Dem von vielen Bräuchen geformten kirchlichen Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel geht Ottmar Fuchs mit einem Blick auf die Weiblichkeit Gottes nach.
1. „Krönung der Jungfrau“
Der Kirche San Simpliciano in Mailand hat Ambrogio del Bergognone (ca. 1481-1522), einer der Meister der lombardischen Schule vor Leonardo da Vinci, eine faszinierende Darstellung der Krönung der Jungfrau Maria gegeben, ein Gemälde, das die ganze Apsis ausfüllt, in dessen Zentrum übergroß die zentrale Szene, umgeben und überwölbt mit einem leichten Spitzbogen von heiligen und musizierenden Engeln. Gegenüber den drei mittleren Gestalten fallen sie allerdings sehr klein aus: in der Mitte Gott Vater, der die Hände weit ausbreitet, wodurch sein schwarzer Umhang die beiden Figuren vor ihm umfangen; sitzend Jesus, wie er die ebenfalls sitzende Maria krönt. Maria ist zwar die Empfangende, aber Jesus krönt sie nicht von oben nach unten, sondern ihre beiden Häupter sind auf gleicher Höhe, und der Gottessohn muss die Hände hochbringen, um das Haupt der Maria mit der Krone zu erreichen.
Auf Brusthöhe von Gott Vater in der Mitte zwischen den beiden Häuptern des Gottessohnes und der Gottesmutter erscheint mit ausgestreckten Flügeln die Symbolgestalt des Heiligen Geistes, die weiße Taube. Wenn man die Demutsgeste der Maria, nämlich ihre gefalteten Hände und ihren schräg nach unten gerichteten Blick sowie ihren ganz leicht geneigten Kopf übersieht, und das ist von unten und erst recht vom Kirchenschiff her leicht möglich, drängt sich vom Gesamtarrangement, von der Konstellation dieser vier Figuren unmittelbar der Eindruck auf, dass es sich hier um eine Trinität handelt, zu der Maria dazugehört.
Maria ist also eine ganz andere „Heilige“, indem sie „irgendwie“ zur Trinität selber gehört.
Die dreipersönliche Gesamtgestalt der Trinität ist ja eindrücklich mit den drei Personen Gott Vater, Gott Sohn und Gottesmutter gegeben, wobei die Taube offensichtlich alle drei, aus ihrer gemeinsamen Mitte heraus, miteinander verbindet. Dieser Eindruck wird dadurch verschärft, dass die Heiligen und auch die Engel dieser zentralen übergroßen trinitarischen Gruppe gegenüber nur ein Drittel groß gemalt sind. Maria ist also eine ganz andere „Heilige“, indem sie „irgendwie“ zur Trinität selber gehört. Bergognone gibt hier offensichtlich einer ganz bestimmten Frömmigkeit Ausdruck, nicht zuletzt auch einer in dieser Frömmigkeit zum Vorschein kommenden „Dogmatik“ des Einbezugs Marias in das trinitarische Geschehen. In diesem Bild sieht das Volk, was es selber glaubt, und erfährt in dieser Erfahrung zugleich die Vertiefung der eigenen Frömmigkeit.
2. Gestalt des Heiligen Geistes
Es ist schon merkwürdig, dass der Hl. Geist in der westlichen kirchlichen Kunst hauptsächlich im Symbol einer Taube dargestellt wurde. Sagt doch der Dreifaltigkeitsglaube, dass in Gott drei „Personen“, der Vater, der Sohn und der Hl. Geist seien. In den alten und neuen Kirchen der orthodoxen äthiopischen Kirche findet man dagegen zuhauf die Darstellung der Dreifaltigkeit in drei männlichen Personen. Die damit verbundenen strittigen theologischen Vorstellungen seien hier ausgeklammert. Das andere aber nicht: nämlich dass die Dreifaltigkeit nun völlig vermännlicht erscheint.
Die Taube aber gibt innerhalb der Dreifaltigkeit einen diesbezüglich offeneren Raum frei, so etwas wie ein personales Vakuum im Bereich des Heiligen Geistes, das offensichtlich eine ganz bestimmte Sogkraft ausübt, die tatsächlich dann zur Wirkung gelangt, wenn man die Darstellungen der Heiligen Dreifaltigkeit und die Darstellungen der Aufnahme und Krönung Marias im Himmel verknüpft.
Sie gibt den Qualitäten des Heiligen Geistes eine weibliche Gestalt.
