Einer Theologie und einem Verständnis der Kirche, die sich in dem Werk von Gottfried Böhm als Architektur ausdrücken, geht Niccolo Steiner S.J. aus Anlass seines 100. Geburtstags an einem besonders markanten und beeindruckenden Beispiel, dem Dom von Neviges, nach.
„Ein feste Burg ist unser Gott…“ Wie Luther in seinen Liedern und Hymnen mit Motiven des Psalmisten spielt – Burg, Fels, Berg, feste Stadt… – so spielt auch einer der renommiertesten Architekten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihnen: Gottfried Böhm, der am 23. Januar 1920 in Offenbach am Main geborene jüngste Sohn des großen Dominikus Böhm (1880–1955).
Jede Epoche hat ihre eigenen
Architekt*innen
In der Rückschau wirkt es, als sei Gottfried Böhm das Architektensein in die Wiege gelegt worden, als wäre er ‚nur‘ ein Glied einer Architekten- und Baumeisterfamilie, nur eines zwischen seinem Vater Dominikus, seiner Frau Elisabeth (1921–2012) und seinen Söhnen Stephan (*1950), Peter (*1954) und Paul (*1959). Im Rückblick mag es auch scheinen, als sei er neben seinem Vater und Rudolf Schwarz (1897–1961) oder Martin Weber (1890–1941) nur ein Erneuerer der Sakralarchitektur des 20. Jahrhunderts in Deutschland neben anderen. Jede Epoche hat ihre Architekt*innen und Baumeister*innen: die Gotik ihre Parlers oder der Barock seine Neumanns.
betongewordene Theologie
Gottfried Böhm, der Pritzker-Preisträger des Jahres 1986, ist nicht nur ein Glied in der Kette, sondern ein origineller und äußerst kreativer Architekt des Sakralen und des Metaphysischen – auch in seinen profanen Bauten. Seine über 70 Kirchenbauten sind stein- oder besser betongewordene Theologie: Sammlungs- und Versammlungsorte des Gottesvolkes.
Bereits sein erster eigenständiger Sakralbau – entstanden 1947 bis 50 – zeigt die ganze Bandbreite und das Spezifische seiner Kunst: Madonna in den Trümmern. Von der alten Kölner Pfarrkirche Sankt Kolumba, deren Ursprünge in römische und merowingische Zeit zurückreichen, hatten die Bomben des Zweiten Weltkriegs nur die Umfassungsmauern und eine spätgotische Marienfigur am Chorpfeiler stehengelassen.
Architektur als Zeichen der Hoffnung
Für viele Kölnerinnen und Kölner war dies ein Zeichen der Hoffnung, ein „Symbol des Lebens“ und ein „Ansporn für den Wiederaufbau“ (Böhm)1. Der junge Architekt schuf dieser Maria und ihrem Kind in den Trümmern einer einst stolzen und prächtigen Bürgerkirche einen lichten Schrein als Wohnstatt. Ein Oktogon mit zeltartigem Dach aus modernen Materialien überspannt die Figur wie ein Reliquienschrein der rheinischen Gotik. Trümmersteine und Architekturformen des Vorgängerbaus betonen nicht nur die Kontinuität des Ortes, sondern unterstreichen zugleich die Legitimität des Alten in der wiedererstehenden Großstadt Köln mit ihrem zunehmend säkularisierten und modernen Antlitz.
Zwiesprache zwischen Geschöpf und Schöpfer
Böhm gelang es, einen Ort des Betens zu schaffen, einen gleichermaßen intimen wie geschützten Ort der nüchternen Zwiesprache zwischen dem Geschöpf und seinem Schöpfer. Seine Pläne für den Wiederaufbau der alten Pfarrkirche wurden Ende der 1950er Jahre allerdings nicht verwirklicht. Heute sind sowohl die Ruine der Kirche als auch die Kapelle Madonna in den Trümmern in das Kolumba-Museum des Pritzker-Preisträgers des Jahres 2009, des Schweizer Peter Zumthor (*1943), kongenial eingebunden.
Eine Wallfahrtskirche als Gottesburg
Böhms größter und bedeutendster Sakralbau ist zutiefst geprägt von der Liturgischen Bewegung und der Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils: die Wallfahrtskirche Maria Königin des Friedens in Velbert-Neviges im Bergischen Land. Von 1963 bis 72 errichtete Böhm eine Kirche für über 7000 Menschen, eine Gottesburg als Ziel des auf Erden pilgernden Volkes Gottes. Das filigrane Wallfahrtsbild des 17. Jahrhunderts – ein bescheidener Kupferstich der Immaculata – umhaust eine Kathedrale aus Beton und Licht, ein zerklüftetes Bergmassiv, das trotz seiner Monumentalität wie ein leuchtender Kristall wirkt. Es ist eine Gottesburg, die in den Augen seiner Zeitgenoss*innen Zuflucht und Schutz bietet vor den Wogen der säkularen Welt, die ihnen Heimat und Sicherheit bietet vor den Irrungen und Wirrungen der Moderne. Und dennoch ist es zugleich der Bau eines Meisters, der die Formensprache der Moderne in ihrer Perfektion beherrscht wie es zuvor für einen Kirchenbau solcher Größe und Funktion undenkbar war.
