Das Buch „Frauen in der iranischen Verfassungsordnung“1 der iranischen Juristin Parinas Parhisi erläutert Adrian Loretan.
In einer Radiosendung2 zum Thema „Wie universell sind die Menschenrechte“ hat der Schweizer Völkerrechtler Walter Kälin verlangt: Die Menschenrechte müssen in den verschiedenen Religionen theologisch begründet werden, damit individuelle Freiheitsrechte ihren Platz finden.
Wie ein religiöser Staat wie Iran nicht als „klerikale Theokratie“3, sondern als Institution der Freiheit gedacht werden kann, fragt Parinas Parhisi. In ihrer Dissertation unternimmt sie den Versuch, Frauenrechte und damit Menschenrechte in der iranischen Verfassung zu stärken. Ihr ist damit ein Handbuch der iranischen Verfassungsdiskussion gelungen. Kann ein nichtsäkularer Staat, der sich sehr eng an eine Religionsgemeinschaft bindet, Freiheitsrechte gewähren?
Einleitung
Einleitend zeichnet die Autorin verschiedene Facetten des westlichen Iranbildes. Iran gilt im Westen als Musterland einer islamischen Rechtsordnung, in der Frauendiskriminierung Programm ist. Nicht wenige assoziieren mit Iran Frauen im schwarzen Ganzkörperumhang (Tschador). Doch Frauenrechte darauf zu reduzieren wird der Komplexität des Themas nicht gerecht. Eine auf die Kopftuchpflicht fokussierte Sichtweise blendet aus, dass die gesellschaftliche Realität seit Jahren sich immer mehr von der Verfassung entfernt. Die Proteste anlässlich der Präsidentschaftswahlen 2009 haben gezeigt, wie Frauen und Männer um ihre Bürgerrechte und um Demokratie in Iran kämpfen.
Das westliche Bild einer „verstummten Gesellschaft“ entspricht nicht der Wirklichkeit.
Die vorliegende Untersuchung hat zum Ziel, verschiedene Denkschulen „ungeachtet ihrer politischen Durchsetzbarkeit zu rezipieren und zugleich das Dogma einer vermeintlich unwandelbaren Scharia zu hinterfragen“ (30)4. Der Begriff Islam wird im Kontext der in Iran herrschenden Staatsreligion in schiitischer Prägung gebraucht (17). Ist denn eine islamische Demokratie denkbar? Der Philosoph Jürgen Habermas hat sowohl mit der katholischen Kirche5 als auch mit dem Islam den Dialog aufgenommen. Nach seinem Iranbesuch hielt er fest: Das westliche Bild einer „verstummten Gesellschaft“ entspricht nicht der Wirklichkeit. „Während jede grössere Buchhandlung Teherans eine philosophische Abteilung mit Übersetzungen der Klassiker von Aristoteles bis Wittgenstein aufweist, würden wohl nicht wenige Europäer Ibn Sina (Avicenna) eher für einen Mann von al-Kaida denn für einen philosophischen Genius halten“ (19).
Vorgehensweise
Die vorzustellende Arbeit der iranischstämmigen deutschen Staatsbürgerin Parinas Parhisi6 überwindet stereotype Etikettierungen und zeichnet ein komplexes Bild der Frau im Iran. Die Autorin will zunächst den Ist-Zustand (de lege lata) der Frauenrechte wiedergeben. Die iranische Verfassung wird dabei nicht pauschal verurteilt, sondern es werden gekonnt deren Widersprüche aufgezeigt. Die Autorin diskutiert Verbesserungsvorschläge (de lege ferenda) für eine religiöse Verfassung mit einem Schariavorbehalt. Dazu kommen mentalitätsgebundene Werte des iranischen Kulturkreises. Die Herausforderung dieser Untersuchung liegt darin, dass die Autorin die Verfassung kontextgebunden diskutiert, „ohne wertende, qualitative oder quantitative Vergleiche zu Frauenrechten in Deutschland zu ziehen“ (29). Die Untersuchung will in methodischer Hinsicht, „die möglichen Potenziale der iranischen Verfassung unter besonderer Berücksichtigung inneriranischer Positionen“ darlegen.7 Wo Rechtsfiguren der deutschen Staatslehre herangezogen werden, geschieht dies lediglich zum besseren Verständnis (102). Kritik wird aus jener Warte geübt, welche sich globalen Menschenrechten verpflichtet fühlt und so ihre Gewährleistungsmöglichkeiten im Kontext der iranischen Gegebenheiten sucht (103).