Die Künstler haben seit Jahrhunderten in Tausenden von Darstellungen im Westen wie in den orthodoxen Kirchen dem Glauben des Volkes Ausdruck gegeben: Maria ist dem Heiligen Geist sehr nahe zu rücken, nicht nur im Geburtsgeschehen, sondern auch im Himmelsgeschehen. Sie gibt den Qualitäten des Heiligen Geistes eine weibliche Gestalt und wird derart zum Bild von Gottes Sorge und seiner Gegenwart in der Geschichte der Menschen. Damit „vertritt“ sie gewissermaßen den Heiligen Geist, oder besser die Sophia, die Weisheit Gottes.
3. Geschlechtlich offene Symbolisierung
Die dauerhafte Fixierung in der Rede von den drei göttlichen Personen auf das Männliche blendet den Tatbestand der Übergeschlechtlichkeit Gottes aus dem Bewusstsein aus. Die Übergeschlechtlichkeit Gottes wie von daher die Möglichkeit, Gott in männlichen wie in weiblichen und queerigen Bildern zu benennen, bezieht sich selbstverständlich auch auf die zweite göttliche Person, die zwar im Mann Jesus Mensch geworden ist, die aber sowohl in Gott selbst wie auch in ihren innergeschichtlichen Seinsweisen für alle geschlechtliche Bebilderungen offen ist. Die jeweilige Offenheit bezieht sich auf die Möglichkeit, in unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten so oder so konkret werden zu dürfen, wie sich die Menschwerdung der zweiten göttlichen Person in Jesus wohl auf Grund des jüdischen Kontextes so und nicht anders ereignet hat.
So ist die zweite göttliche Person nach Mt 25, 35ff. selbstverständlich nicht nur gegenwärtig in den männlichen Kranken, Nackten, Obdachlosen, Fremden, Unterdrückten und kaputten Menschen, sondern genauso auch in den weiblichen. So ist die zweite göttliche Person in all denen vorhanden, die sich mit den Leidenden solidarisieren, darin etwas und am Ende sich riskieren und derart Jesus nachfolgen, natürlich nicht nur in den entsprechenden Männern, sondern auch Frauen. Auch wenn diese Bemerkungen banal klingen, sind sie es doch nicht, wenn man die Diskussion um die Frauenordination in der katholischen Kirche in Erinnerung ruft.
4. Mütterliche Macht im Himmel
In Maria erfuhren und erfahren viele Menschen die Nähe einer mütterlichen Macht im Himmel, weil mit ihr in den Himmel aufgenommen wurde, was sie irdisch war. Sie ist ebenerdig nahe, als Mutter, die sich um ihren Sohn sorgt, als sie ihn tagelang mit Joseph sucht und schließlich im Tempel findet (vgl. Lk 2, 48). Sie ist die Frau, die sich hilfsbereit und mitfühlend um die kleinen Dinge sorgt, sogar um die Verschwendung des Wunders für die Verschwendung, als bei der Hochzeit in Kana der Wein ausgeht (vgl. Joh 2, 3).
Wie viele Eltern muss sie es in einer besonders drastischen Weise lernen, ihr Kind herzugeben und einen Weg gehen zu lassen, der sie Verlust und Schmerz erleben lässt (vgl. Lk 2, 35 und Jo 19, 26-27). Die Pietá ist eine der häufigsten Mariendarstellungen. Sie ist schließlich eine Frau, die gegen alle Unmöglichkeit des Lebens Glauben und Hoffnung aufbringt, wie dies am schärfsten darin zum Vorschein kommt, dass sie Gott die Unmöglichkeit zutraut, in ihrem Leben derart wirksam zu werden (vgl. Lk 2, 27-38). Die „alte“ Verbindung von Maria und dem Heiligen Geist, wie sie die Menschwerdung ermöglichte, lebt in neuen Formen weiter. So erzählt eine Studentin vom Gebet ihrer Großmutter: „Komm, Heiliger Geist, komm durch die mächtige Fürsprache deiner Braut, der Jungfrau Maria.“
Als die Mutter der Bedrängten erlebt.
In ganzen Erdteilen hätte der christliche Glaube kaum Fuß fassen können und hätte auch kaum überlebt, hätte es nicht die Heiligen-, insbesondere die Marienverehrung gegeben. Vor allem auch deswegen, weil sie, nicht zuletzt mit dem Bezug auf ihr großes Magnifikatgebet (vgl. Lk 1, 46-55), als die Mutter der Bedrängten erlebt wurde, die ihnen ihre Würde gibt und von einem Gott spricht, der die Armen erhöht und die Mächtigen erniedrigt.
Die Geschichte des großen Wallfahrtsortes „unserer lieben Frau von Guadalupe“ in Mexiko zeigt diesen Zusammenhang sehr deutlich: Indem sie im Dezember 1531 einem Indio erscheint und diesen mit einer Botschaft für den Bischof ausstattet, wird sie als Beistand auf der Seite des Volkes erlebt, so sehr, dass sich das Gnadenbild in dem Umhang des Juan Diego einprägt. Maria wird zum spirituellen Erlebnisraum, wo die Menschen sich voraussetzungslos und unbedingt angenommen erfahren und wo sie die Kraft bekommen, eine solche Anerkennung auch zwischenmenschlich zu beanspruchen und zu geben.
