Soziales Miteinander wird fundamental von unserer Erinnerungsfähigkeit getragen. Instagram spielt für die Erinnerungskultur und historische Bildungsarbeit eine zunehmende Rolle. Die Herausforderungen bleiben jedoch dieselben. Von Linda Kreuzer.
Meine Großmutter ist vergangenen November gestorben. Sie war die letzte meiner vier Großeltern. Ich habe außerdem noch drei meiner Urgroßmütter kennen lernen dürfen. Manche Erinnerungen sind noch recht klar: an Stimme, Aussehen oder Geruch. Vieles ist davon an Orte gebunden, Jahreszeiten, Feste oder an speziell zubereitete Speisen.
Ihre Lebensgeschichten waren sehr unterschiedlich und dabei doch ein durchschnittliches Abbild eines bestimmten Milieus. Heimatvertriebene, uneheliche Kinder, Landarbeiter*innen, Stalingrad, Brüder bei der Waffen-SS, Gewalt in der Familie, 50iger Jahre Hausfrauen, Stahlofen- und Maschinenbauarbeiter, Hausbau, abgesicherte Anstellungen, Enkel- bzw. Urenkelkinder, die studiert haben. Familientraumata waren neben Kaffee, Sonntagsessen oder Fernsehabenden nie Thema.
Vieles wartet darauf, emotional und intellektuell in die Familiengeschichte eingearbeitet zu werden.
In keinem der Haushalte meiner Großeltern waren Fotografien oder vererbte Erinnerungsstücke ausgestellt. Beim Ausräumen der Verlassenschaften sind Arier-Nachweise, Postkarten, Briefe, Tagebücher und Fotografien aufgetaucht, die nach erster Durchsicht noch immer darauf warten, emotional und intellektuell in die Familiengeschichte eingearbeitet zu werden.
Erinnern ist Arbeit
Im Buch (2002) und gleichnamigen Film „Everything is illuminated“ (2005) von Jonathan Safran Foer konzentriert sich der Protagonist auf die Erinnerungsformen des Sammelns und des Suchens, um der Lebensgeschichte seiner Familienmitglieder auf die Spur zu kommen. Er reist in die Ukraine, im Gepäck eine Fotografie seines Großvaters mit einer Frau, die ihn vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten bewahrt und zur Flucht in die USA verholfen hat. „Trachimbrod, 1940“ steht auf der Rückseite des Bildes.
Emotionale Auseinandersetzung mit Spuren, die nicht sichtbar sind, aber spürbar auch die Nachgekommenen beeinflussen.
Jonathan versucht sich mit Hilfe von zwei Ukrainern und ihrer „Hewish Heritage Tours“ in das Leben seines Großvaters, seiner Verwandten zu spüren, von denen er bislang zwar vielleicht eine Ahnung aber so gut wie keine Informationen hatte. Der Roman ist autobiografisch inspiriert. Der Fokus liegt weniger auf der historischen Darstellung. Vielmehr steht die emotionale Auseinandersetzung mit den Spuren im Mittelpunkt, die nicht sichtbar sind, aber spürbar auch die Nachgekommenen beeinflussen.
Die Mutter des Autors, Esther Safran Foer, hat 2020 mit ihrer Erinnerungsarbeit zur Familiengeschichte „I want you to know we‘re still here“ die historische Aufarbeitung aber auch neue Perspektiven zur Geschichte ihrer Familie vorgelegt.
Das Schtetl Trochenbrod, aus dem der Vater von Esther Safran Foer stammte, dient als Vorlage für das fiktive Trachimbrod in Jonathan Foers Roman. Es war mit seinen 99% jüdischen Bewohner*innen eine lebendige agrarwirtschaftlich wichtige Kleinstadt im damaligen Polen und heutiger Ukraine.
Die Erinnerungskultur einer Familie wird zur Herausforderung für unseren Umgang mit dem Erinnern an die Shoah.
Am 9. August 1942 ermordete eine Vernichtungseinheit den Großteil der Bevölkerung. Wenige konnten fliehen. Etwa 60 jüdische Partisan*innen, die sich in den Wäldern versteckt halten konnten, bearbeiteten das Land nach Abzug der Deutschen und ernährten sich von den Erträgen. Dann veranlasste die sowjetische Regierung die vollständige Auslöschung des Ortes, um die letzten Spuren jüdischen Lebens zu beseitigen und eine Kolchose zu errichten.