Ein Diskurs auf Augenhöhe
Folgende drei Thesen prägen den Diskurs auf Augenhöhe:
1. Die Frauenrechte im Iran sind am Maßstab eigener soziokultureller Besonderheiten zu entwickeln.
2. Das Dogma der Unveränderlichkeit religiöser Vorstellungen hinterfragt die Autorin, um Normen nachhaltigen Korrekturen unterziehen zu können.
3. Der Rückgriff auf eigenes Kulturerbe – nicht nur auf die Religion – soll das Fundament der rechtlichen Überlegungen bilden.
Von diesen Thesen ausgehend will die Autorin einen tabufreien Diskurs im Lande und einen Dialog mit der westlichen Rechtskultur ermöglichen. „Denn der Diskurs auf Augenhöhe und ohne vermeintliche Überlegenheit … würde für beide Seiten fruchtbare Ansätze hervorbringen“ (31), so Parhisi.
Nicht der Islam per se ist der Grund für diskriminierende Frauenrechte im Iran, …
Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel enthält die Einleitung mit einer Annäherung an das Thema für westliche Menschen und die Vorgehensweise. Das zweite Kapitel entfaltet die kontextbezogenen Analysemethoden für die zwei Grundsäulen: schiitischer Islam und persische Kultur. Dann folgt ein Kapitel zur staatlichen Verfassungsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Frauenrechte. Im vierten Kapitel werden der inneriranische Verfassungsdiskurs und seine hermeneutischen Möglichkeiten zur Anpassung der Normen an die veränderte gesellschaftliche Realität der Frauen herausgearbeitet. Das fünfte Kapitel enthält eine Schlusszusammenfassung. Die Hauptthese der Arbeit hält fest: Nicht der Islam per se ist der Grund für diskriminierende Frauenrechte im Iran, sondern primär die orthodox reduzierte islamische Sichtweise des Staates und sekundär die sozio-kulturellen Normen der Gesellschaft.
Islamisches Recht
Das islamische Recht stellt kein einheitlich kodifiziertes Rechtssystem dar. Die Bedeutung des Korans für das islamische Recht ist vom Islamwissenschaftler Yvon Linant de Bellefonds mit der Bedeutung der Bibel für das kanonische Recht verglichen worden: Wer „alles muslimische Recht im Koran wieder finden [will], wird genauso aus der Fassung gebracht werden wie, wenn er hoffe, das kanonische Recht der katholischen Kirche allein unter Zuhilfenahme der [Heiligen] Schrift zu erlernen“ (45). Indem die Schiiten den Begriff Vernunft in ihre Rechtsfindung inkorporieren und diesen neben Koran, Sunna und spezifischem schiitischem Konsens anführen, schaffen sie ein neues Prinzip. Das islamische Recht schiitischer Prägung gewinnt dadurch Spielräume für die Interpretation der Normen (60). Die Differenzierung zwischen sakralem und daher unveränderbarem Recht (Scharia) und der islamischen Rechtswissenschaft als Menschenwerk ist der Kernpunkt der inneriranischen Diskussion um die Vereinbarkeit des islamischen Rechts mit den Frauenrechten. Folgt man diesem Ansatz, so wäre eine zeitgemäße Änderung der Frauenrechte in Iran möglich, ist die Autorin überzeugt. Wenn für die islamische Rechtswissenschaft schiitischer Prägung Recht auf Vernunft basiert8, dann müssten vor diesem Hintergrund Menschenrechte und damit Frauenrechte im Islam völlig akzeptiert werden, „sofern sie mit der (wohl islamisch geprägten) Vernunft vereinbar seien“ (70).
