Barbara Staudigl über Kirchenbindung, Gottesdienst und Kirchenaustritt und das, was dazwischen passiert.
„Mein Name ist Peter, ich stehe am Rand und geh noch ´nen Meter.“1 Der Satz fiel in einem zufälligen Tischgespräch unter Menschen mit einem kirchlichen Arbeitgeber; man sprach darüber, wie sich die eigene Kirchenbindung darstellt und wie die der Kinder, so man welche hat. Der Satz macht deutlich, dass Menschen, die gehen, nicht aus dem Zentrum gehen, sondern vom Rand aus. Wenn sie gehen, legen sie nicht den langen Weg aus der Mitte zurück, sondern gehen gerade noch mal einen Meter, um draußen zu sein. Das Eigentliche ist viel früher passiert, ohne dass es jemand gemerkt zu haben schien. Offensichtlich wird der Weggang erst bemerkt, wenn Einnahmen aus Kirchensteuer fehlen oder Gottesdienstbesucherinnen und -besucher gezählt werden. Beide Male ist es zu spät.
Bevor die Menschen aus der Kirche austreten, sind sie von der Mitte an den Rand gegangen.
Dabei sind die Menschen, die gehen, schon viel früher aus der Mitte an den Rand gegangen oder auch gedrängt worden. Und ich glaube tatsächlich, dass der Gottesdienst aussagekräftig dafür ist, wo man in der Kirche steht. Eine Kirche, die den Gottesdienst als Höhepunkt ihres Tuns und Quelle ihrer Kraft sieht, tut gut daran, Gottesdienste und die Art, wie Menschen sich zu ihnen verhalten, in ihrer Aussagekraft ernst zu nehmen.2 Auf die passive Rolle der Besuchenden reduziert und an keiner Stelle mit verantwortlich für den liturgischen Prozess zu sein, macht es leicht, noch einen Meter zu gehen. Die (wenigen) anderen Besuchenden einer Messe, die nach vorn schauen und auf den Priester fokussiert sind, würden kaum merken, was in ihrem Rücken passiert. Der Priester, weit weg im Altarraum, wohl ebenfalls nicht.
In den letzten vierzig Jahren sind wir zu einem klerikalistischen Liturgie-Verständnis zurückgekehrt, bei dem der Gottesdienst dann beginnt, wenn der Priester erscheint und nicht dann, wenn das Volk versammelt ist. Dabei hätte es im Zuge des II. Vatikanums Ansätze einer volksnahen Liturgie gegeben. Ich habe mit Freude gelesen, wie Stephan Schmid-Keiser in seinem Beitrag „Gottesdienste feiern – nicht ohne eine neue Sensibilität dafür“3 davon erzählt, dass in der zweiten Konzilshälfte das Erleben von Gemeinschaft im Kreis um den Altar oder in Hausliturgien oder in neuen, offeneren Räumen möglich und wichtig wurde. Mit Freude, weil ich diese Formen aus meiner Jugendzeit in den 80er Jahren kenne und mit guten Erinnerungen verbinde.
Ich habe Kirche als Communio erlebt.
In der Kirche, die ich als Jugendliche erlebt habe, hätte man das Fehlen und das Gehen der Menschen bemerkt. Ich habe Kirche als Communio erlebt, Gottesdienste wurden gemeinsam vorbereitet und gemeinsam gefeiert. Es gab auch einen Priester, aber er war nicht mehr und nicht weniger als ein Teil der Gemeinschaft – und seine Rolle war eine – neben Musikerinnen und Musikern oder Personen, die die Fürbitten vorbereitet hatten. Das waren keine Gottesdienste, die durch das Erscheinen eines Priesters möglich wurden, sondern durch das Zusammenhelfen vieler im Vorfeld, die ihre Kompetenzen einbrachten. Diese Erfahrung, dass zu einer gemeinsamen Feier die gemeinsame Vorbereitung im Vorfeld gehört, prägt bis heute mein Bild von Kirche. Mittlerweile mit großer Trauer, da es nur noch eine erinnerte Erfahrung ist.
