Protokoll einer Freundschaft, in der es um Leben und Tod geht. Von Juliane Link
Im November bin ich mit Tom Wolle kaufen gegangen, weil er einen Schal für sein Patenkind häkeln wollte. Kaum hatten wir den Laden betreten, blinkten Herzchen in den Augen der Verkäuferin und es dauerte ewig, zwei Knäuel auszusuchen, weil es Tom schwer fiel, eine Entscheidung zu treffen und die Verkäuferin sich so ins Zeug legte. Sie häkelte das erste Stück für Tom, riet ihm zu Blockstreifen und zu der korallenroten Wolle, „Die macht gute Laune.“ Tom erzählte von seinem Patenkind, fuhr sich mit den Fingern durch das schwarze, lockige Haar und legte den Kopf schief. Ich rollte mit den Augen, lehnte die korallenrote Wolle ab, wählte eine andere Farbe (senfgelb) und ging schonmal zur Kasse. Die Verkäuferin wünschte Tom zum Abschied alles Gute für das Häkelprojekt und für das Patenkind und für alles.
Der Mann, der für vieles bewundert wird, ist derselbe, der sagt, es sei besser, tot zu sein.
Der Mann, der so gut aussieht, dass er bei jedem Streifzug durch eine beliebige Fußgängerzone mit Freundlichkeit überschüttet wird, ist derselbe Mann, der sagt, er habe die Aufmerksamkeit der Verkäuferin nicht verdient und meine auch nicht. Der Mann, der einen Schal für sein Patenkind häkelt, Quitten einkocht und mir zu jedem Treffen Schokoriegel mitbringt, ist derselbe Mann, der den Schal für sein Patenkind lächerlich findet, als er fertig ist und behauptet, dass ich ihm im Grunde gleichgültig bin. Der Mann, der von seiner Familie geliebt und von vielen Menschen für vieles bewundert wird, ist derselbe Mann, der sagt, es sei besser, tot zu sein, als weitere Ressourcen zu verschwenden: Wolle und Lebensmittel und Medikamente und Versicherungsbeiträge.
Meine Zuneigung ist für ihn so nutzlos wie Kleingeld in einer fremden Währung.
Tom rechnet aus, was das Fortbestehen seiner Existenz auf diesem Planeten kostet und manchmal rechnen es auch andere für ihn aus. Die Sachbearbeiterin der psychosomatischen Klinik klärt ihn über die Tagessätze auf, über die Kostenzuschläge für das Einzelzimmer und die Chefarztbehandlung. Wenn Tom auf die vergangenen Jahre zurückblickt, sieht er das Ausbleiben eines durchschlagenden Therapieerfolgs, bewertet die Heilungschancen in naher und ferner Zukunft, prüft Aufwand und Ertrag, analysiert Wahrscheinlichkeiten und Tagessätze. Geld ist eine Sprache, die Tom noch versteht, zu Zahlen hat er weiterhin Zugang. Aber wenn ich zu Tom sage: „Unsere Freundschaft bedeutet mir viel“ oder „Ich habe dich so gern“, hat er keine Ahnung, was dieses Viel sein könnte, worin es besteht. Meine Zuneigung ist für ihn so nutzlos wie Kleingeld in einer fremden Währung.
Aber nur weil es sich nicht auszahlt, werde ich nicht aufhören ihn gern zu haben, auch wenn er versucht, mich vom Gegenteil zu überzeugen: „ Es lohnt sich nicht, mit mir deine Zeit zu verbringen, ich bin keine gute Gesellschaft“, sagt er. „Ich bin ein schwarzes Loch. Ich habe nichts zu geben.“ Tom denkt, dass er zu unserer Freundschaft nichts beitragen kann. Er glaubt mir nicht, dass ich etwas von ihm habe. Etwas, das er von sich selbst nicht mehr hat. Meine Beteuerungen bewirken nichts und meine Unterstützungsversuche führen nur dazu, dass Tom meint, er müsste mir etwas zurückgeben. Wie soll ich ihm klar machen, dass ich nichts von ihm will, außer, dass es ihm besser geht? Wie soll Tom mir klar machen, dass es ihm nicht besser gehen wird, bloß weil ich es will?
