Die unbefleckte Zeugung von Maria, der Mutter Jesu, ist ein katholisches Dogma, das die wenigsten Leute auf dem Schirm haben. Knut V.M. Wormstädt spürt der Grundlage eines Feiertages nach und fragt sich, was wir heute noch davon lernen können.
Heute ist Mariä Empfängnis. Es ist einer der (überraschend zahlreichen) Feiertage, die sich um Maria, die Mutter Jesu drehen. Bei Mariä Empfängnis kommt Maria nicht als Königin (22. August), als Teil der himmlischen Bevölkerung (15. August), als Mutter der Kirche (Montag nach Pfingsten) oder als Schutzheilige (für Bayern, 1. Mai) in den Blick, hier geht es stattdessen um ihre Rolle als Mutter Jesu. Es ist, wenn man so möchte, das logisch erste Fest, auf das dann Mariä Geburt (8. September) und eben später Mariä Heimsuchung (2. Juli) und Weihnachten (24. Dezember, wobei sie hier nur noch eine Nebenrolle hat) folgen.
Geschlechtslust? Sünde!
Was wird aber bei Mariä Empfängnis gefeiert? An diesem Tag steht der Umstand im Zentrum, dass nicht nur Jesus Christus ohne Sünde gezeugt (und später geboren) war, sondern bereits seine Mutter sündlos gezeugt wurde, als immaculata conceptio – als ‚unbefleckte Empfängnis‘ eben. Im Hintergrund dieser Überlegungen steht ein Sündenverständnis, wie es seit Augustin kursiert, in dem Sünde mit Konkupiszenz – ‚Geschlechtslust‘ – eng geführt wird. Sünde sei in allen menschlichen Handlungen vorhanden und äußere sich darin, dass fortwährend weltliche Fehler geistiges Wollen übertrumpfen würden. Am deutlichsten werde dies beim Sex, da hier ‚Geschlechtslust‘ alle geistigen Vermögen zumindest trübte, wenn nicht gar völlig überschriebe. Gotteslob oder eigentlich andere, gesollte Dinge, seien in diesem Moment nicht mehr möglich. Wird nun durch den welt-zugehörigen Sex ein Kind gezeugt, ist bereits an der Zeugung die Konkupiszenz der Eltern und damit deren Sünde beteiligt. Das frisch gezeugte Kind habe also gar keine Chance, bereits im ersten Moment seiner Existenz ist es der Sünde ausgesetzt und nimmt diese mit in sein Leben fort. Augustin will über diesen Gedanken erklären, warum alle Menschen der Erlösung durch Christus bedürfen und entdeckt in der Zeugung ein wahrhaft universales (und praktischerweise sünden-nahes) Moment menschlicher Existenz. Die Vorstellung der unbefleckten Empfängnis Mariens soll nun den Boden dafür bereiten, dass Jesus Christus mit der Sündhaftigkeit des menschlichen Leibes nicht in Berührung kommt und so dessen eigene Sündlosigkeit nicht gefährdet werde. Dies wird durch die Sündlosigkeit der Gottesmutter garantiert, die wiederum bei der unbefleckten Empfängnis dadurch erreicht wird, dass Marias Zeugung aus dem ‚geschlechtslüsternen‘ Kreislauf herausgenommen wird.
…alles im Mysterium Gottes enthalten…
Einen Höhepunkt erreichte diese Idee 1854, als Pius IX. die Vorstellung der unbefleckten Empfängnis zum verbindlichen Dogma der katholischen Kirche erhob. Die theologische Beschäftigung mit dem Sündenstatus Mariens ist aber deutlich älter. Bereits im 11. Jahrhundert findet sich mit dem Sekretär des Bischofs Anselm von Canterbury, Eadmer, ein Verfechter der immaculata conceptio. In verzückter Begeisterung von und vor Maria kommt er zu dem Schluss, dass diese zwar Christus untergeordnet sein müsse, als von Gott designierte Herrscherin aber wiederum allen anderen Menschen übergeordnet. Für Eadmer ist die Sünde das unterscheidende Kriterium, also sei Maria von Gott ab ovo sündlos geschaffen. Doch auch andere Lösungen als die Eadmers werden diskutiert: So stellt schon Bernhard von Clairvaux heraus, dass Gott Maria auch nach der Zeugung noch problemlos entsündigen könnte – alles im Mysterium Gottes enthalten. Dadurch wäre zugleich auch ein logisches Problem vermieden, nämlich, dass die Sündlosigkeit Mariens im Augenblick ihrer Zeugung eigentlich wiederum die Sündlosigkeit ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und so fort voraussetzte und damit aber schlechterdings die Idee der Sünde entwerte. Die theologische Diskussion blieb die ganze Zeit über kontrovers. Besonders standen sich zunehmend volksfrömmige Traditionen, in welche die ‚unbefleckte Empfängnis‘ zunehmend einwanderte, und theologische Bedenken, geäußert auch von so einflussreichen Personen wie Thomas von Aquin, gegenüber. In diese zumindest gemischte Gemengelage spricht nun Pius IX. hinein und schließt sich damit einer ohnehin im 19. Jahrhundert wieder stärker verbreiteten Marienfrömmigkeit an. Seine Dogmatisierung der Lehre der immaculata conceptio war aber insofern bemerkenswert, dass sie sich weder auf biblische Schriftbezüge noch auf eine einheitliche Tradition stützen konnte. Dies waren aber eigentlich die maßgeblichen Quellen für verbindliche Lehren. Stattdessen fußt sie auf einem deutlich schwammigeren Gedanken von einem ‚allgemeinen Bewusstsein der Kirche‘. Sie weiß sich in ihrer Verkündigung auch nicht von einem Konzil als Vertretung der Gesamtheit der Glaubenden getragen, nein, das Dogma lebt allein aus dem päpstlichen Lehramt.
Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens … ein obskurer Partikel
Es ist faszinierend, in die Entstehungsgeschichte dieses Dogmas hineinzuschauen, wird doch deutlich, wie sehr sich auch im 19. Jahrhundert noch die Kontroverse um die Dogmatisierung fortsetzt und wie sehr das Dogma mit der persönlichen Frömmigkeit Piusʼ IX. verbunden ist. Vor allem aber wird, schaut man sich das allgemeine Verständnis des heute gefeierten Festes von Mariä Empfängnis an, die Spannung zwischen dem Ewigkeitsanspruch des Dogmas und seiner Zeitgebundenheit deutlich. Denn keine zwei Jahrhunderte später scheint die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens zu einem obskuren Partikel geworden zu sein. Der Blick in die deutschen, katholischen Kirchen jedenfalls zeigt: Die Frage nach der sündlosen Zeugung Mariens raubt in diesem Teil der Welt kaum noch jemandem den Schlaf und nicht wenige vermuten hinter dem Fest eher eine Meditation über die jungfräulichkeitserhaltende Zeugung Jesu. Dies liegt sicherlich daran, dass die Marienverehrung nicht mehr so stark im Fokus steht, zugleich aber auch, dass die oben skizzierte Sündenlehre ihre Plausibilität verloren hat. Außerhalb wie innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft wird der Sündenbegriff als Teil einer eher antiquierten Drohkulisse empfunden, die bisweilen noch von einem entrückten Klerus aufgerufen wird, um spezifische (jeweils selbst wieder zeitgebundene) moralische Vorstellungen über bestimmte Lebens- und Liebesweisen durchzusetzen.
Wir glauben was?!
Dieser Bedeutungslosigkeit der denkerischen Notwendigkeit einer erbsündenfreien Zeugung von Maria steht der Ewigkeitsanspruch des Dogmas gegenüber. Alle (katholischen) Christ*innen sollen für alle Zeiten unter Strafe der Exkommunikation genau glauben, dass Maria „von jedem Fehl der Erbsünde rein bewahrt blieb“. Was also damit tun? Man könnte sich wünschen, dass ein Fest wie Mariä Empfängnis zu Irritationen (‚Wir glauben was?!‘) führte. Es könnte darauf hinweisen, wie prozesshaft Glaubensausdrücke immer sind und wie sehr sie von jeweils konkreten Konstellationen von Personen, Ereignissen und Überzeugungen geprägt sind. Dies würde die Ausdrücke für Reformulierungen öffnen, für Verschiebungen ihrer Bedeutung, für Reevaluationen darüber, was das Christentum ausmacht (stellen wir uns vor, es ist Dogma, und keiner glaubt mit). Ein solcher Geist zur kritischen Betrachtung der zur Übernahme angebotenen Überzeugungen ist ein hohes Gut, vor allem, wenn er nicht nur in der Vereinzelung individualisierter Weltanschauungen verbleibt, sondern dazu führt, dass Glaubensüberzeugungen öffentlich, sachlich und mit ihren Implikationen verhandelt würden. In diesem Sinne wäre dann Maria die Mutter einer Kirche, die sich als ecclesia semper reformanda – als immerzu erneuernde Kirche verstünde. Und hierin würde sie heute vielleicht in der Erinnerung an ihre Zeugung einen Anfang machen.
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Autor: Knut V.M. Wormstädt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Grenzfragen von Theologie, Naturwissenschaften und Technik am Institut für Katholische Theologie in Aachen.