Die Zugänge von Esther und Jonathan Safran Foer ergeben in ihrer Zusammenschau ein komplexes Bild von Vergangenem und Gegenwärtigen. Die Erinnerungskultur einer Familie wird so zur Herausforderung für unseren Umgang mit dem Erinnern an die Shoah. Sie ist ein buchstäblich erhellendes Beispiel für den, mit Johann Baptist Metz gesprochenen, unauflöslichen Zusammenhang von ratio und memoria: dem gegenseitigen Angewiesensein von kommunikativer und anamnetischer Vernunft. Zusätzlich schaffen es die Formen von fiktivem Roman, Familienerzählung und historischer Aufarbeitung eine zentrale Dimension von Erinnerungen klar herauszuarbeiten: die reflektierte Emotion.
Holocaust-Pädagogik und Soziale Medien
Schlagwörter wie „Opferhierarchie“ oder eine „gefühlte Dominanz des Holocaust in der globalen Erinnerungskultur“ sind nicht nur in akademischen Debatten Pulverfässer. Die sogenannte Holocaust-Pädagogik steht vor vielen Herausforderungen: die steigende Anzahl an Verharmlosungen und Relativierungen, antisemitische und rassistische Übergriffe, das „Satt-Haben“ der Verweise auf die Shoah oder große Lücken an Faktenwissen über die NS-Zeit.
Die Frage der medialen Bildung wurde durch und mit Instagram auf ein neues Level gehoben.
Michael Blume, Antismitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg, widmet sich in mehreren Podcast-Folgen der Frage, wie emotionale und intellektuelle Bildung gegen Antisemitismus gelingen kann. Formale Bildung ohne emotionale Berührung führt in problematische Sackgassen. Genauso kommt der Lernraum Schule aus unterschiedlichen Gründen schnell an seine Grenzen. Seit einiger Zeit wird daher von diversen Institutionen versucht, Bildungsanliegen in Richtung Sozialer Medien auszubauen.
Instagram hat eine rasante Entwicklungen in der Anzahl und Nutzung durch seine User*innen vorgelegt. Die Frage der medialen Bildung wurde durch und mit Instagram auf ein neues Level gehoben. Die Formatformen mit Stories, Reels und klassischen Beiträgen transportieren Inhalte mittlerweile nicht mehr nur durch Bildsprache, sondern auch durch Texte, unterlegte Musik, Hashtags und Verlinkungen. Nicht nur Influencer*innen, auch eine diverse Gruppe an Bildner*innen aus Schule, Universität, Museen oder politischen Initiativen nutzen Instagram. Mit den Jahren des Bestehens dieser Plattformen ist auch das Thema des Erinnerns stärker in den Vordergrund getreten.
Momentaufnahmen finden ihre digitale Verewigung.
Zum Ersten nutzen viele die Möglichkeit, digitale Fotoalben anzulegen, um bei Bedarf die Urlaubseindrücke, Beziehungshighlights und Geburtstagsfeste auch mit einer größeren Öffentlichkeit zu diskutieren. Momentaufnahmen finden so ihre digitale Verewigung. Die Warnungen vor zu offenherzigem Umgang mit privaten Informationen und Einblicken finden sich zwar bereits in Schulbüchern. Das Verständnis von privat und medial inszeniertem Selbst hat sich aber in den letzten 10 Jahren rasant entwickelt. Die Grenzen zwischen privat und öffentlich sind fluid.
Zum Zweiten hat sich persönliches Erinnern mit der Möglichkeit zur unkomplizierten und schnellen Veröffentlichung um die Dimension der Inszenierung erweitert: als konzipiertes Leben im Spiegel einer vermeintlichen Öffentlichkeit. Viele nutzen diese Möglichkeit, um von sich bewusst ein digitales Selbst zu entwerfen, das den eigenen „Marktwert“ im beruflichen aber auch privaten Kontext bestimmt. Wieviel von sich und um welchen Preis gegeben wird, ist spannend zu beobachten. Die Grenzen von Professionalität und ein Sich-Ausprobieren sind ebenso fließend wie zwischen öffentlicher und privater Person.
Zum Dritten hat sich eine neue Form von Erinnerungskultur durch Bildungsarbeiter*innen etabliert. Accounts wie eswarnichtimmereinfach mit Beiträgen zu den Tagesheiligen und einer alternativen Lesart ihrer Vita oder workingclasshistory, wo mit Informationen über politische Aktivist*innen, Künstler*innen… eine Geschichte „von unten“ geschrieben werden soll, bereichern konventionelle Bildungsarbeit und ihre Materialien um leicht zugängliche Perspektiven.
eva.stories: Insta-Story über das Leben der ungarischen Jüdin Eva Heyman.
Ein vierter Aspekt hat sich mit dem Account eva.stories im April 2019 für die Frage nach einer adäquaten und wirkungsvollen „Holocaust-Pädagogik“ aufgetan. Der eigens für das Medium Insta-Stories gedrehte Film über das Leben der ungarischen Jüdin Eva Heyman basiert auf ihrem Original-Tagebuch, das sie ab ihrem 13.ten Geburtstag wenige Monate bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz geführt hat. Am 17.10. 1944 wurde Eva Heymann in der Gaskammer ermordet.