Versprichst du mir, dass du dir keine Vorwürfe machst, wenn ich mich umbringe?
„Versprichst du mir, dass du dir keine Vorwürfe machst, wenn ich mich umbringe?“ fragt Tom. Tom ist ein guter Freund. Ich wünsche mir so sehr, dass er lebt. Ich will irgendetwas tun, damit er diese Krise übersteht. Aber es ist nicht irgendeine Krise, die Menschen wie Tom halt mal für kurze Zeit durchmachen. Tom hat schwere Depressionen. „Mich haben heute Nacht diese Gedanken wieder so gequält und dann habe ich einfach mal einen Abschiedsbrief geschrieben, weil ich dachte, dass es mich vielleicht beruhigt“, sagt Tom. „Es hat mich nicht beruhigt.“
An einem sonnigen Herbsttag gehe ich mit Tom wandern. Mitten im Wald ist der Weg von einer Absperrung blockiert: „Durchgang verboten. Lebensgefahr“. Ich zögere. „Ach was!“, sagt Tom. An den Ausflügen mit Tom mochte ich immer, dass er keine Rücksicht auf meine Ängstlichkeit nimmt. Wir klettern über die Absperrung und gehen weiter, der Wald ist unverändert, das gleiche Laub, die gleiche Stille, die gleichen Farben. Dann plötzlich Sägegeräusche und Männerstimmen, Rufe: „Was macht ihr da? Habt ihr das Schild nicht gesehen?“ Ein kippender Stamm. Wir rennen und entgehen dem Unfalltod durch Baumfällarbeiten, einem Tod, der Tom recht gewesen wäre.
LOSLEBEN
Dann geht Tom in eine Klinik und ich schicke ihm eine Karte, darauf eine Girlande mit blauen und roten Fähnchen in einem Garten. Unter den Fähnchen steht LOSLEBEN. Tom schreibt: „Du bist ja süß.“ Und: „Ich habe mich sehr gefreut.“ Aber ich weiß, dass Tom sich gerade nicht freuen kann. Als Tom aus der Klinik zurück ist, rufe ich ihn an. „Wie geht’s dir im Moment? Kannst du schlafen?“ „Mit dem Schlafen ist es viel besser“, sagt Tom. „Ich habe heute Nacht an die drei Stunden geschlafen. Dann war halb vier und ich wollte mich nicht mehr im Bett wälzen und bin mit dem E-Bike stadtauswärts gefahren, da ist so eine Brücke, ich wollte von dort den Sonnenaufgang sehen. Dann war ich schneller da als geplant und die Sonne ging noch gar nicht auf und ich dachte, wenn ich eh schon hier bin, kann ich mal schauen, ob die Brücke geeignet wäre. Ob sie hoch genug ist.“
Fuck. Fuck. Fuck.
An den Tagen, die für die anderen besonders schön sind, wird für Tom alles noch schlimmer. Das gute Wetter, die Erhabenheit der Landschaft, die besondere Stimmung der Feiertage, alles ist an ihn verschwendet. „Weil es nichts ändert“, sagt Tom. Weil er nichts spürt, keine Freude, keine Liebe, keine Dankbarkeit. Er nimmt seinen kleinen Neffen auf den Arm, der noch ein Baby ist: Nichts. Nur die Selbstvorwürfe, schließlich müsste er spätestens jetzt etwas empfinden. Nichts. Nur das Toben im Kopf, schließlich ist es nicht normal, so gefühllos zu sein.
„Fuck“, sagt Tom dann. Fuck. Fuck. Fuck. In meinem Sprachgebrauch kommt „Fuck“ nicht vor. Und im Spektrum meiner eigenen Emotionen gibt es kein Gefühl, das diesem Fuck entspricht, dieser Mischung aus Selbsthass, Verzweiflung und Wut. Sein Therapeut bittet Tom, auf Fäkalsprache zu verzichten. Fuck. Das klappt nicht immer und ich finde das ok. Nur: Was sagt man jemandem, der sich selbst hasst? „Ich verstehe dich.“ Nein, das stimmt nicht. „Du hasst dich vielleicht, aber ich hasse dich nicht, ich mag dich wirklich.“ Nein, das wirkt überlegen. „Es tut mir leid, dass es dir so schlecht mit dir selbst geht.“ Nein, ich will ihn nicht bemitleiden. „Bitte höre auf damit, dich zu hassen.“ Nein, das löst Druck aus und klingt, als könnte er sich dagegen entscheiden. Fuck, was sage ich bloß.