Wann in den letzten vierzig Jahren, die mich von meiner Jugenderfahrung und Jugenderinnerung trennen, haben wir diese Communio-Kirche verloren? In meinem Theologie-Studium der späten 80er Jahre war diese Erfahrung noch abrufbar. Sicher nicht überall und nicht standardmäßig. Aber man wusste, wo man hingehen musste, um eine Communio-Kirche zu erleben. In der Theologie distanzierte man sich aber bereits deutlich von einem liturgischen Communio-Verständnis. Formalismen wurden wichtiger: Wer darf was im Gottesdienst? Und viel wichtiger noch die Frage: Wer darf was nicht?
Stillschweigend vollzog sich in der Zeit seit den 80er Jahren eine Abkehr vom Liturgie-Verständnis des II. Vatikanums. Stillschweigend kehrte man vom Volk als handelnder Gemeinschaft wieder zurück zum Priester, dessen Erscheinen aus der Sakristei den Beginn des Gottesdienstes markiert. Besonders drastisch konnte man dies während des Lock-Down in der Corona-Pandemie erleben: Das Volk war weg, die Amtsträger feierten ohne Volk Gottesdienst. „Priesterzentrierte Solo-Liturgien“4, nennt der Grazer Liturgiewissenschaftler Peter Ebenbauer dies. Ich wüsste gerne, worin der tiefere Sinn besteht. In meinem Verständnis eines personalen Gottes braucht Gott keine einsamen Gottesdienste einzelner Priester, sondern die Menschen brauchen die Erfahrung, in der Verehrung Gottes versammelt und untereinander verbunden zu sein.
Arrogant und bitter, wie man Laien an den Rand drängt.
Mit Entsetzen hörte ich neulich den Bericht einer befreundeten Religionslehrerin, die in ihrer Heimatpfarrei angeboten hatte, die Fürbitten für den sonntäglichen Gottesdienst vorzubereiten. Sie stieß auf wenig Gegenliebe beim Priester. Wenn sie das unbedingt machen wolle, möge sie die Fürbitten doch bis spätestens freitags zuvor abgeben, damit er sie noch überarbeiten könne. Eine arrogante und bittere Lektion zu der Frage, wie man Laien an den Rand drängt. Und eine Anmaßung, sich zwischen Gott und die Bitten der Menschen zu stellen.
Ich meine, man kann die starke Fokussierung auf Liturgie und den Zelebranten mit den Pontifikaten von Karol Wojtyla oder Joseph Ratzinger in Verbindung bringen, mit der Installation von Bischöfen und Kardinälen, die zur theologischen Linie dieser beiden Päpste passten und wiederum Männer als Priester anzogen, die auch in diese Linie passten. Und natürlich ist die zunehmende Klerikalisierung bei gleichzeitigem massiven Rückgang von Priestern nicht nur eine ideologische, sondern auch eine hoch pragmatische Antwort darauf, warum liturgische Communio-Erfahrungen keine Selbstverständlichkeit mehr sind: Wenn es ohne Priester keine Gemeindeleitung gibt, wenn allein sie Gottesdiensten vorstehen können, wenn die wenigen Priester in immer größeren Pfarrverbänden mal eben zum Zelebrieren gefahren kommen: Wie soll der Priester ein Teil der Gemeinschaft sein?
Keine Lust mehr, subaltern unter Priestern zu arbeiten.
Natürlich ließe sich die pragmatische Seite lösen, denn die Gemeinschaft vor Ort könnte vorbereiten und warten, bis auch derjenige, der die Rolle des Priesters innehat, da ist. Doch die vorbereitenden Rollen für den Gottesdienst wurden an den Rand gedrängt, nicht mehr gepflegt, aufgegeben. Und nun fehlt in einer Kirche, die sich auf den Klerikalismus eingelassen hat, zunehmend das pastorale hauptamtliche und das ehrenamtliche Laienpersonal, das keine Lust mehr hat, subaltern unter Priestern zu arbeiten.
