Zugegeben: Das Markusevangelium ist nicht weihnachtstauglich. Die katholische Kirche muss sogar im Lesejahr B, dem „Markusjahr“, rund um Weihnachten meist auf andere Evangelien ausweichen. Doch in Zeiten der Krise hat das Markusevangelium den anderen Evangelien einiges voraus. Markus: eine Frohbotschaft in Krisenzeiten. Von Elisabeth Birnbaum
Aus der Krise für die Krise
Das Markusevangelium ist nach heutigem Wissensstand um oder kurz nach 70 n. Chr. entstanden, also in einer Zeit, wo der zweite Tempel zerstört war und in der Krise. Gerade in solchen Zeiten gibt es üblicherweise zwei Wege, damit umzugehen. Verzweiflung oder neue Selbstvergewisserung. Der Verfasser des Markusevangeliums wählt den zweiten Weg und schafft etwas Neues. Nach allgemeiner Ansicht ist das Markusevangelium das erste und älteste seiner Gattung. Er schreibt also die erste Zusammenschau des „Christus-Ereignisses“, die erste Vita Jesu und schafft damit den Prototyp des biblischen Evangelium-Genres. Die anderen Evangelisten werden das weiter entfalten, ausschmücken und vertiefen. Aber Markus ist der, der aus der Krise heraus ein neues Konzept erschafft und damit den Grundstein legt.
Aufs Wesentliche beschränkt
Das Markusevangelium erzählt uns keine Kindheitsgeschichte Jesu, nichts von Krippe, nichts von Stall, keine Hirten und keine Engel, kein Stern und keine Sterndeuter erfreuen das Herz, und erst recht kein kosmischer Logos-Prolog wie bei Johannes richtet den Blick in die urdenkliche Vorzeit.
Markus stattdessen geht gleich in medias res. Er versucht nicht wie die anderen, in einem längeren „Vorspann“ zu verraten, was und wer dieser Jesus ist. Er beginnt dort, wo das Licht der Öffentlichkeit zum ersten Mal auf Jesus fällt: bei seiner Taufe. Markus macht nicht viele Worte. Er ist ein Meister der effizienten Formulierung. Für seine Frohbotschaft benötigt er nur 16 kurze Kapitel. Für Menschen, die rasch wissen möchten, woran sie sich halten sollen, ideal.
Auch der markinische Jesus selbst beschränkt sich nur auf das Nötigste. Statt Worten lässt er lieber Taten sprechen. Nur selten hält er längere Reden und auch dort entfaltet er nicht alles bis ins Letzte. Der Verzicht auf überflüssige Worte und der Blick auf das Wesentliche – eine Wohltat in Zeiten der Krise.
Nüchtern und sachlich
Das Markusevangelium beschreibt die Geschehnisse nüchtern, ja pragmatisch. Es verzichtet auf Idealisierungen und charakterisiert die Menschen um Jesus realistisch. Die Jünger um Jesus etwa sind alles andere als vorbildlich. Jesu Botschaft bleibt ihnen großteils fremd. Sie verstehen wenig und lernen auch nicht viel dazu. Sie haben Mühe ihm zu glauben und interessieren sich mehr für Rangstreitigkeiten oder ihre täglichen Bedürfnisse als für das Königreich Gottes. Auch andere Menschen, die mit Jesus in Berührung kommen, sind keineswegs durchwegs begeistert, sondern reagieren immer wieder ablehnend, ängstlich oder feindselig. Markus gibt sich und uns nicht irgendwelchen Illusionen hin.
Umgekehrt verzichtet er aber auch auf Verteufelungen. Judas liefert Jesus aus nicht genannten Motiven aus und ist nicht einfach vom Teufel besessen wie bei Lukas oder Johannes. Und der markinische Jesus spart weitgehend mit Polemik gegen seine Feinde. Es gibt keine ausführlichen „Wehe-Rufe“ wie bei Matthäus und keine Bezichtigungen „den Teufel zum Vater zu haben“ wie bei Johannes. Das Markusevangelium wertet erfrischend wenig und bleibt unaufgeregt und sachlich. Und das tut in Krisenzeiten gut.
