Normalerweise geht man davon aus, dass römische Theologen eine antirelativistische Naturrechtstheologie vertreten. Daniel Saudek zeigt, dass es in Rom (bzw. Wien) überraschend neoliberale Ansätze gibt, die auch von dieser Position aus kritikwürdig erscheinen.
Martin Rhonheimer, Professor für Ethik und politische Philosophie an der vom Opus Dei geleiteten Päpstlichen Universität Santa Croce (PUSC) und Mitbegründer des „Lord Acton Kreises“, publiziert derzeit routinemäßig Artikel gegen die Soziallehre der Kirche. Die Botschaft ist dabei stets die gleiche: Freier Markt und Unternehmertum allein, ohne Forderungen sozialer Gerechtigkeit und ohne staatliche Einmischung, wären der beste Weg zum Wohlstand (so zuletzt auch in der „Tagespost“ vom 28. Februar dieses Jahres), doch die Kirche würde dies nicht anerkennen. Aber welches Ziel und welche gesellschaftliche Vision treiben Rhonheimer an? Zwei Zitate aus seinen Schriften geben hierüber besonders deutlich Aufschluss:
„Wenn sie über gerechte Löhne, besonders den Familienlohn, lehren, ignorieren nicht nur PT [Pacem in Terris] sondern auch ein großer Teil der Katholischen Soziallehre die Tradition der Spätscholastiker, besonders die Schule von Salamanca. So schrieb Luis de Molina … dass der Lohn, den der Arbeitgeber aufgrund der Gerechtigkeit zu zahlen verpflichtet ist, genau der Entgelt für des Arbeiters „Dienste unter Berücksichtigung aller dazugehörigen Umstände, nicht was für seinen Lebensunterhalt und noch viel weniger für den Unterhalt seiner Kinder und seiner Familie ausreichend“ sei. Der Entgelt für jemandes Dienste ist genau der Marktlohn, der durch den Wert der Dienste des Arbeitnehmers, nicht durch seine Bedürfnisse bestimmt ist … Meiner Ansicht nach ist die Idee eines „Familienlohns“ als einer Verpflichtung der Gerechtigkeit gegenüber Arbeitnehmern, wie sie häufig in der modernen Soziallehre der Kirche wiederholt wird, ein dieser Lehre fremdes Element.“ (2013, S. 128; kursiv im Original).
An anderer Stelle (2012, S. 16) schreibt Rhonheimer:
„Es scheint mir schwierig zu sein, vernünftigerweise anzunehmen, dass weniger gut situierte Menschen und jene in echter Not im eigentlichen Sinne ein Recht darauf haben, dass Marktprozesse durch Umverteilungsmaßnahmen korrigiert werden … Ich denke vielmehr, dass die Korrektur der Folgen des Marktes durch Umverteilung in einer Verpflichtung – einer moralischen Verpflichtung – der Solidarität von Seiten der Wohlhabenderen zu Gunsten derer in Not begründet werden muss.“
Die Botschaft ist klar: der Mensch hat kein Recht darauf, von seiner Arbeit zu leben, und Menschen in Not haben kein Recht auf das Lebensnotwendige. Damit negiert Rhonheimer das Recht auf Leben, und mit ihm die Grundlage des Naturrechts.
Widerspruch zur sozialethischen Tradition von der Bibel bis zur aktuellen katholischen Soziallehre
Dem widerspricht die gesamte sozialethische Tradition von der Bibel über die Kirchenväter bis zur aktuellen katholischen Soziallehre: Jesus Sirach bezeichnet es als Mord, dem Arbeiter den Lebensunterhalt vorzuenthalten (34,26-28). Gregor der Große lehrt, dass das Lebensnotwendige den Armen gehört, nicht etwa denen, die es ihnen geben bzw. vorenthalten können (Regula pastoralis, III.21). Thomas von Aquin weiß, dass das Naturrecht über menschlich verfassten Eigentumsrechten steht, weswegen Menschen in extremer Not „stehlen“ dürfen – wobei eine solche Handlung nicht im eigentlichen Sinne Diebstahl ist (Summa theologiae, IIa-IIae q. 66 a. 7). Die Soziallehre der Kirche von Rerum Novarum bis Laudato Sí anerkennt durchgängig das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf einen Familienlohn und auf gewerkschaftliche Vertretung, ebenso wie die Verantwortung des Staates, distributive Gerechtigkeit auszuüben. Nicht umsonst weist Josef Pieper auf die nominalistischen Wurzeln der vom Wirtschaftsliberalismus propagierten „Sozialethik“ (Pieper selbst setzt diese, völlig zu Recht, unter Anführungszeichen) hin, die das Prinzip suum cuique, und mit ihm die staatliche distributive Gerechtigkeit, ablehnt (1954, S. 17-20).
