Winterzeit ist Kinozeit. Oder zumindest Fernsehzeit. Doch, was macht eigentlich einen Weihnachtsfilm zum Weihnachtsfilm? Julia Helmke geht der Frage nach und gibt eine Weihnachtsempfehlung.
„‘Vous n’aurez pas ma haine.‘ Freitagabend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Kindes, aber ihr bekommt meinen Hass nicht. Ich weiß nicht, wer ihr seid und ich will es nicht wissen, ihr seid tote Seelen. Wenn dieser Gott, für den ihr blind tötet, uns nach seinem Bild geschaffen hat, dann muss jede Kugel, die meine Frau getroffen hat, eine Wunde in sein Herz gerissen haben.“
So beginnt der Text, den Antoine Leiris vor sieben Jahren im November 2015 wenige Tage nach dem Anschlag auf das Bataclan in Paris auf facebook postet. Leiris ist Journalist und junger Vater. Seine Frau Helene ist bei dem Anschlag getötet worden.
„Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Auch wenn ihr euch sehr darum bemüht habt; auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger mit misstrauischem Blick betrachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere. Verloren. Der Spieler ist noch im Spiel.“
…sich diesen Filmen gerade in der Weihnachtszeit aussetzen…
Der Mitte November als deutsch-französisch-belgische Koproduktion in den Kinos gestartete Kinofilm „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ von Regisseur Kilian Riedhoff ist nach wenigen Wochen bereits wieder von der Leinwand verschwunden. Menschen, die trauern, die Ohnmacht gegenüber von Terror, Gewalt im Namen von Religion – die Themen sind medial vielleicht so präsent, dass der Bedarf gering ist, dafür (auch) ins Kino zu gehen. Das Kino hält dagegen: Der Anschlag auf das Bataclan hat jetzt sieben Jahre nach dem Anschlag allein in diesem Jahr vier Filmkunstwerke hervorgebracht, die jüngste Premiere erfolgte am 15.12. mit „Una año, una noche.“ Dieser Text ist ein Plädoyer, sich diesen Filmen gerade in der Weihnachtszeit auszusetzen, darin Spuren von sogenannten Weihnachtsfilm zu entdecken.
Wann ist ein Weihnachtsfilm ein Weihnachtsfilm?
Was sind Weihnachtsfilme? Es gibt bestimmte Filme, die zu Weihachten im Fernsehen laufen, als typische Weihnachtsfilme. Hier kann jede*r wohl einige Lieblingsfilme aus der Erinnerung nennen.[1] Waren es früher Filmklassiker und eher besinnliche Filme, hat sich das Fernsehprogramm weitgehend säkularisiert. Daneben sind in den letzten Jahren zumeist von Hollywood ausgehend spezielle Weihnachtsfilme für die Kinos produziert und auch so angekündigt worden. Eine längere Halbwertszeit ist den meisten nicht beschieden. Zu sehr ähneln sie sich mit ihrem Plot, in dem sich Menschen auf eine Reise an und zu Weihnachten begeben und nach manchen Irrungen am Ende doch noch wahre Liebe finden und es so „richtig Weihnachten“ werden kann. Filmwissenschaftlich gibt es das Genre „Weihnachtsfilm“ nicht. Als Sub-Genre existiert es durchaus. Es ist erstaunlich, in wie vielen Filmen auf die eine oder andere Weise Weihnachten vorkommt. Wann ist ein Weihnachtsfilm ein Weihnachtsfilm? Drei Merkmale: Wenn er an und um Weihnachten in die Kinos kommt, mit der Absicht eine besondere Jahreszeit und Atmosphäre verkaufstechnisch zu nutzen, vor allem als herzerwärmender Familienfilm mit Wohlfühltouch; wenn er das Weihnachtsfest als zentrales Thema darstellt, als Dreh- und Angelpunkt von Handlung und Figurenmotivation und/oder die Handlung zwar an Weihnachten spielt und damit eine Rahmung vorgibt, die Geschichte sich aber in „weihnachtsfreier“ Umgebung entwickelt (z.B. EYES WIDE SHUT von Stanley Kubrick).
Die kulturtheologischen Themen rund um das Weihnachtsfest können im Anschluss an F.D.E. Schleiermacher so beschrieben werden:
- Weihachten als ein gesellschaftliches Ereignis, zu dem sich die Menschen vergewissern, dass ihre kulturellen Werte noch gültig sind,
- Weihnachten als Zeichen der Hoffnung auf eine andere bessere Wirklichkeit,
- Weihnachten als familiäres und biographisches Ereignis, als Fest der Generationen und
- Weihnachten als Fest, an dem es „um das Ganze“ geht, um Heil, (Neu-)Schöpfung, Schuld und Erlösung. All das ist in unterschiedlicher Kondensierung in den Weihnachtsfilmen zu finden.[2]
Woher kommt die Hoffnung?
