Am 20.1. wird der Martin-Luther-King-Tag begangen im Gedenken an seinen Geburtstag (15.1.1929). Anke Edelbrock mit einer Rezension zum Buch von Michael Haspel, in dem aufgezeigt wird, wie sehr Kings Kampf für politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit in seiner religiösen und spirituellen Haltung gründeten.
Michael Haspel – Experte für Martin Luther King (MLK)
Dr. Michael Haspel ist (apl.) Prof. an der Universität Erfurt und Fachverantwortlicher für Systematische Theologie am dortigen Martin-Luther-Institut. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Bürgerrechtler und Baptistenpfarrer Martin Luther King findet man in seinen Veröffentlichungen seit dem Jahr 1997. In seiner Dissertation vergleicht er die evangelischen Kirchen in der DDR mit den schwarzen Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Erste persönliche Erfahrungen mit der Spiritualität und der Kultur der Schwarzen Kirche in Boston und Detroit sammelte Haspel bereits in den 1990er Jahren während seines Auslandsstudiums an der Harvard Divinity School in Cambridge, MA, USA, wo er den Master of Theology erwarb. Die inspirierenden Begegnungen, die er zu jener Zeit machen konnte, führt Haspel in der Einleitung seines Buches aus (vgl. S. 11f). Dort verrät Haspel auch, dass seine Tochter, der er sein Buch widmet, mit einem King-Kinderbuch aufgewachsen ist (vgl. S. 12).
Seine Vita zeigt, er hat den Kontakt zur USA gehalten. Dreimal (2002, 2004 und 2017) nimmt er längere Forschungs- und Vortragsaufenthalte in den USA wahr. Haspels umfangreiche wissenschaftliche Auseinandersetzung wird bei einem Blick in das Literaturverzeichnis des Buches deutlich. Siebzehn Veröffentlichungen, die beiden letzten von 2024, in denen der MLK-Thematik in weiten inhaltlichen Kreisen nachgegangen wird, sind hier zu finden. Aus diesem umfangreichen Schatz schöpft das vorliegende Buch.
Haspel legt dar, wie sich bei MLK religiöser Glaube, theologische Überzeugungen und politische Strategien gegenseitig beeinflussen und durchdringen.
Allgemein verständlich und spannend zu lesen
Bei dieser umfangreichen Expertise könnte man vermuten, das vorliegende Buch umfasse viele, viele Hunderte von Seiten und erstrecke sich in umfangreichen und ggf. langatmigen Ausführungen. Das ist überhaupt nicht der Fall! Haspel ist es gelungen, auf 218 Seiten Kings spirituelle und theologische Orientierung im Zusammenhang mit wichtigen Stationen der Bürgerrechtbewegung darzulegen. In allgemein verständlicher Sprache wird man in das Geschehen von 1954 bis 1968 hineingenommen. Vierzehn Kalenderjahre, in denen MLK öffentlich aktiv war, vorgestellt in vierzehn Kapiteln. Haspel legt in ihnen dar, wie sich bei MLK religiöser Glaube, theologische Überzeugungen und politische Strategien gegenseitig beeinflussen und durchdringen. Die theologischen Ausführungen hat Haspel in drei Kapiteln (Kap 3, 6 und 10) gekonnt gebündelt. An inhaltlich stimmigen Stellen fügt er sie in seine zeitgeschichtlichen Beschreibungen der bürgerrechtlichen Vorgänge ein, immer verwoben mit den dafür relevanten politisch-öffentlichen Entwicklungen und auch historischen Fakten. Das macht das Ganze zu einer spannenden Lektüre. Beispielsweise der Hinweis, dass der Busboykott in Montgomery am ehemaligen Sklavenmarkt begann (vgl. S. 22). Als Rosa Parks dort am 1.12.1954 einstieg, hatte sie die Geschichte vor Augen. Während der Busfahrt weigerte sie sich dann, ihren Sitzplatz für einen Weißen zu räumen und löste damit den Busboykott aus.
Haspel reflektiert die Ereignisse vom heutigen Standpunkt, was beispielsweise seine kritische Sicht auf die Stellung der Frau innerhalb der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zeigt. Als „beschämend“ kategorisiert er, „wie die Frauen, die oft an vorderster Linie im Kampf für die Freiheit standen, in der Führung und öffentlichen Sichtbarkeit zurückstecken mussten“ (S. 145). Sehr deutlich resümiert Haspel, dass „die Kategorie Gender und die besondere Unterdrückungserfahrung von Schwarzen Frauen, die neben Rassismus auch von Sexismus betroffen waren, […] nicht angemessen wahrgenommen und der Freiheitskampf dadurch inhaltlich verkürzt wurde“ (S. 68f).
Tiefe und bisher eher unbekannte Einblicke in die Bürgerrechtsbewegung
Neben vielen MLK-Biographien hat Haspel hat auch David J. Garrow gelesen, der besonders die Kenntnisse und Einmischungen des FBI in Kings Arbeit und Leben aufgearbeitet hat. In Deutschland nur wenig bekannt, sind „Kings Tragödien: Affären, Alkohol und Depression“ (S. 192-196). Das FBI hat King und viele andere Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung abgehört und kompromittierendes Material, u.a. von Kings „zahlreichen außerehelichen Affären“ (S. 193), gesammelt. Ein „ungerechtfertigtes Vorgehen des FBI“ (S. 196), aufgrund dessen sich King in seiner ganzen Existenz bedroht fühlte. Er wusste, es sollte dazu dienen, seinen Willen zu brechen (vgl. S. 195).