Eine schwierige Situation, nicht attraktiv für jene, die am Rand stehen – und man ist versucht, jenem Peter zuzurufen: Geh noch einen Meter, du hast nicht viel zu verlieren. Aber in den Angehörigen meiner Generation ist noch die erinnerte Erfahrung einer Communio-Kirche. Und sie fehlt mir. Ich kann akzeptieren, dass ein Priester eine zentrale Rolle im Gottesdienst einnimmt, auch wenn ich nicht die Lehre der katholischen Kirche teile, wer Priester werden kann. Was ich nicht akzeptieren kann, ist die passive Rolle der Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher.
Wo es mir in meinem Leben möglich war, habe ich versucht, an meinen Communio-Erfahrungen anzuknüpfen: in Kindergottesdiensten und in der Schule in den montäglichen Morgenkreisen, in denen das Klassenzimmer zum Anders-Ort und die erste Stunde zur Anders-Zeit wurde. Die Kreissituation war immer konstitutiv. Denn im Kreis steht niemand am Rand, im Kreis werden alle wahrgenommen – und da kann niemand gerade mal einen Meter gehen und wäre draußen, ohne dass es die anderen merken.
Geärgert habe ich mich, wenn derart gestaltete liturgische Erfahrungsräume als „kindgemäß“ abgetan wurden. Ich hoffe natürlich, dass sie es waren – und wo ich es heute noch mache, auch sind. Aber was für ein Irrglauben zu meinen, dass das passive Sitzen auf harten Holzbänken mit einem Priester im Altarraum die „erwachsene Form“ von Liturgie wäre. Ich empfinde es als beziehungsarm, irgendwo im Kirchenraum zu sitzen, weit entfernt von anderen, nicht wissend, wer hinter einem sitzt – und die Priester im Altarraum weit weg von allen. Mich wundert immer, dass sie trotzdem die Messe zelebrieren, ohne die Menschen aufzufordern, zusammenzurücken, nach vorn zu kommen. Aber vielleicht haben sie keine Erinnerungen oder keine Sehnsucht nach einer Communio-Kirche wie ich.
Sehnsucht, nach einer Kirche, in der die Grunddienste Communio und Leiturgia zusammengedacht werden.
Ich habe Sehnsucht nach einer Kirche, in der die Grunddienste Communio und Leiturgia zusammengedacht werden, in der man sich an theologische Traditionen erinnert, die das Volk Gottes als handelndes Subjekt ernst nehmen und nicht nur Kleriker. Ich wünsche mir Gottesdienste, die am Sonntag in katholischen Kindergärten oder katholischen Schulen gefeiert werden – an Orten, an denen Alltag passiert und Gemeinschaften bereits vorhanden sind, an Orten des Lebens. Ich wünsche mir Gottesdienste, die gemeinsam vorbereitet und gemeinsam gefeiert werden und der Priester nicht eine Solo-Rolle innehat, sondern seine Aufgabe im Kanon vieler anderer Aufgaben erfüllt.
Und in eine solche Kirche würde ich jenen Peter gerne einladen: Geh noch ´nen Meter – aber geh nicht raus, sondern komm´ zurück!
Barbara Staudigl, Prof. Dr., ist Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH), einer Fachakademie und Fachoberschule in München. Sie war viele Jahre als Lehrerin, Pädagogikprofessorin und Schulleiterin tätig.
Bild: privat
- Zitat Peter Müller in einem Gespräch über Kirchenbindung. ↩
- Vgl. Konstitution über Liturgie, Sacrosanctum concilium I, 10. ↩
- Vgl. Schmid-Keiser, Stephan: Gottesdienste feiern – nicht ohne eine neue Sensibilität dafür. Feinschwarz.net. vom 12. Oktober 2022. ↩
- Vgl. Ebenbauer, Peter: Zehn Thesen zur katholischen Liturgie in Zeiten von Corona, Feinschwarz.net vom 14. Dezember 2020. ↩