Spiritualität im Alter steht im Zentrum der jüngsten Publikation von Leo Karrer. Ulrich Feeser-Lichterfeld setzt sich mit seinen Überlegungen hierzu auseinander.
Wer das umfangreiche wissenschaftliche Werk des Pastoraltheologen Leo Karrer in den Blickt nimmt, erkennt sofort, wie sehr er „Erfahrung als Prinzip der Praktischen Theologie“ (so die Überschrift seines programmatischen Beitrags zum „Handbuch Praktische Theologie“[1]) begreift. Erfahrung, verstanden als ein in der Verschränkung von Begegnung und Verarbeitung stets „prozeßhafter Vorgang, bei dem sich die Wirklichkeit mir erschließen und ich mich ihr öffnen kann“[2], umfasst für Karrer ganz bewusst auch und insbesondere Selbst-Erfahrung, wenngleich deren Differenziertheit und Intensität „von der Echo- und Resonanzfähigkeit beim einzelnen Subjekt“[3] abhängen mag.
„Erfahrung als Prinzip der Praktischen Theologie“
Diesem Ansatz und damit sich selbst bleibt Karrer auch und vielleicht sogar ganz besonders in seinem neuesten Werk treu, einem „Versuch, die persönliche Rechenschaft über den christlichen Glauben […] im Prozess des Älterwerdens existentiell zu ‚verorten‘ und als konkrete Erfahrung zu stammeln“ (11). Aus Gesprächen, so stellt es der Verfasser gleich zu Beginn heraus, „mit den Verantwortlichen der Seniorenseelsorge der Bistümer in Deutschland, Österreich und Südtirol“ (11) erwachsen, hat das Thema „Älterwerden und Altsein“ ihn, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiern konnte, selbst stark „vereinnahmt“ und wurde für ihn persönlich zum „Durchlauferhitzer“ (ebd.).
Persönliche Rechenschaft über den christlichen Glauben im Prozess des Älterwerdens
Karrer folgt einem klaren roten Faden und richtet seine Aufmerksamkeit auf das vielschichtige und im gesamten Lebensverlauf zu entdeckende stete Werden des Menschen als Mensch und in seiner auf Gott bezogenen Existenz. Unterstützt und bereichert wird dieser Aufbau durch eingestreute Gedichte von Maria-Christina Fernández.
Der Einstieg möchte die Leserin und den Leser für diesen nicht selbstverständlichen Blick sowohl auf das eigene gelebte Leben, wie auf die noch verbleibende Lebenszeit sensibilisieren, um dann ein informatives Kapitel mit gerontologischen Basics folgen zu lassen. Im Folgenden fokussiert Karrer auf Fragen der Spiritualität beim Älterwerden. Er konturiert Spiritualität als einen „lebenslangen Prozess […], bei dem der einzelne Mensch ein sinnerfüllendes Verhältnis zu sich selber, zur Mitwelt und zur Umwelt sucht sowie zu gestalten versucht“ und damit als eine „in jeder Lebensphase unterschiedlich zu bestehende Lebensprobe der persönlichen Selbstfindung zwischen Aufbruch und Abbruch und zwischen Sich-Einlassen und Loslassen“ (49).
Spiritualität als lebenslanger Prozess
Damit erscheint Spiritualität weder sacht, noch risikolos, denn „[d]ieses Wagnis [hat] in guten und in schweren Tagen […] mit dem zu tun, was sich als Sinn oder Unsinn erweisen könnte“ (ebd.). Ab und an erlaubt sich der Autor kleine Hinweise auf seine eigene Sicht des Verhältnisses von „Spiritualität“ und „Kirchlichkeit“, beispielsweise wenn er die gegenwärtig stark ausgeprägte spirituelle Sehnsucht „im Kontrast zur teilweise resignativen oder müden Stimmung und zur geistlichen Austrocknung der kirchlichen Betriebsamkeit“ sieht und Kräfte erkennt, „die sich an Mystik und Solidarität, an der Sorge für die Schöpfung und an einer schwesterlichen und brüderlichen Kirche orientieren“ (51).