King hat kein verkürztes individualistisches Verständnis von Heil und Nächstenliebe, sondern sieht auf die ganze Menschheit.
Interessant zu erfahren ist ferner, dass die Mehrheit der Schwarzen für eine lange Zeit mehrheitlich die Republikanische Partei wählte. In den 1960er Jahren kam es zu einem Wechsel, als die Demokraten ausdrücklich die Rechte der Schwarzen in ihrem Programm aufnahmen. Die Republikaner versuchten dann unter Nixon „durch codierten Rassismus rassistische und rechtsextreme Wähler“ (S. 84) für sich zu gewinnen. Eine Entwicklung, die leider bis heute anhält, und von der Trump profitiert hat (vgl. ebd).
Theologische Tiefe
Es wird nicht überraschen, dass Haspel in seinem Buch auf 36 theologische Schriften von MLK zurückgreift (vgl. im Literaturverzeichnis S. 239-241), anhand derer er eine klare inhaltliche Tiefe herauszuarbeiten vermag. Schwarze Kirchen bildeten den Kern der Bürgerrechtsbewegung. Aufgrund seines theologischen Standpunktes konnte King dieses „organisatorisches Rückgrat“ (S. 127) für den Kampf für Gerechtigkeit und gegen Rassismus stärken und gewinnen: King begründet biblisch. Mit den biblischen Schöpfungsgeschichten versteht King alle Menschen als Kinder Gottes und deshalb haben alle Menschen Würde und Rechte. Ferner malt King mit Rückgriff auf die biblische Prophetie zukünftige Utopien: „Alle Kinder Gottes, Schwarze und Weiße, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken, [werden] in der Lage sein, sich die Hände zu reichen“ (S. 147, aus Kings „I have a dream“-Rede). King hat somit kein verkürztes individualistisches Verständnis von Heil und Nächstenliebe, sondern sieht auf die ganze Menschheit. Es geht um soziale Gerechtigkeit für alle, und die wird von christlicher Nächstenliebe angetrieben (vgl. S. 126). Nächstenliebe, biblisch Agape, darf nicht als ein Gefühl der Zuneigung verstanden werden. Es ist „die Einsicht und die daraus erwachsende Haltung, dass alle Menschen Ebenbilder, bzw. Kinder Gottes sind und ihnen deshalb Würde zukommt“ (S. 38). Eine Haltung, die auch Gegnerinnen und Gegnern der Bürgerbewegung als Kinder Gottes wahrnimmt, und in der der Grundsatz des gewaltfreien Widerstandes begründet ist.
Zusammenfassend formuliert Haspel: „Die Unterdrückung der Schwarzen ist eine Ungerechtigkeit. Christliche Liebe zielt auf Gerechtigkeit. Die Agape hat verändernde Kraft durch gewaltfreies Handeln. Agape und Gerechtigkeit sind untrennbar aufeinander bezogen.“ (S. 156)
Aktuelle Relevanz
Im letzten Kapitel legt Haspel inspirierend Kings bleibende Bedeutung als „kreativer Theologie und authentische Stimme des Protestes“ (S. 222) dar. Glaube als eine Haltung der Liebe, die sich im Kampf für Gerechtigkeit und gegen Rassismus bewährt. Dieser spirituellen und religiösen Haltung bedarf es auch heute.
Mir hat das Lesen des Buches großes Vergnügen und Wissenszugewinn bereitet. Allen, die sich für MLK, seine Zeit und seine Theologie interessieren, kann ich es zur Lektüre sehr empfehlen.
—
Buch: Michael Haspel, „Wer nicht liebt, steht vor dem Nichts!“ Martin Luther Kings Spiritualität als Grundlage seines Kampfes gegen Rassismus und Ungerechtigkeit, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 2024.
Dr. Anke Edelbrock ist evangelische Theologin und Pfarrerin. Sie arbeitet als akademische Oberrätin im Ökumenischen Institut der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd
Beitragsbild: Buchcover
Zum Reinhören und Weiterlesen:
– Glauben, Freiheit, Bürgerrechte – Was können wir von Martin Luther King lernen?, Podcast NDR Info, 8.12.2024: https://www.ndr.de/nachrichten/info/Glauben-Freiheit-Buergerrechte-Was-koennen-wir-von-Martin-Luther-King-lernen,audio1769572.html
– „I have a dream“ – Martin Luther Kings Nobelpreis-Rede vor 60 Jahren, uni-erfurt.de, 10.12.2024: https://www.uni-erfurt.de/forschung/aktuelles/forschungsblog-wortmelder/i-have-a-dream-martin-luther-kings-nobelpreis-rede-vor-60-jahren#jump
– Theologe Michael Haspel: Martin Luther King in West- und Ostberlin (12.09.2024)
https://www.deutschlandfunk.de/berlin-besuch-1964-martin-luther-king-spricht-in-der-waldbuehne-dlf-e74d593d-100.html