Die Differenzierung zwischen sakralem und daher unveränderbarem Recht (Scharia) und der islamischen Rechtswissenschaft als Menschenwerk ist der Kernpunkt der inneriranischen Diskussion um die Vereinbarkeit des islamischen Rechts mit den Frauenrechten.
Im islamischen Recht werden hauptsächlich zwei Rechte unterschieden: Die Rechte der Menschen sind diejenigen, welche allein dem Menschen zukommen. Die Rechte der Gemeinschaft werden als das Recht Gottes verstanden (72). Damit ist auch deutlich gesagt, wie das Verhältnis zwischen Kollektiv und Individuum gelöst wird, nämlich als enge Verbindung des Individuums mit der Gemeinschaft und deren Rückkoppelung mit Gott. Dies ist für den islamischen Kulturraum charakteristisch. Ob unter diesem Gesichtspunkt individuelle Menschrechte (z.B. Frauenrechte) gegenüber dem Kollektiv durchgesetzt werden können, scheint eher fraglich. Die Autorin stimmt dieser Aussage mindestens für das Verhältnis Staat–Religion zu: Denn „Religion als vermeintliche Identitätsklausel öffnet dem Staat Tür und Tor, … jegliche Missachtung der Menschenrechte durch den Scharia-Vorbehalt erfolgreich legitimieren zu können“9(97). Die staatliche Kontrolle bezüglich der Einhaltung religiöser Pflichten basiert auf der Annahme, dass die Nichteinhaltung derselben (z. B. wegen Religionsfreiheit) eine Verletzung der Religion darstellen würde.
Verfassungsdiskussion
Nach der vorislamischen Kulturgeschichte Persiens entwickelte sich seit dem 16. Jahrhundert ein Staatswesen, das sich mit dem Bekenntnis zur Schia von der mehrheitlich sunnitischen Welt abhob. Die vom Geistesleben der Europäer (parlamentarische Demokratie, Justizsystem, Industrialisierung, Pressefreiheit) begeisterten iranischen Botschafter traten öffentlich dafür ein, iranischen Frauen dieselben Fähigkeiten zuzubilligen, die sie bei europäischen Frauen vorfanden. Indes lehnte der schiitische Klerus aus Angst vor Autoritätsverlust alles ab, was aus der Welt der „Ungläubigen“ kam (104). Die konstitutionelle Ära zeigt die Auseinandersetzung zwischen Intellektuellen und dem Klerus über die europäische Verfassungsstaatlichkeit: Demokratie und Menschenrechte. Die iranische Verfassung ist eine Verknüpfung von religiöser und verfassungsmäßiger Herrschaftslegitimation (152). Eine radikale Modernisierung scheiterte an diesem Gegensatz zwischen säkularem und religiösem Lager. Die Notwendigkeit sozialer Veränderungen mündete in die konstitutionelle Revolution (1906–1911), welche die erste iranische Verfassung nach französischem oder belgischem Vorbild hervorbrachte. Dennoch wurde der Islam als Staatsreligion darin stark betont und der schiitischen Geistlichkeit eine dominierende Stellung eingeräumt. Die „Religionspolizei“ kontrollierte das Leben der Einzelnen, insbesondere der Frauen. Die Aufrechterhaltung der „Geschlechterapartheid“ (109) zeigte sich darin, dass die Frauen den Apostaten und Verbrechern gleichgestellt und so vom Wahlrecht ausgeschlossen wurden, sowie in diskriminierenden Ehe- und Scheidungsgesetzen, die von Frauenzeitschriften entsprechend thematisiert wurden.