Spannung zwischen spiritueller Sehnsucht und geistlicher Austrocknung in der Kirche
Für mich persönlich sind die Kapitel 4 und 5 die stärksten Teile dieses Buches. In ihnen lotet Karrer aus, ob „es einen Weg bzw. einen Glauben [gibt], der Mut zu den Fragen des Daseins macht und Hoffnung für den Langstreckenlauf des Lebens weckt“ (70) – und inwiefern eine christliche Lebensorientierung dieses Potenzial hat. Als Meister der „Kurzformeln“[4] bringt er in bewundernswerter Weise Kernaussagen eines Glaubens zur Sprache, der auf das „Ich bin da“ Gottes vertraut und in Jesus Christus den „gelungenen Modelfall des Menschen“ erkennt, der offenbart, „was Gott mit uns vorhat, die er als freie Partner und Partnerinnen ruft“ (86f.). Damit ist klar: „Der Mensch ist gemeint“ (86), es geht um den Gekreuzigten, nicht um das Kreuz und das Leiden (96), es heißt „weg vom Grab, weg vom Einbalsamieren, weg von der Totenpflege“ (103), es fordert uns zum Handeln auf – auch und auf besondere Weise im Alter. „Man bleibt Mensch und wird Mensch“ (42), so leicht und dabei nicht einfach bringt Leo Karrer Hoffnung und Herausforderung auf den Punkt.
Karrer: ein Meister der Kurzformeln
Das Buch schließt mit einem „Plädoyer für Alterskulturen – durch und für ältere Menschen“ und mit einer Meditation zur in ihrer Mehrdeutigkeit wunderbar irritierenden Formulierung „Das Zeitliche segnen“. Aus den vielen hier von Karrer gegebenen Hinweisen auf Relevanz und Prophetie des Alters und der Alten bleibt in meinen Ohren klingen: „In diesem Horizont erhält auch das Altern eine Mut machende Tiefe, sich der konkreten Weite des Lebens zu öffnen und es in Dankbarkeit und als letzte Hingabe und Antwort zu wagen: ‚Ich bin da‘. Wir dürfen uns auf Gott verlassen, dass er nie von uns lässt. Dann wird auch der Mensch bei seinem Namen gerufen, indem er sich selbst mitteilt und verspricht: Ich bin der ‚Ich bin da und werde mit euch sein‘.“ Dazu fügt Karrer, wiederum ganz selbst-erfahrungsorientiert, an: „Und ich hoffe, dass ich das auch morgen sagen kann und dass diese Hoffnung auch dann trägt, wenn wir endgültig verstummen“ (139).
„Das Zeitliche segnen“
Wo Theologie sich mit dem Alter(n) befasst, greift sie gern und oftmals mit großem Gewinn auf die Sichtweisen und Zeugnisse alternder Theologen (zuweilen auch Theologinnen) zurück.[5] Auch Karrer tut dies, insbesondere wenn er immer wieder auf seinen Lehrer Karl Rahner Bezug nimmt. Vor allem aber beweist er mit diesem in meinen Augen ganz hervorragend gelungenen, weil anrührenden Buch selbst eine doppelte Expertise: als ausgewiesen erfahrungsorientierter Theologe und als Theologe mit der reflektierten Erfahrungen des eigenen Altwerdens und Altseins.
Anrührende Gedanken
Ob die von Leo Karrer formulierten Gedanken über den ursprünglichen Adressatenkreis der „Expertinnen und Experten“ für Altenpastoral auch für die bzw. den ohne „besondere“ theologische oder pastorale Biographie „einfach nur so“ alternde Frau und alternden Mann nachvollziehbar und hilfreich sind, wage ich nicht zu beurteilen – wünschen tue ich es diesen Menschen und dieser bemerkenswerten Publikation. Deshalb werde ich eine entsprechende Probe aufs Exempel machen und das Buch meinen Eltern zu ihren bevorstehenden 79. bzw. 80. Geburtstagen schenken. Auf deren „Rezension“ bin ich schon jetzt gespannt!
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Prof. Dr. theol. Dipl.-Psych. Ulrich Feeser-Lichterfeld
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen / Fachbereich Theologie
Professur für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Praxisbegleitung, Praxisforschung und Pastoralpsychologie, Paderborn
Bild: Keilidh Ewan / Unsplash
Cover: Verlag
Buchhinweis: Karrer, Leo (2017): Glaube, der reift. Spiritualität im Alter. Mit Gedichten von Maria-Christina Fernández. Freiburg im Breisgau: Herder Verlag.
[1] Leo Karrer, Erfahrung als Prinzip der Praktischen Theologie, in: Herbert Haslinger (Hg.): Handbuch Praktische Theologie. Band 1: Grundlegungen, Mainz 1999, 199–219.
[2] Ebd., 201.
[3] Ebd., 208.
[4] Vgl. Leo Karrer, Glaube in Kurzformeln. Zur theologischen und sprachtheoretischen Problematik und zur religionspädagogischen Verwendung der Kurzformeln des Glaubens, Mainz 1982; ders., Glaube, der das Leben liebt. Christsein als Mut zu wahrer Menschlichkeit, Freiburg/Br. 2014.
[5] Vgl. z.B. Peter Bromkamp, Wenn Pastoral Alter lernt. Pastoralgeragogische Überlegungen zum Vierten Alter, Würzburg 2015, 107-119.