Freiräume eröffnend
Markus verzichtet auch auf weiterführende Ausdeutungen. Da gibt es kein Überinterpretieren und kein Psychologisieren. Es verweigert weitgehend Einblicke in das Innenleben der handelnden Personen. Warum sich Jesus taufen lässt, was er zum Teufel sagt, der ihn in Versuchung führt, wie er die Verurteilung des Johannes oder seine eigene Auslieferung durch Judas aufnimmt – wir erfahren es nicht. Damit schafft das Evangelium Leerstellen, ja, Spielräume, die von den Lesenden und Hörenden gefüllt werden können. Sie erhalten Raum sich mit einzubringen und dürfen und müssen sich selbst eine Meinung zum Geschehen bilden.
Ein Beispiel: Der markinische Jesus ruft am Kreuz nicht „Es ist vollbracht“ oder „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ sondern „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“. Und gerade dieser Satz, der ja der Beginn von Ps 22 ist, kann unterschiedlich verstanden werden. Als Aufschrei eines Gefolterten in der Verzweiflung, oder aber als pars pro toto der Botschaft des gesamten Psalms 22. Und der führt zwar in die Tiefen der Verzweiflung, endet aber nicht dort, sondern wandelt sich zur festen Zuversicht auf Gott.
Seine Heilstat verkündet man einem Volk, das noch geboren wird: Ja, er hat es getan.
Ps 22,32
Markus lässt offen, ob Jesus nur an den ersten Vers oder an den ganzen Psalm gedacht hat. Es bleibt den Lesenden überlassen, ob sie in Jesu letzten Worten Verzweiflung oder Zuversicht hören möchten. Sie sind gefordert Stellung zu beziehen.
Aufruf zum Handeln
Das Markusevangelium ist in gewisser Weise unfertig. Zwar haben spätere Autoren aus den anderen Evangelien einen Abschluss zusammengestückelt, aber das ursprüngliche Markus-Evangelium endet in Mk 16,8 ohne weitere Erscheinungen des Auferstandenen und ohne Himmelfahrt. Es endet ebenso abrupt, wie es beginnt. Die Frauen hören von Jesu Auferstehung, ziehen sich aber furchtsam zurück. Das Ende ist offen und fordert die Lesenden zur Entscheidung. Wenn sie nicht möchten, dass die Botschaft Jesu ängstlich zurückgehalten wird, müssen sie selbst etwas tun. Sie haben die Wahl, sich ebenso wie die Frauen mit ihren Zweifeln und Ängsten einzuschließen, oder mutig hinauszugehen und ins Ungewisse hinein zu handeln.
Und genau dieses Handeln trotz Ungewissheit, im Bewusstsein, dass es auf jede/n Einzelnen ankommt, ist in Krisenzeiten gefragt. Sei es die Krise nach der Zerstörung des zweiten Tempels oder die Krise einer weltweiten Pandemie.
Mut in der Krise
Der Evangelist Markus wagt es, die Geschichte eines größtenteils unbekannten, am Kreuz wie ein Verbrecher gestorbenen, in den Augen der Welt gescheiterten Juden aus Galiläa als Frohbotschaft eines alternativen Weltherrschers zu verkünden. Er tut dies mitten in einer Krise, er schafft Neues, unaufgeregt, und nüchtern, beschränkt sich auf das Wesentliche und ruft zur Positionierung und zu eigenverantwortetem Handeln auf. Das Markusevangelium ist eine Frohbotschaft aus der Krise für die Krise. Das mag nicht weihnachtstauglich sein. Krisentauglich ist es allemal.
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Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks und seit Juni 2018 Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net
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