Aber kann ich von Tom verlangen, dass er für uns weiterlebt?
„Was meinst du, ist die sicherste Methode für Selbstmord?“, fragt Tom. Ich habe keine Suizidgedanken und ich kenne die Qualen nicht, die Tom Tag für Tag durchmacht. Wir führen lange Gespräche, in denen ich versuche, ihn zu verstehen. Und ich möchte ihm vermitteln, was es für seine Familie und seine Freund*innen bedeutet, wenn er stirbt. Aber kann ich von Tom verlangen, dass er für uns weiterlebt? Je mehr ich mich einfühle, je komplizierter wird Toms Lage auch für mich.
„Meinst du, es gibt in der Schweiz sowas wie Sterbehilfe für Depressive?“ Manchmal habe ich Angst, wenn Tom zwei Tage lang nicht auf meine Nachricht reagiert. Lebt er noch oder wird er mir nie mehr antworten? Um meine Angst zu bewältigen, suche ich einen Stapel Bücher für ihn zusammen. Er soll Benjamin Maacks autobiografischen Roman1 lesen. Ein Buch, in dem viele „Fucks“ vorkommen und Sätze, die klingen, als hätte Tom sie gedacht. Ein Buch, das jemand geschrieben hat, der dich versteht, Tom. Lies es, damit du dich nicht so alleine fühlst. Nicht so schuldig. „Ich verstehe nicht, warum jemand wie ich so kaputt sein kann“, sagt Tom. „Ich habe von meinen Eltern alles bekommen, was man sich nur wünschen kann, alles.“ Alles, was man sich nur wünschen kann. „Was wünschst du dir, Tom?“ „Dass ein Wunder geschieht und ich wieder der bin, der ich früher war.“
Tom soll auch das Buch lesen, in dem ein anerkannter Psychotherapeut den Erfahrungsbericht einer suizidalen Patientin mit der These kommentiert, dass Selbstmord-Tendenzen ein positives Zeichen seien, ein „Warnzeichen, daß wir nicht mehr so weiterleben können wie bisher. […] Jeder sollte sich klarmachen, daß der Wunsch, sich das Leben zu nehmen, eigentlich Ausdruck eines sehr starken Willens zum Leben ist, aber nicht zu der Art Leben, wie es der Betroffene bisher geführt hat. Es ist ein starker Wunsch nach Sättigung – nach einer neuen Identität.“2
Rettungsfantasien
Tom soll sich eine neue Identität zulegen, er soll Bücher über den Sinn des Lebens lesen, alles von Viktor Frankl und er soll ein spiritueller Mensch werden. Während sich die Bücher für Tom auf meinem Schreibtisch türmen, merke ich: mit mir ist die Seelsorgerin durchgegangen. Dabei ist mir klar, dass ich für Tom nur eine schlechte Seelsorgerin sein kann. Eine, die zu wissen meint, was für ihn gut ist. Eine, die ihn retten will. Nie zuvor habe ich jemandem eine spirituelle Erweckung gewünscht. Nie wollte ich jemanden bekehren. Tom löst all das in mir aus. Dabei wäre meine Aufgabe doch eigentlich bloß, diesen Albtraum mit ihm auszuhalten.
Die Trauerbegleiterin Chris Paul nennt mein Bemühen um Tom „Beeinflussungsversuche“3. „Die Vorstellung, dass echte ‚Liebe‘ jede Krankheit und ganz besonders psychische Störungen heilen könnte, ist in unserer Gesellschaft stark verankert.“4 Auch in mir ist diese Vorstellung verankert und ich muss an mir arbeiten, nicht an der Veränderung von Toms Zustand. Das kann nur Tom selbst und er gibt sein Bestes: Er spricht über seine Selbstmordgedanken, er macht Therapie, er nimmt Medikamente, er ist gut genug informiert, um zu wissen, dass es darum geht durchzuhalten. Das Wichtigste ist, Zeit zu gewinnen. Denn der Wunsch zu sterben ist fast immer ein vorübergehender Zustand.5
Ich bin zu feige für Selbstmord.
