Wo erscheint Maria eigentlich? Und wem? Und wo gehört sie hin? Von Theresia Heimerl.
Dieser Beitrag zum Marienfeiertag beginnt dort, wo ihn wohl niemand vermuten würde: In einer Politik-Sendung des österreichischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks, konkret, in einer Wortspende des ehemaligen sozialdemokratischen Bundeskanzlers Christian Kern: „Wer glaubt, dass die FPÖ die Interessen der kleinen Leute vertritt, das ist so wie eine Marienerscheinung im Rotlichtviertel.“ (Im Zentrum, 27. Mai 2018)
Darüber, wie der sonst des aktiven Katholizismus unverdächtige nunmehrige Oppositionspolitiker zu diesem Vergleich gekommen ist, kann man nur spekulieren: Eine Konversion im Jammertal des verlorenen Kanzleramtes? Eine versteckte Botschaft an fromme Katholiken und Katholikinnen? Eine spontane Eingebung durch die Gottesmutter persönlich? Oder ein Kommunikationsberater mit katholischer Vergangenheit (die in Österreich weit verbreitet ist)?
Wir werden es wohl nie erfahren.
Die Formulierung regt jedenfalls zur theologischen Reflexion an. Was der Ex-Kanzler sagen wollte, ist klar: Es sei völlig unwahrscheinlich, dass die genannte konkurrierende Partei das tue, was sie behaupte. Aber warum braucht es zur Veranschaulichung der Unwahrscheinlichkeit den Vergleich mit der Marienerscheinung? Und warum genügt nicht für einen bekennend agnostischen Politiker die Marienerscheinung? Warum noch „im Rotlichtviertel“?
Die Marienerscheinung als Metapher für das Unwahrscheinliche
In der Tat sind Glaubensvorstellungen rund um die Gottesmutter seit dem 19. Jahrhundert Beleg für einen standhaften (man könnte auch sagen: abwehrenden) Katholizismus im Angesicht der beginnenden Moderne, sozusagen Maria als Inkarnation des Mottos: Ich glaube alles, was die katholische Kirche lehrt, mag es wahr oder falsch sein. Nicht umsonst datiert die Dogmatisierung der leiblichen Aufnahme in den Himmel auf das Jahr 1950. Jesus ist immerhin (irgendwie) Gott, dem nimmt man die Auffahrt in den Himmel noch eher ab.
Aber Maria? Das ist schon ein recht gewagter Sprung in den Glauben, zumal in einer Epoche der Wissenschaftsgläubigkeit. Noch mehr in Opposition zum Trend der Säkularisierung stehen die Erscheinungen Marias in dieser Zeit, beginnend mit Lourdes 1858. Und spätestens Medjugorje gilt aufgeklärten Katholiken heute als Topos von Witzen, die dasselbe zum Ausdruck bringen wollen wie der Politiker: Die völlige Unwahrscheinlichkeit, ja die Lächerlichkeit einer Behauptung.
Wo und wem Maria erscheint: ausgebeuteten Kindern
Andererseits: Passen nicht gerade diese (anti)modernen Marienerscheinungen der letzten 150 Jahre zum Programm sozialdemokratischer Politik? Während die Gottesmutter im Mittelalter gerne lyrisch begabten aristokratischen Mönchen mit Hang zum Fundamentalismus erscheint und ihnen, wie Bernhard von Clairvaux verzückt zu berichten weiß, aus der entblößten Brust zu trinken gibt, dürfen im 19. und 20. Jahrhundert Kinder aus prekären sozialen Verhältnissen Maria sehen. Unbetreut, in der Landwirtschaft trotz Minderjährigkeit bereits ausgebeutet, nimmt sich die Madonna ihrer an, wohl wissend, dass in die Pyrenäen oder die Berge der Herzegowina keine lindernde Sozialpolitik vordringt.
Auch die Topographie der Erscheinungen hat nunmehr eine eminent entwicklungspolitische Dimension: Nicht mehr herrschaftliche Klosteranlagen, sondern periphere Orte im Nichts der modernen Landflucht, oft gar in politisch instabilen, minderdemokratischen Verhältnissen werden auserwählt. Die Gottesmutter schafft dort Arbeit und Brot im frommen Tourismus, wie am Beispiel Lourdes ersichtlich, dauerhafter als jede sozialdemokratische Maßnahme am Arbeitsmarkt.
Die Marienerscheinung als tertium comparationis für die Sorge um die „kleinen Leute“ ist womöglich also gar kein Topos der lächerlichen Unwahrscheinlichkeit, sondern eine geschickte politische Eingemeindung transzendenter weiblicher Sozialpolitik im Angesicht einer hartherzigen Männerpartei.
Maria im Rotlichtmilieu: unwahrscheinlich?
Auch ein sozialdemokratischer Ex-Kanzler ist in Österreich naturaliter katholisch sozialisiert. Soll heißen: Der kontradiktorische Zusammenhang von Religion und Sex, von weiblicher Unschuld und Sünde ist so bekannt, dass man ihn einfach als wirkmächtiges Sprachbild voraussetzen kann. Nicht die Marienerscheinung ist unwahrscheinlich, sondern ihr Ort in jenem städtischen Bereich der organisierten Prostitution, den man euphemistisch (wir sind im öffentlich-rechtlichen Abendprogramm) als Rotlichtviertel umschreibt. Auch wenn es den visionären Horizont der österreichischen Sozialdemokratie übersteigt: Theologisch betrachtet wäre das gar nicht so unwahrscheinlich.
Eigentlich wäre es sogar konsequent. Wer hätte Trost, wer Belehrung nötiger als die Sexarbeiterinnen und ihre Kunden? Was würde dort mehr wirken als die personifizierte weibliche Unschuld – so richtig, mit Strahlenkranz und allem? In Lourdes, Fatima und Medjugorje geht es längst ohne Maria, aber im Bordell, im Laufhaus, am Straßenstrich – das wäre doch der wahrscheinlichste Erscheinungsort für die mächtigste aller heiligen Frauen, wenn sie die christliche Botschaft von Buße und Erlösung, Nächstenliebe und Gericht verkünden will.
Vielleicht ist ja genau das der Fehler der 2017 abgewählten Partei des eifrigen Diskutanten: Beim politischen Gegner, Gott und dessen Mutter soll man nichts für unmöglich halten. Das gilt natürlich auch für die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel, dogmatisch festgeschrieben von Pius XII. 1950, geglaubt und geschaut in unzähligen Deckenfresken seit dem Mittelalter, gefeiert am 15. August.
Ao.Univ.-Prof. DDr. Theresia Heimerl ist Religionswissenschafterin in Graz.
Von ihr u.a. auf feinschwarz erschienen:
Muttertag: Zuckerguss, Abschied vom autonomen Subjekt und ein theologisches Gedankenexperiment
Photo: Thom Masat, unsplash