Ein Kirchenraum wie ein Marktplatz
Die Pilger*innen ziehen wie die Jerusalempilger*innen der Wallfahrtspsalmen die Prozessionsstraße hoch zum heiligen Berg, zur neuen Gottesstadt, wo sie sich zum Lobpreis Gottes, zum freien Hören auf sein Wort und zum Feiern der heiligen Geheimnisse sammeln. Der Prozessionsweg außen setzt sich innerhalb der Kirche fort. Böhm verwendet dieselben Klinkersteine für den Boden des Kirchenraums. Künstliches Licht spenden große Straßenlaternen, der Raum wirkt wie ein Marktplatz, die Emporen werden zu Häuserfronten und zitieren sowohl die Bauten des Pilgerweges als auch die des Vorplatzes.
Grenzen verschwimmen
Das Innerste wird nach außen gekehrt, das Äußerste nach innen, die Grenzen von Sakralem und Profanem scheinen zu verschwimmen, sie durchdringen sich wechselseitig, werden eine Welt und eine Wirklichkeit: das Allerheiligste mitten in der Welt. Böhms Wallfahrtskirche bildet in ihrem Inneren eine neue Stadt ab und ist zugleich Vorwegnahme des himmlischen Jerusalem. Um den Altar herum sammelt und versammelt sich die Bürger*innenschaft des neuen Gottesreiches – eine Gemeinschaft von Gleichen ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Stand, Rasse oder Klasse, sexueller Identität oder Nationalität.
Die Menschen werden als Hörende ausgerichtet
Es ist ein verstörendes Spiel zwischen dem Monumentalen der Architektur und dem betenden, hörenden, feiernden Individuum. Es ist eben nicht die Monumentalität des Faschismus, des Kommunismus oder sonst einer der Totalitarismen der Geschichte. Es ist der Ort, wo sich der vereinsamte, vereinzelte Mensch der Moderne in Freiheit hinbegibt, um seinen Gott zu finden, seinen Sinn, sein Wesen, sein Ziel. Im Hören auf das Wort Gottes und im Feiern der Heiligen Geheimnisse findet jede Person ihre Bestimmung. Sie und ihr Gott, sie und die anderen, die um sie herumstehen, mit ihr ausgerichtet sind auf das Transzendente hin, auf die Begegnung mit dem lebendigen Gott. Aus dem Ich und dem Du wird in dieser Kirche – befördert durch ihre Architektur – ein Wir. Im Hören auf sein Wort und im Feiern der Eucharistie erfährt sich die einzelne Person als Erbe und Erbin, als Bürger*in des Gottesreiches. Der Raum bietet die Bühne für die Verheutigung der Schrift und des durch sie berichteten Geschehens.
Die Freiheit der Einzelnen wird gefördert,
nicht gemindert.
Böhm gelingt es, einen monumentalen Raum zu schaffen, der nicht erschlägt oder die Freiheit des Individuums aufhebt oder verleugnet. Es ist ein Raum, in dem jede, die sich in ihm bewegt, sich immer wieder und an allen Orten frei verhalten kann zu dem, was gerade geschieht: Beten, Hören, Feiern. Das Dach überwölbt in Form eines Zeltes nicht nur den Altar, sondern die ganze sich versammelnde Gemeinde als das neue Gottesvolk und den lebendigen Leib Christi – egalitärer wurde Kirche weder gedacht noch gebaut!
Gebäude als Ausdruck auch des eigenen Glaubens
Gottfried Böhm prägte mit seinen Kirchen die Sakralarchitektur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie kein anderer – in Deutschland und darüber hinaus. Tief verwurzelt in den Ideen und Traditionen der Liturgischen Bewegung vermochte er es, mit großer Sensibilität Orte des freien Betens, Hörens und Feierns zu schaffen. Wenn es etwas gibt, das ihn mit seinem Vater verbindet, dann, dass auch er von sich sagen könnte: „Ich glaube, was ich baue!“2 – und umgekehrt.
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Hinweis: Zum 100. Geburtstag von Gottfried Böhm in Neviges bietet das Deutsche Architekturmuseum ab dem 17. Januar und bis zum 26. April 2020 eine Sonderschau zu seinem Werk.
Autor: Niccolo Steiner ist Theologe und Jesuit. Er ist an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt a.M. als Dozent für Kirchengeschichte tätig.
Bild: Inge und Arved von der Ropp /Irene und Sigurd Greven Stiftung, ca. 1968