Das Titelbild von „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ intoniert die heile/heilige Familie als eine versehrte. Die Mutter fehlt. Dennoch ist die Liebe ganz und umfassend. Es gibt, auch das schwingt in diesem Film mit, nicht nur die eine Form Familie zu sein, gewollt oder ungewollt. „Wir werden glücklich sein“, flüstert Antoine seinem Sohn nach einem ausgiebigen spielerischen Herumalbern zu. Die Stimme bricht ihm fast dabei, zugleich will er daran glauben und wollen wir als Zuschauende dieser Hoffnung glauben. In jeder Minute ist die abwesende Mutter präsent, ist die Trauer präsent erfahrene heitere Momente nicht teilen zu können. Zugleich spiegelt sich eine tiefe Akzeptanz wider, das Leben weiterzuleben und anzunehmen. Woher kommt die Hoffnung?
„Ich habe sie heute Morgen gesehen. Endlich, nach Nächten und Tagen des Wartens. Sie war genauso schön wie am Freitagabend, als sie ausging, genauso schön wie damals, als ich mich vor mehr als zwölf Jahren hoffnungslos in sie verliebte. Selbstverständlich frisst mich der Kummer auf, diesen kleinen Sieg gestehe ich euch zu, aber er wird von kurzer Dauer sein. Ich weiß, dass sie uns jeden Tag begleiten wird und dass wir uns in jenem Paradies der freien Seelen wiedersehen werden, zu dem ihr niemals Zutritt erhalten werdet. Wir sind zwei, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen dieser Erde. Ich will euch jetzt keine Zeit mehr opfern, ich muss mich um Melvil kümmern, der gerade von seinem Mittagsschlaf aufwacht. Er ist gerade mal 17 Monate alt; er wird seinen Brei essen wie jeden Tag, dann werden wir gemeinsam spielen wie jeden Tag und sein ganzes Leben wird dieser kleine Junge euch beleidigen, indem er glücklich und frei ist. Denn nein, auch seinen Hass werdet ihr nicht bekommen.“[3]
…die Erschütterung und das Ringen um Sinn und eigene Werte…
So wie in der biblischen Weihnachtsgeschichte Weltgeschichte konsequent aus der Perspektive einzelner Menschen erzählt, so erzählt dieser Film konsequent aus der Perspektive eines Mannes, der so lange es geht an der Hoffnung des Lebens festhält, dabei die Erschütterung und das Ringen um Sinn und eigene Werte nicht ausspart.[4] Der Film ist weder Moralpredigt noch ethische Versuchsanordnung. Antoine ist kein Heiliger. Eine der stärksten Szenen spielt in der Metro. Er ist nicht frei davon, anders als er sich dies wünscht, Menschen misstrauisch zu beobachten. Eine junge farbige Frau spricht ihn an, schnell verlässt er den Wagen. Sie ruft ihm nach, mit einem Herzzeichen vor der Brust, dass ihr Freund ebenfalls im Bataclan war und ihr sein Post so viel bedeutet habe. Und auf dem Gesicht des Schauspielers Pierre Deladonchamps wechseln sich Erleichterung, Scham, Dankbarkeit u.a.m. In dieser, wie in vielen anderen Szenen, macht die Kamera deutlich, wie sehr der Schmerz über den Verlust, wie dieser Anschlag Menschen vereinzelt. Er erscheint als nicht mehr zugehörig zum alltäglichen Treiben. Doch der Wille, sich nicht trennen zu lassen von der Liebe und Hoffnung wird ebenso in jeder Szene deutlich. Woher diese Kraft kommt, bleibt offen. Sie ist da.
Wir entscheiden uns für das Leben.