„Weißt du“, sagt Tom, ich glaube, „ich bin zu feige für Selbstmord.“ Tom hat zwei Befürchtungen, die erste ist, dass es schief geht. In Deutschland versterben jährlich ca. 9.200 Menschen durch Suizid. Das sind mehr Menschen, als im Verkehr (ca. 3.370), durch Drogen (ca. 1.400) und durch AIDS (ca. 280) zu Tode kommen.6 Die WHO geht davon aus, dass auf jede durch Suizid verstorbene Person mindestens 20 Suizidversuche kommen. Das heißt, dass ein Selbstmordversuch mit etwa 93 prozentiger Wahrscheinlichkeit misslingt. Die zweite Befürchtung lautet: „Ich weiß nicht, was danach kommt. Ob es danach überhaupt besser ist, ob es danach überhaupt vorbei ist.“
Tom ist kein gläubiger Mensch. Soll ich ihm sagen, woran ich glaube? Oder verschärfe ich damit nur den Kontrast zwischen meiner und seiner Welt? Vergrößere ich nur die Kluft zwischen uns, weil es für mich einen Trost gibt, der ihn nicht erreicht? Von Tom habe ich gelernt, dass Suizidgedanken nicht irgendwelche Hirngespinste sind, es sind Heimsuchungen. Einmal gehe ich mit ihm spazieren, wir machen Halt an einer Brücke, die Sonne scheint, Tom legt sich auf den Gehsteig, um sich auszuruhen. Ich setze mich neben ihn. „Willst du eine Kopfmassage?“, frage ich. Eigentlich ist Tom immer derjenige, der mich massiert. „Ok.“ Ich kraule Tom den Kopf und er brummt zufrieden. „Wow, das hat so gut getan!“, sagt er später. „Diese ganzen quälenden Gedanken waren einfach weg.“ Ich breche fast in Tränen aus. Wie leicht war es diesmal, Toms Gedanken etwas entgegenzusetzen und wie schwer ist es sonst.
Hoffen wir, dass es irgendwem nützt.
Vor kurzem habe ich mit Tom telefoniert, er saß im Auto, war auf dem Weg zu Freunden. Es ging ihm besser, das konnte ich hören, seine Stimme klang kraftvoller. Wie es dazu gekommen ist? „Keine Ahnung, aber ich bin heilfroh“, sagt Tom und erzählt, dass er mit einer Freundin Ski fahren war, „und jetzt fahre ich mein Patenkind besuchen“. „Ich habe Urlaub im März, gehst du mit mir Wandern?“, frage ich. „Weiß nicht“, sagt Tom: „da bin ich vielleicht in Südafrika.“ Seitdem ist spürbar, dass Tom nicht mehr sterben will. Er will reisen, Freund*innen wieder sehen, beruflich neu anfangen. Das Leben hat ihn wieder und Südafrika ruft und es kommt mir so vor, als ob wir gemeinsam etwas geschafft hätten, etwas Wichtiges. „Du“, frage ich Tom später, „ich habe einen Text geschrieben, darüber wie die letzte Zeit mit dir war, darf ich den veröffentlichen?“ Tom zögert nicht lange: „Ja, darfst du. Hoffen wir, dass es irgendwem nützt.“ Und das tun wir.
___
Text: Juliane Link, Autorin, Kulturwissenschaftlerin, Referentin der Katholischen Studierendengemeinde Berlin.
Bild: unsplash von Philipp Deus.
- Benjamin Maack, Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein, 2020. ↩
- Jaqueline C. Lair und Walther H. Lechler, Von mir aus nennt es Wahnsinn, 1983, S.163 f. ↩
- Chris Paul, Schuld / Macht / Sinn, Arbeitsbuch für Begleitung von Schuldfragen im Trauerprozess, 2021, S.197. ↩
- Ebd. S.197 f. ↩
- Vgl. https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/depression-in-verschiedenen-facetten/suizidalitaet ↩
- Ebd. ↩