Die Bedeutung von Wald und Bäumen in der deutschen Bestattungskultur untersucht Julia Kaiser aus philosophischer und kulturtheoretischer Perspektive. 1
Deutschland ist bis in die Gegenwart eine der waldreichsten Nationen Europas. Rund ein Drittel der Gesamtfläche ist mit Wald bedeckt. Dabei ist der deutsche Wald keineswegs gleichzusetzen mit dem Wald in Deutschland. Vielmehr handelt es sich um ein wichtiges, bedeutungsvolles Kulturgut. Über Generationen, Jahrhunderte hinweg ist der deutsche Wald emotional aufgeladen und entsprechend kulturell-gesellschaftlicher Umstände und Gegebenheiten stilisiert wurden. Man denke etwa an die Märchen der Gebrüder Grimm, die unzähligen Gedichte und Gemälde, die in der Epoche der Romantik entstanden sind, an die Wiederentdeckung der Germania, jenes berühmte Werk des römischen Historikers Tacitus und die daraus resultierende Stilisierung des deutschen Volkes als direkte Nachfahren der Germanen, dem unbesiegbaren Volk aus dem Wald, zuerst durch die Nationalist*innen und später durch die Nationalsozialist*innen.
Waldbaden und Bäume umarmen
Die Liebe zum Wald, der Einsatz um dessen Erhalt wurde der deutschen Bevölkerung als Wesens- und Charakterzug zugeschrieben. Auch in der Nachkriegszeit sollte die besondere Beziehung zum Wald nicht abreißen. In den 1950er und 1960er Jahren dominierten Heimatfilme die Kinoleinwände, um der guten alten Zeit, der heilen Welt inmitten einer malerischen Waldlandschaft zu frönen. Es folgte die Waldsterben-Debatte in den späten 1970er und 1980er Jahren, apokalyptische, medial angefeuerte Untergangsszenarien des Waldes, was von anderen Nationen nur belächelt wurde. Noch immer ziert Eichenlaub die hiesigen Cent Münzen. Aktuell steht das sogenannte Waldbaden zur inneren Einkehr und Entspannung hoch im Kurs. Yoga-Workshops und Survival-Touren im Wald werden zuhauf angeboten. Mittels einer Baumpflanzaktion zur Rettung des Klimas präsentierte sich selbst Ministerpräsident Söder als Umarmer eines Baumes. Nicht zuletzt entscheiden sich gegenwärtig immer mehr Menschen für eine Bestattung im Wald bzw. im Wurzelbereich ausgewählter Bäume, so dass diese Bestattungsform in den vergangenen Jahren zur beliebtesten alternativen Bestattungsart aufgestiegen ist.
Grab inmitten der Natur
Dabei ist eine Wald- oder Baumbestattung keineswegs ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Bereits im 18. Jahrhundert keimte in protestantisch-adeligen Kreisen die Sehnsucht nach einem Grab inmitten der Natur auf. Im 19. Jahrhundert entstanden schließlich zahlreiche Parkfriedhöfe, dessen bekanntestes Beispiel der bis heute bestehende Friedhof Hamburg Ohlsdorf seinen dürfte. 1907 wurde in München der erste Waldfriedhof eröffnet. Doch sollten sich Friedhöfe dieser Art erst rund 100 Jahre später in Deutschland etablieren. Die in Deutschland prominentesten Unternehmen sind die 2001 gegründete FriedWald GmbH und die zwei Jahre später entstandene RuheForst GmbH.
Zentrale Motive für eine Wald- oder Baumbestattung
Noch immer gilt der Wald als Sehnsuchtsort, der vergebens seinesgleichen sucht. Der Wald als Kollektiv strahlt Ruhe, Frieden, Sicherheit, Freiheit, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit aus. Es ist in gewisser Weise ein ewiger Ort, vertraut und beständig. Gleichzeitig wird die Faszination um den Wald noch immer von einer großen Imagination getragen. Wie schon einst die meisten Waldgedichte im urbanen, somit einem vordergründig waldfernen Raum entstanden sind, sind auch heute reale Waldbesuche für eine Vielzahl an Menschen eher eine Seltenheit, darüber hinaus stark wetterabhängig. Während der reale Wald zumeist menschenleer erscheint, erstrahlt die Fantasie um den Wald in den schillerndsten Farben. An diesem besonderen Ort die letzte Ruhestätte zu finden, in den Kreislauf der Natur zurückzukehren, hat für viele Menschen (neben dem Entfallen der Grabpflege) einen besonderen Reiz. Gleichzeitig wurzelt in dieser eher pantheistischen Vorstellung der Hauptgrund, warum sich die katholische Kirche lange Zeit der Waldbestattung widersetzte.
