Eine ganz andere Mutter Jesu als die gnadenreiche Gottesmutter stellt uns Colm Tóibín in dem auf seinem kurzen Roman beruhenden Theaterstück „Marias Testament“ vor Augen. Hans Gerald Hödl hat das Stück gesehen.
Eine alte Frau rechnet 90 Minuten lang gnadenlos mit ihrem Leben ab. Eine Frau, der ihr Sohn entglitten ist, seit er begonnen hat, sich, von diesen „Nichtsnutzen“ umgeben, als Wanderprediger und Wundertäter herumzutreiben, der die Hoffnungen des Volkes auf ein Ende der Römerherrschaft und den Anbruch einer neuen Zeit auf sich gezogen hat.
Viel mehr müsste man nicht sagen, um klarzumachen, dass hier die frohe Botschaft, wie sie die Kirchen verkündigen, kräftig gegen den Strich gebürstet worden ist. Die Inszenierung der Hamburger Kammerspiele ist derzeit noch im Wiener Theater in der Josefstadt zu sehen. Eine fulminante schauspielerische Leistung von Nicole Heesters, die das Publikum in den Bann zieht, bis dorthin, wo die Darstellung dieser Mutter fast unerträglich wird in ihrer emotionalen Intensität.
Frohe Botschaft gegen den Strich gebürstet.
Das Setting: ein Raum, zwei Tische, eine Frau, die, ihr Leben erzählend, aufräumt, auf und ab geht, den Kopf an die Wand hält, gleich am Beginn die Lilien aus einer Vase zerrupft. Im Stück bleibt zweierlei unbesetzt: da sind zunächst „die beiden“, von denen Maria erzählt. Sie treten nicht auf, sie werden nur erwähnt: Zwei Männer, die zu ihr kommen und sie ausfragen. Allerdings interessieren sie sich nicht für das, was sie in diesem Monolog erzählt. Sie wollen ihre Version der Geschichte bestätigt haben. Nicht näher erläutert wird, wer die beiden sind: Jünger Jesu, Evangelisten? Dann ist da noch ein leerer Stuhl, auf den sich niemand setzen darf, wie man erfährt. Der ist für Josef, den Ehemann, der ja auch in den Evangelien keine tragende Rolle spielt, außer in den Kindheitsgeschichten (und da eher bei Matthäus), als Platzhalter für die davidische Abkunft Jesu. Und diese Kindheitsgeschichten kommen im Stück wie im Roman nicht vor. Die lukanische Maria, die „alles in ihrem Herzen behält“ ist ausgeblendet, wie fast alles aus den synoptischen Evangelien, bis auf den Bruch Jesu mit seiner Familie (Mk 3,20, 31-35 par). Man könnte sagen, dass die Aussage der Verwandten Jesu „er ist von Sinnen“ der Punkt ist, um den sich hier alles dreht.
Er ist von Sinnen.
Des Weiteren orientiert sich das Stück stark am Johannesevangelium, ausführlich wird die Hochzeit von Kana und die Auferweckung des Lazarus abgehandelt, allerdings gegen die Chronologie bei Johannes: die Auferweckung wird nach Kana verlegt, und findet vor der Hochzeit statt. Das gibt dem Hochzeitsfest eine ganz eigene Note: Der auferweckte Lazarus wird mehr als eine Art Zombie dargestellt, jemand, der schon imTotenreich war und in der Welt der Lebenden nicht mehr richtig ankommt. Die ängstliche, misstrauische Reaktion der Umgebung auf dieses Geschehen kehrt die Intention bei Johannes, in dem Wunder einen Machterweis Jesu zu sehen, um, schließt allerdings daran an, dass gerade auf dieses Zeichen hin der Hohe Rat beschließt, Jesus zu töten (Joh. 11, 46-50). Und eine Frage, die Johannes gar nicht stellt, wird aufgeworfen: Was ist dann eigentlich weiter mit Lazarus? Wie ergeht es jemanden, der schon vier Tage tot war und ins Leben zurückkehrt? War er schon im Totenreich? Wo war er da? Was hat er dort erlebt?
Zombie Lazarus.
Und schließlich muss der arme Lazarus jetzt ein zweites Mal sterben. Natürlich stellt sich zumindest die letzte Frage so nicht, wenn man die Geschichte vom Glauben an die Auferstehung der Toten her liest. Die Maria, die uns Tóibín zeigt, teilt aber diesen Glauben nicht: Die Auferstehung kommt nicht vor in Marias Welt, wohl aber bei den beiden Männern, die sie ausfragen. Es kann sein, dass gerade deshalb die Schilderung der Kreuzigung so intensiv ist. Sie bildet den Höhepunkt, auf den der Monolog einer Mutter, die ihren Sohn liebt, aber nicht mehr an ihn herankommt, zuläuft, einer Mutter, die zusehen muss, wie ihr Sohn sich für eine idée fixe von ihr entfernt und unausweichlich ins Verderben läuft, einer Mutter, die die Grausamkeit der Kreuzigung in aller Deutlichkeit erlebt, auch die Gleichgültigkeit und Verächtlichkeit der Umstehenden, die sich z.T. daran belustigen.
