Annette Edenhofer fragt nach den Grundkompetenzen für eine kritikfähige und inklusive Kirche und erklärt diese am Ort „(Hoch-)Schule“.
Kompetenz heißt wörtlich: Zusammentreffen von Fähigkeiten – für den Wettstreit ums gemeinsame Gute, nicht um Höherwertigkeit und Siegerspiele. Es geht ums engagierte Mitschöpfen und um Konfliktfähigkeit. In der Krise braucht es nicht weniger, sondern mehr Liebe! Nächstenliebe bedeutet im Stress immer auch Feindesliebe, das ist die Logik der Bergpredigt. Erst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs haben es die Religionen geschafft, ihre Friedenstraditionen wiederzuentdecken. Vorher wurden Waffen gesegnet.
Mit der Option für eine stressfeste Liebesfähigkeit fordert der Papst in Laudato Si den Machtgebrauch Jesu ein: Wer von Euch der Größte sein will, sei der Diener aller! (vgl. Mk 10,43, vgl. LS 16) Wo Gewalt herrscht, kann Friedfertigkeit soziale Tode fordern, sogar das Körperleben kosten.1 Der tschechische Bürgerrechtler Vaclav Havel sah im Gottesglauben, den er nicht teilen konnte, eine Quelle für Ausdauer im gewaltfreien Widerstand gegen Eskalation oder Resignation. Ausdauer in gewaltfreier Konfrontation aber zeitigt erstaunliche Erfolge pro Demokratisierung, belegt die Friedensforschung.2 Natürlich gibt es auch immer Rückfälle!
Eine Schule der Feindesliebe.
Schule ist kein „Beiboot“3, sondern in der postsäkularen Gesellschaft der Dialog-Promotor für Spiritualität, kommentiert der Schulexperte Tobias Zimmermann SJ die vatikanische Bildungsinstruktion „The Identity of the Catholic School for a Culture of Dialogue“ im Geist von Laudato Si (Januar 2022). Zur Botschaft: Mobbing kann schon durch Benennen unterbrochen werden. Das wissen die Konfliktlotsen in Schulen. Es gibt Theologien, die lesen die Bibel als Anti-Mobbing-Manual für Bekehrung. Frieden schaffen ist mühsam und schön, wenn’s gelingt.4 Schulbildung kommuniziert Wissen und Üben für Persönlichkeitsentwicklung und soziale Gerechtigkeit – im Anschluss an die Sustainable Development Goals SDGs oder an die Soziallehre der Kirche. Fridays For Future FFF zeigt übrigens die autodiaktische Fähigkeiten der Jugend!
Exerzitien und Meditation können Persönlichkeitsentwicklung fördern: Engagement nach Begabungen ausbauen und Unverfügbares wahrnehmen. Es geht um achtsamen Umgang mit sich selbst und anderen Menschen. Die neuere Evolutionsbiologie belegt, nicht Flucht und Kampf, sondern Zusammenspiel ist die überlebensfähigere Strategie. Alle Menschen hoffen auf ein gutes Leben. Unzureichend aber ist Aufklärung und Training darüber, dass Gewaltmittel zur Glücksicherung zwar äußerst effektiv sind. Aber wer so gewinnt, macht sich zur Ausbeuter:in, handelt kontraproduktiv. Besiegte rüsten durchaus auf. Spirituell stark ist, wer auf Gier und Rache verzichten kann!5
Das Curriculum der Zukunft.
Im bestehenden Bildungskanon sind Zukunftsthemen gesetzt und werden fächerübergreifend thematisiert. Und es gibt schon eigene neue Fächer: Gewaltfreie Kommunikation / Psychologie, Friedensarbeit/ nachhaltiges Wirtschaften, Fundraising / Selbstführung sind bereits Schulthemen und gerade an katholischen Schulen. Dialog als Lernideal bedeutet für den Religionsunterricht, sich konfessionell-kooperativ weiterzuentwickeln, am besten zum Religionsunterricht für alle (RUfa), dem Hamburger Modell. Das ist interreligiöse Fairness in Schulklassen innerhalb der pluralen Gesellschaft. Bischof Heße hat die Beteiligung auf Probe gerade im Mai 2022 fix gemacht. Auch aus der Animosität von Religionsunterricht und Lebenskunde-Ethik-Religion (LER) könnte Kooperation werden. Wir haben unter den Lehrenden bereits einen Austausch. Übrigens, die LER-Lobby steht auch nicht nur für übergriffigen Atheismus, sondern wehrt sich nachvollziehbar gegen staatliche Privilegien der christlichen Kirchen. Hier geht es nicht um Religionsverlust, sondern um den Gewinn fairer Religionskommunikation.6
Wir sind dran.