Gottes Kommen in diese Welt ist Menschwerdung. Antoine Leiris wird zum Sprachrohr der Überlebenden. Aus den Vereinzelten und Versehrten knüpft sich ein Netz der Solidarität und gemeinsamer Fürsorge. Fred Dewilde, ein Comiczeichner hat das in seiner beeindruckenden Graphic Novel „Wie ich überlebte“ (2017) sichtbar gemacht. Er beschreibt u.a. wie er während der Mordanschläge neben einem Toten liegt, zu seiner linken Seite eine junge Frau, die versucht sich tot zu stellen, um zu überleben. Sie beginnen flüsternd ein Gespräch, schenken einander, vielleicht in ihren letzten Momenten des Lebens, all die Mitmenschlichkeit, die ihnen möglich ist. Er betont in seiner Erzählung, ebenso wie Leiris und andere Überlebende in Interviews immer wieder: Wir entscheiden uns für das Leben. Das Bataclan ist ein exemplarischer Ort, ein aufgeladenes Zeichen. Kein kleiner Stall in Bethlehem, das Gebäude befindet sich in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, im XI. Arrondissement von Paris. Es ist im ‚orientalisierenden‘ Stil der Chinoiserie gehalten. Das Bataclan war Heimat für einen Tanzsaal, für Shows, Revue und Operetten, beherbergte Kinos, Theater- und Konzertveranstaltungen und ist bis heute Auftrittsort für eine große Vielfalt von Künstler*innen aus West und Ost, Süd und Nord. Kaum verwunderlich, weshalb das Überleben nach dem Anschlag auf Bataclan im Zentrum verschiedenster Filme steht.[5] Es geht um die Kraft, die Film und zeitgenössische Künste heute entwickeln können, um ihre Aufgabe zu leben, Gedächtnis zu sein, Spiegel und prophetische Stimme. Sieben Jahre nach dem Anschlag auf das Bataclan, nach all den (weiter zunehmenden) Zerstörungen von Kulturorten in der Ukraine und weltweit. Sich dem Dunkel auszusetzen und zu warten, bis das Licht wiederkommt. Das Kino bleibt dafür ein guter Ort.
Prof. Dr. Julia Helmke (Jg. 1969) ist evangelische Pfarrerin und Filmpublizistin. Sie arbeitet zur Zeit als Oberkirchenrätin für Theologie, Gottesdienst, Kirchenmusik und Geistliches Leben in der Ev.-lutherischen Landeskirche Hannovers und hat einige Jahre den Deutschen Evangelischen Kirchentag als Generalsekretärin geleitet. Seit 2013 ist sie Präsidentin der internationalen protestantischen Filmorganisation INTERFILM und unterrichtet an der FAU Erlangen als Lehrbeauftragte für Christliche Publizistik/Medien-Ethik-Religion.
Beitragsbild: Aus dem Film „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, Bildrechte: Tobis Filmverleih / Julia Helmke
Bild der Autorin: ÖKT/privat
[1] Vgl. dazu an Filmen: RENDEZVOUS NACH LADENSCHLUSS (ERNST LUBITSCH, USA 1940), IST DAS LEBEN NICHT SCHÖN (FRANK CAPRA, USA 1946), DAS APARTMENT ( BILLY WILDER, USA 1960)
SPUREN IM SAND (JOHN FORD, USA 1948) FANNY UND ALEXANDER (INGMAR BERGMAN, SCHWEDEN, 1983), KEVIN ALLEIN ZU HAUS, CHRIS COLUMBUS, USA 1990, TATSÄCHLICH LIEBE (RICHARD CURTIS, USA/GB 2003, LIEBE BRAUCHT KEINE FERIEN (NANCY MYERS USA 2006) u.a.
[2]Zu Info: Viele der erfolgreichsten Weihnachtsfilme basieren vor allem auf der literarischen Vorlage von Charles Dickens „A christmas Carol“ Mehrfach verfilmt, u.a. „SCROOGED“ mit Bill Murray (1988), „THE MUPPET CHRISTMAS CAROL“ (1992) oder „A Christmas Carol“ (2009) von Robert Zemeckis, anders und ähnlich Tim Burtons „ A NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS“ (1993).
[3] Übersetzung mit Einwilligung des Autors von Lena Jakat im Auftrag der SZ, vgl. ihttps://www.sueddeutsche.de/leben/worte-eines-witwers-ihr-bekommt-meinen-hass-nicht-1.2741242m
[4] Vgl. dazu die Filmkritiken aus https://www.epd-film.de/filme/meinen-hass-bekommt-ihr-nicht und etwas ambivalenter https://www.filmdienst.de/film/details/619460/meinen-hass-bekommt-ihr-nicht
[5] Zu den weiteren Filmen siehe: https://www.srf.ch/kultur/film-serien/filme-ueber-bataclan-anschlaege-meinen-hass-bekommt-ihr-nicht-diese-filme-machen-hoffnung. Dazu kommen noch weitere Verfilmungen wie die dreiteilige Netflix-Serie „Angriff auf Paris“ (2018) und weitere,