In einem zweiten Schritt wurde die europäische Staatsform unter Reza Shah Pahlavi (1925-1941) und unter dessen Sohn Mohammad Reza Shah Pahlavi (1941-1979) durchgesetzt. Nach dem Vorbild Kemal Atatürks (1891-1938) wurde damit eine autoritäre Modernisierung versucht. Ein Negativbeispiel dieses Modernisierungskonzepts war die Kleiderordnung. Das gesetzliche Verbot der traditionellen Kleidung führte dazu, dass die Frauen aus religiös-traditionellen Familien das Haus nicht mehr verlassen konnten. Anders die Situation nach 1979. Aufgrund des staatlich verordneten Kopftuchgebots10 von 1981 wurde es auch Frauen aus religiösen Familien möglich gemacht, Zugang zu den Hochschulen zu erlangen. Sittlichkeit galt sozusagen als staatlich gewährleistet.
Aufgrund des staatlich verordneten Kopftuchgebots von 1981 wurde es auch Frauen aus religiösen Familien möglich gemacht, Zugang zu den Hochschulen zu erlangen.
Dies führte dazu, dass heute ca. 63% der Studierenden weiblich sind. 20% der Professuren der Universität haben Frauen inne. 2008 haben die meisten Fächer eine Männerquote eingeführt (205). An diesem Beispiel zeigt sich die Diskrepanz zwischen der Stellung der Frau in der Verfassung und der gesellschaftlichen Realität besonders deutlich.
Rolle der Religion im Staat
Dem Islam wird in der Verfassung von 1979 eine Ewigkeitsgarantie verliehen (119). Die Grundpfeiler der iranischen Verfassung sind religiöser Natur. So baut der Staat auf die Gottesfurcht seiner Bürger (122). Das staatliche Rechtsverständnis ist gemäß dieser Staatsideologie nicht säkular. Es beruht auf dem souveränen Willen Gottes und wird nicht primär durch die Akteure weltlicher Gesetzgebung legitimiert. Gott wird als einziger Souverän angesehen. Das Gemeinwohl11 und nicht das Individuum prägen diese Verfassung. Die Volkssouveränität stellt die Basis der demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsordnung dar. Die Umma dagegen geht von der umfassenden Gesellschaft aller Muslime aus und nicht von grundlegenden Rechten des Einzelnen.
Ayatollah Khomeinis Staatskonzept der „Statthalterschaft des Rechtsgelehrten“ beruht auf dessen gleichnamigem Werk. Er entwirft darin den islamischen Staat. Die iranische Verfassung ist ein hybrides System, das aus republikanisch-demokratischen und theokratisch-autoritären Elementen besteht. Der Staat verkörpert eine vom Klerus kontrollierte Hierokratie mit plebiszitären und republikanischen Elementen (125). Die äußere Form erinnert an eine westliche Verfassung, abgesehen von der garantierten Macht des Klerus. Der Klerus als Hüter der Verfassung kann diese nach eigenem Gutdünken auslegen. Kritiker des Klerus können dem Vorwurf der Apostasie ausgesetzt werden.
Die iranische Verfassung ist ein hybrides System, das aus republikanisch-demokratischen und theokratisch-autoritären Elementen besteht.
Seit 1990 gibt es im Iran einen lebhaften Diskurs über die Rolle der Religion im Staat. Damit wird die „Büchse der Pandora“ im islamischen Gottesstaat geöffnet. Die Frage, wie Tradition und institutionelle Moderne (Grundrechte, Demokratie) zusammen gedacht werden können, wird wohl auch denkerisch noch eine Zeitlang die islamische Welt beschäftigen. Beispielsweise sieht die iranische Verfassung die Rolle der Frau als Mutter und Gattin. Die gut gebildeten jungen Frauen, denen in diesem religiösen Rechtssystem die Rechte vorenthalten werden, werden hier wohl eine treibende Kraft sein. Sie werden das Recht auf Berufsfreiheit in Anspruch nehmen, das die iranische Verfassung geschlechtsneutral formuliert (178). Werden die islamischen Geistlichen dies weiterhin als Widerspruch zum Islam deuten können, um damit die Verfassung außer Kraft zu setzen?