Eine Mutter, die nicht mehr an ihren Sohn herankommt.
Es wird einem eindrücklich vor Augen gestellt, wofür das Symbol des Kreuzes steht, und es ist nicht die Selbstvergewisserung einer „Leitkultur“. Anders als bei Johannes steht Maria aber nicht unter dem Kreuz, sondern sieht von der Ferne zu. Die Geschichte endet mit einer bereits vorbereiteten Flucht. Maria war demnach nicht bei der Grablegung dabei. Der Schilderung der Auferstehung durch die beiden Männer hört sie ungläubig zu, wie auch dem von ihnen geäußerten Anspruch, dass Gott der Vater Jesu gewesen sei. Im Roman heißt es an einer Stelle gegen Schluss zu, an der die beiden Maria den Sinn des Geschehens erläutern, nämlich die Errettung aller Menschen: „zum ersten Mal spürte ich die Maßlosigkeit ihres Ehrgeizes und die Unschuld ihres Glaubens“. Die ganze Zeit bleibt offen, ob die Jüngerschaft Jesu auf dieses Ende hingearbeitet hat, es erwartet hat, es gar selbst inszeniert hat. Es gibt Andeutungen in die Richtung, es wird aber nicht klar ausgesprochen: Waren die Erwartungen der Jünger von vornherein darauf gerichtet, dass dieser Mensch getötet werden und nicht im Tod bleiben würde?
Das Symbol des Kreuzes ist nicht die Selbstvergewisserung einer ‚Leitkultur‘.
Die Verschränkung mit der Auferweckung des Lazarus legt diese Lesart nahe. Doch wie jedes gute Stück Literatur ist auch dieses offen für verschiedene Auslegungen, von der „frommen“ Lesart, hier werde anschaulich geschildert, was der Mutter Jesu widerfahren ist, als einer Frau, der nicht von Anfang an klar war, worauf das hinausläuft, die dieselben Zweifel und Ängste durchlebt hat wie alle Menschen in einer solchen Situation, bis zu der Lesart, hier werde die ganze Erlösungsgeschichte weggewischt als eine reine Konstruktion der Jünger Jesu, ein sinnloses Geschehen für Maria bis zum Schluss.
Wie immer man das lesen mag, es wird einem der Mensch Maria vor Augen gestellt, vor und jenseits der Überhöhung, die der Frau in der Kirchengeschichte widerfahren ist. Das hier ist nicht die Mutter des Sohnes Gottes, die dogmengeschichtlich in Relation zur Erhöhung Jesu miterhöht worden ist. War es doch in den christologischen Streitigkeiten ein wichtiger Punkt, dass Maria als Gottesgebärerin angesehen wird. Nicht einen gewöhnlichen Menschen hat sie geboren, der späterhin besondere Nähe zu Gott an den Tag gelegt hat, von diesem als Sohn „angenommen“, nicht ein höchstes Geschöpf, nicht einen Menschen, mit dem sich das göttliche Wort erst nach der Geburt verbunden hat.
Aus dem Titel folgt alles andere, was die katholische Kirche Maria zugeschrieben hat, wie meiner Meinung nach in dem historischen Rückblick auf die Rolle Mariens in der Apostolischen Konstitution Munificentissimus Deus, die 1950 Marias leibliche Aufnahme in den Himmel dogmatisiert hat, nachzulesen ist. Das alles dekonstruiert „Marias Testament“, und so ist es nicht verwunderlich, dass das Johannesevangelium mit dem Anspruch, Jesus selbst habe sich für Gottes Sohn gehalten, dasjenige ist, das hier „gegen den Strich gebürstet wird“. Eine Maria, die nicht die Mutter aller Gnaden ist, steht vor uns, ein Blick auf einen Jesus wird geworfen, der nicht durch die Versuche der frühen Reichskirche, die Erlösung in den Kategorien der antiken Metaphysik auszudrücken, geprägt ist. Dieser Blick kann Anstoß sein, im positiven Sinn, nicht nur über Maria nachzudenken, sondern auch darüber, wer dieser Jesus war.
Text und Bild: Hans Gerald Hödl ist Außerordentlicher Professor für Religionswissenschaft an der Universität Wien.