Der verantwortliche israelische Regisseur Matti Kochavi sagte dazu im israelischen Fernsehen (nach faz.net): „Im digitalen Zeitalter, in dem die Aufmerksamkeitsspanne kurz und das Bedürfnis nach Nervenkitzel hoch ist, ist es extrem wichtig, neue Modelle der Zeugenaussagen und Erinnerung zu finden – auch angesichts der sinkenden Zahl von Holocaust-Überlebenden.“
@ichbinsophiescholl: Wenn Sophie Scholl ein Handy und einen Social Media Account gehabt hätte.
Im April wurde das deutsche Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl von BR und SWR gelauncht. Es musste harte Kritik an der Umsetzung einstecken. Ähnlich wie eva.stories werden 10 Monate lang Beiträge aus dem Leben von Sophie Scholl unter ihrem fiktiven Social Media Charakter veröffentlicht: Was wäre gewesen, wenn Sophie Scholl ein Handy und einen Social Media Account gehabt hätte?
Das mit professionellen Schauspieler*innen inszenierte Erinnerungsprojekt schrammt mitunter hart an der Grenze des historisch Verantwortbaren. Im Gegensatz zu eva.stories steht hier die mediale Nutzung und Inszenierung im Mittelpunkt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass zu unreflektiert das Credo des Lebensweltbezuges der Zielgruppe umgesetzt wurde.
User*innen werden in einem Morast an Halbinformationen zurückgelassen.
Bei der Adaption von Lebensgeschichten, egal in welcher medialen Form, stellt sich die Frage, ob es legitim ist, die Komplexität und die kontextuelle Gebundenheit von Leben nach Belieben zu verändern. Der fiktive Account suggeriert eine Form der Partizipation und Interaktion, die vielleicht auf den ersten Blick neu und herausfordernd wirkt. User*innen werden jedoch in einem Morast an Halbinformationen zurückgelassen.
Ob Jugendliche durch derartige Accounts mehr Sensibilität und Reflektiertheit in Bezug auf Antisemitismus und Rassismus entwickeln, stelle ich in Frage. Es liegen allerdings bis dato keine größeren Untersuchungen dazu vor. Der Tenor einer 7. Klasse eines Gymnasiums nach der Beschäftigung mit diesen beiden Accounts war sehr zurückhaltend. Ohne Vorwissen und gründlicher Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten bzw. historischen Kontexten würde „nur ein oberflächlicher Eindruck zurückbleiben“, so die Schüler*innen.
Erreichbarkeit
Formale Bildung ohne emotionale Anteilnahme und Übersetzung ins eigene verantwortliche Handeln bleibt genauso leer wie impulsive, emotionale Ansprache ohne Kontext, Regulierung und Reflexion. Ratio, emotio und memoria als konstitutive Momente unserer Selbstwahrnehmung werden durch digitale Perspektiven verändert.
Die Gefahr ist groß, in ein verschwörungsmythisches Fahrwasser zu geraten.
Die Vielzahl an Informationen bedürfen der Prüfung. Die Flut an Emotionen fordert Filter und Abgrenzung. Ohne die Fähigkeiten zur Einordnung, Überprüfung und Relativierung ist die Gefahr groß, in ein verschwörungsmythisches, antidemokratisches, radikales Fahrwasser zu geraten.
Die Herausforderung einer Bildungsarbeit, die zu Solidarität, Empathie und Verantwortung führen möchte, besteht darin, Menschen in ihrer Konfrontation mit der Welt zu begleiten und Methoden bzw. Hilfsmittel zur Entwicklung dieser Fähigkeiten bereit zu stellen.
Menschlicher Grundauftrag: Erreichbar bleiben für das Leid der Anderen ohne Opferkonkurrenz.
Der Tod von Zeitzeug*innen, die Jahrzehnte, die die Mahnmäler stumm werden lassen, die vielen unaufgearbeiteten Kisten mit Familiengeschichten, geschichtsvergessene Politiker*innen und wenig differenzierte mediale Berichterstattung führen zu Abstumpfung und Relativierung. Und das führt in weiterer Folge zu offener Gewalt. Erreichbar bleiben für das Leid der Anderen ohne Opferkonkurrenz: Das muss als menschlicher Grundauftrag in allen Bildungsvollzügen und Kommunikationsformen mitgedacht werden.
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Linda Kreuzer hat Katholische Theologie studiert und lebt und arbeitet als Religionspädagogin in Wien.
Bild: Screenshot: https://www.instagram.com/ichbinsophiescholl