Frauen in der Verfassung
Die Autorin bespricht die obersten Staatsorgane wie folgt: die Ämter des religiösen Führers und des Staatspräsidenten, die Islamische Versammlung, den Wächterrat12, die Expertenversammlung, den Schlichtungsrat. Sie stellt ernüchternd das Fehlen von gesellschaftlichen Freiheiten, sozialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit fest. Frauen haben keinen Zugang zu obersten Staatsämtern, da dies nicht vereinbar ist mit islamischen Grundsätzen (152).
So ist z.B. die Gleichheit von Mann und Frau im Verfassungsauftrag (…) explizit verankert.
In den Grundrechtspositionen der Frauen zeigt Parhisi einige Widersprüche auf: So ist z.B. die Gleichheit von Mann und Frau im Verfassungsauftrag (Art. 3 Ziff. 14) explizit verankert. Alle Gesetze wären demnach verfassungswidrig, die Männer und Frauen ungleich behandeln. Zugleich sind sie doch verfassungskonform, denn die Verfassung wird durch die Vorgaben des Islam faktisch außer Kraft gesetzt (157). Es ist nicht zu erwarten, dass der konservative Wächterrat die orthodoxen Auslegungen für nichtig erklärt und progressiven Interpretationen den Weg freimacht. Ein säkulares Verfassungsgericht existiert nicht. In diesem Sinne konnte der Gottesstaat ohne Probleme das „UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“ unterzeichnen (284).
Reformdiskurs
Die Verletzung der eigenen Verfassungsgarantien und des „UNO-Überein-kommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“ sind nur zwei Beispiele, die prominente Juristinnen wie Shirin Ebadi, Nobelpreisträgerin, im Iran und Mehrangiz Kar aus dem Ausland öffentlich anklagen. Die „islamische Theokratie“ (306) lehnt eine neutrale Staatsgewalt ab. Obwohl der Großteil der Bevölkerung über das gegenwärtige System enttäuscht ist, kann mangels Alternativen nicht von einer Instabilität des Systems ausgegangen werden. (307) Dennoch hat der Klerus begriffen, dass zwischen der politischen Überlebensfähigkeit des Systems und der Flexibilität eine Verbindung besteht. Auch Teile des Klerus fordern Säkularismus, wobei der Begriff nicht näher erörtert wird.
Pluralismus
In der Frage des religiösen Pluralismus13 in Iran kommt allerdings für Parhisi ein Problem zum Vorschein, das für die gesamte Debatte, die sie ausführlich darstellt, symptomatisch ist: der Anspruch auf Wahrheitsfindung. Tendenzen zu pluralistischen Vorstellungen sind vorhanden. Von einer gegenseitigen Anerkennung scheinen die Akteure allerdings noch weit entfernt zu sein. Für Parhisi ginge es darum, einen Prozess des gemeinsamen Lernens mit dem Ziel zu beginnen, einander als gleichberechtigt betrachten zu können. Damit ist eine Anerkennung von Differenzen gemeint. An der Wahrheitsfrage manifestieren sich die unterschiedlichen Auffassungen über die Rolle der Religion im Staat. Dies würde aber zu einer Relativierung des absoluten Wahrheitsanspruchs des Islams führen, der durch den Staat durchgesetzt wird. Wenn z.B. der Geistliche Kadivar auch andere Religionen toleriert, will er nicht darauf verzichten, den Islam als einzige und absolute Wahrheit anzusehen mit den entsprechenden Konsequenzen für das Islam-Staat-Verständnis. Für den Religionsphilosophen Soroush dagegen ist Religion eine Form subjektiver Interpretation und Erfahrung, welcher keineswegs Anspruch auf absolute Wahrheit zukommt.
An der Wahrheitsfrage manifestieren sich die unterschiedlichen Auffassungen über die Rolle der Religion im Staat.