So verwundert es nicht, dass Rhonheimer sich derart deutlich gegen die Soziallehre der Kirche ausspricht: er bejaht, dass es „gar nicht Aufgabe der Kirche“ wäre „eine Soziallehre aufzustellen“ (2017a); der sie charakterisierende „Antikapitalismus“ wäre „antisemitisch motiviert“ (2017b); die Enzyklika Pacem in terris wäre von einem „gewissen Mangel an Respekt für die Logik des Marktes“ charakterisiert (2013, S. 127); Papst Franziskus’ Soziallehre, so Rhonheimer, „verschlimmert“ die Situation der Armen (2017a); auch den Klimaschutz lehnt Rhonheimer als Teil einer „hochgradig ideologischen Agenda“ ab (2013, S. 130).
Neoliberale Ideologie
All dies sind grobe und völlig aus der Luft gegriffene Unterstellungen, die im Widerspruch zur gesellschaftlichen Verantwortung eines Priesters stehen. Wirtschaftswissenschaftlich sind sie unhaltbar, denn eine „Wirtschaft“ ohne Respekt für das Recht auf Leben, für die Familie und für die Schöpfung sägt den Ast, auf dem sie sitzt, ab. Sie zerstört die Spieler auf dem Spielfeld des Marktes ebenso wie das Feld selbst. Auf diese Weise wird sie zur „privaten Planwirtschaft“ (Ulrike Herrmann) einer privilegierten Minderheit, welche die gesunde Konkurrenz und die unternehmerische Eigeninitiative der arbeitenden Bevölkerung unterbinden kann, indem sie ihr die Lebensgrundlage raubt. Die aktuelle massive Ungleichheit nutzt der Wirtschaft keineswegs, sondern schadet ihr, wie eine Untersuchung der OECD (2014) zeigt. Die von Rhonheimer vertretene neoliberale Ideologie jedoch sieht über solche empirischen Befunde großzügig hinweg.
Benedikt XVI. lehrte, besonders deutlich in seiner Bundestagsrede im Jahr 2011, dass Natur und Vernunft Vorrang vor menschlich konstruierten Zweitrealitäten haben, und daher für die Frage nach der Gerechtigkeit maßgeblich sind. Papst Franziskus ruft, in tiefer Übereinstimmung damit, zu einer menschenwürdigen und die Schöpfung respektierenden Wirtschafts- und Lebensweise auf. Rhonheimers „Sozialethik“ jedoch pervertiert diese Ordnung, indem sie ein uneingeschränktes „Privateigentum“ und einen vermeintlich „freien“ Markt über das Naturrecht stellt. Damit ist sie an der Wurzel relativistisch und inhuman, und zudem wirtschaftswissenschaftlich blauäugig. Vor allem aber ist sie eines nicht: katholisch.
Daniel Saudek ist Gymasiallehrer und Lehrbeauftragter an mehreren Hochschulen.
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Literatur:
OECD, ‘Focus on inequality and growth’ (2014). Online unter: http://www.oecd.org/els/soc/Focus-Inequality-and-Growth-2014.pdf
Pieper, J. Vom Sinn der Tapferkeit, München: Kösel (1954).
Rhonheimer, M. ‘Capitalism, free market economy, and the common good’, In M. Schlag, J. A. Mercado (Hg.) Free Markets and the Culture of Common Good, Springer (2012), S. 3-40.
— ‘John XXIII’s Pacem in Terris: the first human rights encyclical’, In V. Alberti (Hg.) Il Concetto di Pace: Attualità della Pacem in Terris nel 50° Anniversario, LEV (2013), S. 103-136.
— ‘Barmherzigkeit schafft keinen Wohlstand‘, Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.2.2017). Oben zitiert als 2017a. Online unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/martin-rhonheimer-ist-priester-und-neoliberal-14873611.html
— ‘Christliche Sozialethik und Kapitalismus: Ein Widerspruch? (Vortrag bei den Millstätter Wirtschaftsgesprächen 2017)‘. Oben zitiert als 2017b. Online unter: http://austrian-institute.org/christliche-sozialethik-und-kapitalismus/
— ‘Ungleichheit als Motor des Fortschritts‘, Die Tagespost (28.2.2018).