5. Marianische „Therapie“ der Gottesverhältnisse
Je mehr die offizielle kirchliche Verkündigung Gott als Gesetzgeber, als strengen Vater, und Christus als Richter bzw. Sieger vermittelt, desto weniger hilfreich ist er für das alltägliche Leben mit seinen wenigen Siegen, mit seinen Mühen, Ängsten und Sorgen. Mit Maria haben die Gläubigen eine Macht im Himmel, der man alles sagen und klagen kann, ohne Angst zu haben, als unbotmäßig weggeschickt oder als hadernd bestraft zu werden.
Wo den männlichen Figuren Gottes nicht mehr zugetraut wird, dass sie sich mit Kleinigkeiten des Lebens abgeben, beansprucht das Volk die nahe Erfahrung des Geistes Gottes über die Marienbeziehung. Die Beziehung zum Hauptaltar reicht nicht für das alltägliche Leben; so geht man zum Seitenaltar der Maria und lebt dort viel vitaler als anderswo mit Kerzen und Gebeten, was Dietrich Bonhoeffer als „von guten Mächten wunderbar geborgen“ erhofft. Dafür steht die beeindruckende Darstellung der Schutzmantel-Madonna. So spiegelt sich in Marias Umgang mit den Menschen die mütterliche Seite Gottes, ihr Mitgefühl und ihr Mitschmerz.
Der weibliche Anteil der Menschwerdung.
In Maria spiegelt sich für viele auch, was Christus selbst für die Menschen ist und was sie ohne Maria nicht erleben könnten. In Maria erleben sie den mütterlichen bzw. weiblichen Anteil der Menschwerdung. Wo immer Christus selbst als Mitfühlender erlebt wird, wo er die mit den Menschen solidarische Anklage Gottes anführt, wo Gott selbst all die Anteile der Barmherzigkeit, der restlosen Gnade aufnimmt, ist die Marienverehrung von der angedeuteten Therapierung und Heilung der Gottesbeziehung entlastet. Ein wenig naiv formuliert: Maria riskiert gerne ihre diesbezügliche Überflüssigkeit, wenn die Gottesbeziehung „stimmt“.
In diesem Zusammenhang darf auch gesagt werden, dass die Marienbeziehung nicht in die Magie des Wenn-Dann abglitt, sondern eine starke Beziehung insofern war und ist, als sie auch Nichterfüllungen der Gebete ausgehalten und durchgetragen hat. Vielmehr wird Maria auch dann noch als helfend und beistehend erfahren, wenn sich nichts verändert.
6. Die letzte Zuflucht
Maria, die vom Schwert des Schmerzes durchbohrt ist, ist der Ort der Annahme von Leben und Schmerz, Ort der Ohnmacht, Ort aber auch der Verzweiflungschreie und auch der Hoffnung „gegen“ Gott: Tatsächlich begegnen in der katholischen Seelsorge Menschen, die aufgrund schlimmster Erfahrungen von Gott maßlos enttäuscht sind und mit Gott keinen Gebetskontakt mehr pflegen können, aber noch zu Maria beten. Denn sie ist nicht schuld, sie ist es nicht, die in den Staub des Todes legt, wie Gott es nach Ps 22,16 tut. Sie wird auf der Seite der Menschen erlebt, sie ist selbst „Opfer“ dieses Gottes, der so mit Menschen und ihrem Sohn umgeht. Sie steht ganz auf der Seite der Welt, und sie tut dies, mit dem Beistand des Heiligen Geistes, der weht wo er will, im Bereich des Himmels, ja in der Dreifaltigkeit selbst.
In dieser Machtnische hat die Marienbeziehung etwas Chaotisches, Anarchisches, mit ihr lassen sich Menschen nicht auf regulierende Einteilungen und Grenzen festlegen. Das macht Maria so unkontrollierbar wie ihr eindruckvollstes Gebet, das Magnifikat, selbst.
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Autor: Ottmar Fuchs war Professor für Praktische Theologie in Bamberg und Tübingen.
Literatur:
Alexandra Bauer, Angelika Ernst-Zwosta (Hg.), „Gott bin ich und nicht Mann“. Perspektiven weiblicher Gottesbilder, Ostfildern 2012.
Ottmar Fuchs, Der zerrissene Gott. Das trinitarische Gottesbild in den Brüchen der Welt, Ostfildern 2. Auflage 2014.