an die Stelle des „Welt“-Entzuges eine Einstellung tritt, die sich so sehr nach innen orientieren kann, dass das Außen entweder verblasst oder durch diese Einstellung eine andere Beleuchtung von innen heraus erhält.
Dietmar Mieth (*1940), studierte Theologie, Philosophie und Literatur.
Habilitation in Tübingen und – als erster Laientheologe – Professor für Moraltheologie (1974, Fribourg), 1981 bis 2008 Theologische Ethik in Tübingen.
Seit 2009 am Max Weber Kolleg der Universität Erfurt, Forschungsstelle Meister Eckhart.
Eine wissenschaftliche Fassung dieses Beitrages erscheint in: Mariano Delgado/Volker Leppin (Hg.), KirchenlehrerInnen, 2024; vgl. auch: Dietmar Mieth, Ketzerflammen in Paris. Meister Eckhart, Marguerite Porete und die Intrigen der Inquisition, Roman, Hannover (Der blaue Reiter) 2024.
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[1] Judith Butler, Vorsehung und Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, dt. Ausgabe Frankfurt a. M. 2002, 48.
[2] Vgl. zur Dokumentation des Prozesses: Sean L. Field, The Beguine, the Angel and the Inquisitor, Notre Dame, Indiana 2012, 209- 231 (Trials Documents, translated in English); 233-247 (Chronicles, translated in English).
Zur Lektüre des “Miroir” Marguerites empfehle ich gern die englische Ausgabe/Übersetzung. hg. von Ellen L. Babinski, New York 1993. Die Kapitelangaben („ch.“) sind in allen Ausgaben gleich. Deutsche Übersetzung: Der Spiegel der einfachen Seelen, übers. v. Louise Gnädinger, Zürich und München 1987. Zur Edition des Speculum Dominarum/Miroir des nobles dames: Anne Flottès-Dubrulle, École de Chartres, Paris 2018.
[3] WDR 3 (ARD 1 Mediathek)