Ein Baum passend zur Persönlichkeit des Menschen
Während das Bild wie auch die Wahrnehmung des Waldes im Allgemeinen als Kollektiv funktionieren, spielt bei der Wahl des Grabplatzes im Wald zumeist die Erscheinung des individuellen Baumes eine entscheidende Rolle. Für eine Vielzahl der Kund*innen der hiesigen Bestattungswälder soll der ausgesuchte Baum zur Persönlichkeit der/des Verstorbenen passen. Mehrfach wurde in der Studie „Bestattet unter Bäumen“ auf diesen Aspekt hingewiesen. So berichtete eine Hinterbliebene sich bewusst für eine stattliche alte Eiche als Grabbaum für ihren verstorbenen Mann entschieden zu haben, um somit seiner Persönlichkeit gerecht zu werden, diese über den Tod hinaus durch die Wahl des Baumes sichtbar zu erhalten. Eine weitere Kundin, die im Rahmen der Bestattungsvorsorge bereits einen Grabbaum für sich selbst erworben hat, erzählte, eine Kiefer gewählt zu haben, da diese optisch an eine Palme erinnern würde. Diese habe sie besonders angesprochen, da das Reisen in südliche Länder ihre größte Leidenschaft sei. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass rund 50 Prozent der Grabbaume in den Bestattungswäldern im Rahmen der Bestattungsvorsorge erworben werden. Viele Kund*innen besuchen den künftigen Bestattungsort bereits zu Lebzeiten, bauen eine Beziehung zu diesem auf, so dass die Bäume gleichermaßen zu Lebensbegleitern, in gewisser Weise sogar zu Freunden werden. Auch die Tatsache, dass die Grabbäume ab Eröffnung eines Bestattungswaldes für 99 Jahre bestehen, trägt dazu bei. Dieser verhältnismäßig lange Zeitraum im Vergleich zur üblichen Ruhefrist auf klassischen Friedhöfen (je nach Bodenbeschaffenheit rund 20 Jahre) suggeriert ein Gefühl der Ewigkeit und Beständigkeit. In diesem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, dass die Baumbestattungs-Unternehmen gezielt Waldareale auswählen, in denen überwiegend Laubbäume vorhanden sind, da diese im Vergleich zu Nadelgehölz deutlich langlebiger sind. Die Funktion als Lebensbegleiter nehmen Bäume aber auch außerhalb von Bestattungswäldern ein. Noch immer werden Bäume z.B. bei der Geburt eines Kindes in Form eines Lebensbaums gepflanzt.
Picknick unterm Grabbaum
Auch Johann Wolfgang von Goethe pflegte über Jahrzehnte hinweg eine innige Verbindung zu einer Eiche, von der er kurz vor seinem Tod noch einmal persönlich Abschied nahm.
Eine derart persönliche und emotionale Beziehung zu Bäumen wurzelt in der Lebendigkeit dieser, die maßgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung von Bestattungswäldern und Grabbäumen einnimmt. Während Grabsteine zumeist als kalt, unpersönlich und (im Zuge zahlreicher Friedhofsreformen) standardisiert erachtet werden, sind Bäume individuelle, lebendige Wesen, die sich im Laufe des Lebens wie auch der Jahreszeiten sichtbar verändern. Man kann sie besuchen und berühren. Zweige und Blätter können mit nach Hause genommen werden. Nicht selten sprechen die Meschen mit ihnen, umarmen sie wie einen Freund oder eine Freundin, so dass durchaus von einer Anthropomorphisierung der Bäume gesprochen werden kann. Bei den Besuchen der Grabstätten halten Hinterbliebene gern ein Picknick unter dem Grabbaum ab, bei dem auch der/die Verstorbene oftmals mit einbezogen wird. Eine Hinterbliebene erzählt in diesem Zusammenhang von dem Ritual, bei gemeinsamen Waldbesuchen mit der Familie Vaters Lieblingsschnaps an seinem Grabbaum zu verkosten, wobei stets ein Glas für ihn in die Erde gegossen werde. Hieran wird einmal mehr deutlich, dass der Grabbaum als Repräsentation der/des Verstorbenen erachtet wird.
Ewigkeitscharakter der Wälder
Neben den entstandenen Bestattungswäldern ist die Baumbestattung mittlerweile auch ein fester Bestandteil der meisten Friedhöfe geworden. Auf einzelnen, ausgewiesenen Friedhofsflächen, die einen entsprechenden Baumbestand aufweisen oder aber auf denen neue Bäume gepflanzt werden, wird auch hier die Totenasche im Wurzelbereich der Bäume beigesetzt. Es versteht sich jedoch von selbst, dass hierbei die Wahl eines spezifischen Baumes deutlich geringer ausfällt. Auch ist die Ruhezeit den üblichen der Friedhöfe angepasst, was dem Ewigkeitscharakter der Wälder entgegensteht. Dafür sind die Friedhöfe der Gemeinden und Städte hingegen für die Hinterbliebenen deutlich leichter und schneller zu erreichen. Auch feste Gehwege erweisen sich gerade im Alter und der damit oft einhergehenden eingeschränkten Immobilität als Vorteil bei späteren Grabbesuchen. Der Besuch eines Bestattungswaldes muss hingegen zumeist aufgrund längerer Anfahrtszeiten oder nicht vorhandener Anbindungen an den öffentlichen Nahverkehr geplant und organisiert werden. Ebenfalls kann es möglich sein, dass Baumgräber, die fernab der Wege gelegen sind, im Alter nicht mehr besucht werden können. Die Kund*innen der Bestattungswälder halten diesem Umstand jedoch entgegen, dass das Wissen darum, einen besonderen, individuellen, aussagekräftigen Grabplatz für eine verstorbene Person inmitten eines Waldes zu haben, ausreichend sei. Der Gedanke daran, der/die Verstorbene verweile an so einem friedvollen, lebendigen Ort, gleiche seltenere Besuche aus.
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Julia Kaiser, Dr. phil., hat an der Philipps-Universität in Marburg Europäische Ethnologie/ Kulturwissenschaft studiert und im selbigen Fach promoviert. Derzeit ist sie als freiberufliche Autorin tätig.
Foto: © Nadja Rochelt
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- Die nachfolgenden Erkenntnisse entstammen der Dissertationsschrift „Bestattet unter Bäumen“. Kaiser, Julia: Bestattet unter Bäumen. Über den gegenwärtigen Wandel der deutschen Bestattungskultur. Marburg: Büchner Verlag, 2021. ↩