Für die Ausbildung, fürs Studium bedeutet Dialoglernen, dass wir in einer globalen Welt nicht mehr nur über andere Religionen sprechen, sondern auch mit Vertreter:innen anderer Religionen in der Lehre kooperieren, nicht nur in Religionsdidaktik, auch in der Gotteslehre. Zukunftsweisend ist für mich der 2021 gegründete Interfaith-Studiengang der drei Abrahamitischen Religionen an der Universität Tübingen. Selbstkritik sei höchst relevant, so der dortige Studiendekan Volker Drecoll, nur so gelänge dialogisches Lehren.
Gerade hatten wir an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) einen großen Workshop zu Sozialer Arbeit und Religion mit säkularen, muslimisch und christlich geprägten Wohfahrtsakteur:innen. 120 Studierende evaluierten den Diskurs als fruchtbar für ihre soziale Praxis: Verschiedene Spiritualitäten wertschätzen zu lernen, erhelle eigene blinde Flecken. Auch an der KHSB wird im Bachelorstudiengang Religionspädagogik Religionskritik thematisiert. Aber gäbe es ein eigenes Modul, nennen wir es mal „semper reformanda“, könnten Einwände gesammelt reflektiert werden – aus Philosophie, Psychologie, Soziologie, Systemtheorie, Evolutionsbiologie und der Negativen Theologie, die warnt, Gott unter Begriffe zu bringen. Im Wissen um Nutzen und Grenzen von Konzeptionen wären unsere Studierenden noch auskunftsfähiger im pluralen Diskurs.
„Religionisierung“ sagt, Menschen missbrauchen ihre Agenda zum bashing. Das ist schlimm. Weltweit leiden friedliche Gläubige unter dem Terror der Extremist:innen ihrer Religion. Hier hilft Selbstkritik: Navid Kermani benennt seinen Schmerz über die muslimsiche Gewaltperfomance aktuell in Afrika und Asien. Er kritsiert seine eigene Religion aus Liebe zu allen Menschen und zur Friedenstradition des Islam.7 Menschen, die die Berliner Szene gut kennen, sagen, wir haben bereits gut funktionierende Instituionen, Gewalt zu ahnden. In Berlin wurde 2012 eine Meldestelle für muslimisch motivierte Gewalt in Schulen eingerichtet – seitens des Vereins für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung (DeVi e.V). Sie nährt den Verdacht antimuslimischen Rassismus‘ und des laizistischen Religionsbanns im öffentlichen Raum. DeVi hat durchaus auch Verdienste um Verständigung, bestätigen Berliner Religionslehrer:innen.8
Der liberale Diskurs selbst ist weiter: Religionen und Nicht-Religion gehören in die Öffentlichkeit, weil sie zu Menschen gehören. Das fordert die Norm der Anerkennung von Diversität, solange eine Praxis verfassungskompatibel ist. Das Thema ‚Gewalt und Religion‘ gehört unbedingt auf die Agenda der Theologie. Zugleich ist es die Gretchenfrage politischer Fairness. Alle Institutionen, nicht nur Religionen müssen gerechter werden. Dann sinkt „Religionisierung“ oder muss gar nicht erst aufkommen, sagt die empirische Forschung. Diese Ursachenforschung, z.B. mit der Diagnose ‚mangelnde Bildungsgerechtigkeit‘, kommt in den DeVi-Schriften m.W. gar nicht vor.
Religion studieren.
Wir wünschten uns mehr Studierende im Studiengang Religionspädagogik. Die christliche Community wird kleiner, damit auch der Pool an potenziell Studien-Interessierten. Wir suchen sinnvolle Vernetzung: Studierende der Sozialen Arbeit können ‚plus drei Semester‘ zusätzlich einen Bachelor Religionspädagogik erwerben. Den Studiengang selbst stellen wir gerade um auf „tätigkeitbegleitend“, um Schulabgänger:innen, aber auch Menschen in der Familienphase oder in Teilzeit zu erreichen. Denn überraschend gut gehen zwei viersemestrige, berufsbegleitende Weiterbildungen in Pastoral bzw. für das 3. Fach Religion (missio canonica). Die Lehre läuft zum Gutteil online. Das erleichtert die Teilnahme. Hier lernen wir als Lehrende m. E. zweierlei:
- Erstens: Die großartigen Ressourcen unserer spirituellen Traditionen bewusst zu fassen, tut persönlich gut und motiviert in der Praxis.
- Zweitens: Aktuelle Themenschwerpunkte ergeben sich aus den Zeichen der Zeit.
Die Theologie der Sünde schien out als schwarze Pädagogik9, ist jetzt aber von höchstem Interesse, um den innerkirchlichen Machtmissbrauch deuten zu können, ohne selbst an Austritt zu denken. In Präsenz sind sinnlichere Methoden-Experimente möglich, nützlich nicht nur für Unterstufendidaktik! Die Philosophin Judtith Butler mahnt die Welt-Didaktik der Körper an, die damit einsetze, verletzte Körper überhaupt wahrnehmen zu wollen: Erzwungene Migration, Sklaverei und sexuelle Gewalt machen gerade Kinder zu Leidtragenden.10 Christlicherseits haben wir das Icon, den Gekreuzigten!
Theologisch gedeutet sind geschundene Körper die basalste Veruntreuung der Schöpfung. Heile Körper sind Lobpreis. Unser Leib ist Tempel des Heiligen Geistes (1 Kor). Religionskommunikation kann hier enorm förderlich beitragen, z. B. mit Caroline Teschmers Religionsdidaktik zu Körperachtsamkeit und Mitgefühl.11 Hier tut sich was!
Im Dialog gewinnt das eigene Profil.
Christologie ist die Lehre über den, der seine Machthabe als Flüchtlingskind beginnt und als Sündenbock am Kreuz lieber sein Leben verliert als seine Liebesfähigkeit. Das macht Jesus zum Christus, wörtlich: Gesalbter/ Rechtschaffener. Das christologische Kriterium couragierter, leidensbereiter Hingabe ist interreligiös höchst anschlussfähig, ohne dass alle das Bekenntnis teilen müssten. Zunächst geht es ums Verstehen. Im Judentum und Islam hat Jesus den Status des Propheten. Der Hindu Gandhi hat aus der Baghavadgita und der Bergpredigt gelebt. Der gerade verstorbene Bischof und Antiapartheidskämpfer Desmond Tutu hat zusammen mit dem Dalai Lama eine Interspiritualität zu gewaltfreier Gesellschaftstransformation entwickelt.12 Solche Inhalte gehören für mich in ein zukunftsfähiges Religionspädagogikstudium und auf den Lehrplan von Religionsunterricht, aber auch von Ethik, LER und Sozialkunde.
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Text: Dr. Annette Edenhofer, Professorin für Religionspädagogik, Katholische Hochschule für Sozialwesen (KHSB), Berlin.
Bild: Julia Taublitz, https://unsplash.com/photos/z52PWsWBatU
- Vgl. Papst Franziskus, Laudato Si, Freiburg 2015, Nr. 16; vgl. Schwager, Raymund, Gerechter Krieg? – Die Selbstaufhebung eines Denkmodells“, in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Freiburg 2017, S. 76-185. ↩
- Vgl. Vaclav Havel, Am Anfang war das Wort, Reinbek 1990, S. 143, vgl. ders., Moral in Zeiten der Globalisierung, Reinbek 1998, S. 180-181; vgl. Stephan, Maria J./ Chenoweth, Erica: “Why Civil Resistance Works.” In: International Security, Vol 33, Nor. 1 (Summer 2008), 7-44. ↩
- Zimmermann, Tobias: „Mehr als ein Beiboot“, Herder Korrespondenz 5/2022, 39-41. ↩
- Vgl. Edenhofer, Annette, Die Schule der Feindesliebe, Innsbruck 2020 S.1-3; vgl. Schwager, Raymund, Gesammelte Schriften Bd. 8, S. 360-368. ↩
- Vgl. Nussbaum, Martha, Zorn und Vergebung, Darmstadt 2017, S. 344-347; vgl. Schambeck, Mirjam, Von Gott, Jesus, Religionen und so, Freiburg 2022, S. 294-324. ↩
- Vgl. für die sorgsame Aufarbeitung von Dialogmodellen als Selbstaufklärung von Religionskommunikation vgl. Grümme, Bernhard, Praxeologie, Freiburg i.Br. 2021, S. 13-33. ↩
- Vgl. Kermnai, Navid, Jeder soll, von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen, München 2022, S. 100-101, 231-234. ↩
- Vgl. Statement zu DeVi e.V.von Martin Hoyer, stellvertretender Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin e.V.: KHSB-Symposion „Soziale Arbeit und Religion“, 26.01.2022; vgl. Memarnia, Susanne, “Wie halten Sie’s mit der Religion?“ ↩
- Für den Terminus Technicus „schwarze Pädagogik“: Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt/Mian 1983, S. 99-112. ↩
- Vgl. Butler, Judith, The Force of Non-Violence, London / New York 2022, S. 67-102. ↩
- Vgl.Teschmer, Caoline, „Körperlichkeit als Herausforderung einer zeitgemäßen Religionspädagogik“, in: forum erwachsenenbildung 4/2016, S. 39-42. ↩
- Vgl. Dalai Lama / Tutu, Desmond, Das Buch der Freude, München 10/2016, S. 9-38. ↩