Die Autorin konstatiert, dass der Kampf um die Deutungsmacht in der islamischen Welt weiter heftig geführt wird, weil die Religion auch heute noch die doktrinäre Basis muslimischer Gesellschaften darstellt und weil sie diesen ein kollektivistisches und kommunitäres Gepräge verleiht. Dies steht den Kulturen diametral entgegen, die eine individualisierte und privatisierte Form von Religion kennen (301). Ob der Islam in diesen muslimischen Staaten überhaupt einen Zugang zu individuellen Menschenrechten wie der Religionsfreiheit und dem damit verbundenen Pluralismus ausbilden kann, ist eine offene Frage. Wobei die Stimmen in der islamischen Welt sich mehren, die die Verwicklung der Religion mit der strukturellen Macht als problematisch erachten. (304)
Ausblick: Freiheit
Die französische Menschenrechtserklärung von 1789 bringt in Art. 16 Anforderungen an eine moderne Verfassung zum Ausdruck: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a point de constitution“14. Verfassung im modernen Sinn ist also ein normativer Begriff mit bestimmten Anforderungen an die Organisation eines politischen Gemeinwesens: Schutz der Grundrechte (d.h. der Menschenrechte, die durch die Verfassung garantiert werden), Gewaltenteilung (d.h. Macht beschränkende Organisation der obersten Instanzen). Eine weitere Forderung kam dazu: die Trennung von Religion, Staat und Gesellschaft. Davon ist in der iranischen Verfassung wenig zu sehen. Das Religiöse und das Moderne haben sich gemäss der orientalischen Verfasstheit der Gesellschaft miteinander verbunden. Der säkulare westliche Weg hat sich bisher im Orient nicht durchsetzen können.15
Das Religiöse und das Moderne haben sich gemäss der orientalischen Verfasstheit der Gesellschaft miteinander verbunden.
Charles-Louis de Secondat hat unter dem Pseudonym Baron de Montesquieu 1721 seine „Lettres Persanes“ veröffentlicht. Damit initiierte er in der europäischen Aufklärung einen Prozess der kulturellen Selbstbefragung. In seiner anonymen Schrift richtete er seinen unter anderem religionskritischen Blick auf die Sitten und Gebräuche der Grande Nation. Montesquieu ließ die zwei fiktiven Perser Rica und Usbek in ihren Briefen über die religiösen und politischen Verhaltensweisen der Franzosen des Ancien Régime berichten. Damals hatte auch in Europa der Staat für die richtige Religion einzustehen. Keinen Platz gab es für die individuelle Freiheit.
Mit ihrer Dissertation, mit der sie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Goethe-Universität Frankfurt promoviert wurde, lädt Parhisi ein, die „Lettres Persanes“ in umgekehrter Richtung fortzusetzen und am persischen Gespräch teilzunehmen. Der Suchprozess ihrer Dissertation bietet den Lesenden den Vorteil, sich selber in Freiheit auf den Weg zu machen und die Fragen zu diskutieren, wie die Grundrechte verstanden werden sollen im Zusammenspiel von Staat und Religionsgemeinschaften.
(Adrian Loretan; Bild: Innenkuppel der Lotfollah-Moschee in Isfahan by Uwe Drewes / pixelio.de)
Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals im Archiv für Katholisches Kirchenrecht 178 (2009) 532-541.
- Parinas Parhisi, Frauen in der iranischen Verfassungsordnung (= Verfassung und Recht in Übersee, Beiheft 24), hrsg. im Auftrag der Hamburger Gesellschaft für Völkerrecht und Auswärtige Politik, Berlin 2010. ↩
- Radio SRF2 Kultur, Sendung „Kontext“ vom 24. Mai 2010. ↩
- Vgl. Adrian Loretan, Religionen im Kontext der Menschenrechte, Religionsrechtliche Studien, Zürich 2010, 15. ↩
- Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die in Anm. 1 angegebene Publikation. ↩
- Vgl. Katholische Akademie in Bayern (Hg.), „zur debatte“. Themen der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 34 (2004). Hier sind die Stellungnahmen von Professor Habermas (2–5) und von Kardinal Ratzinger (5–7) abgedruckt. ↩
- Dr. iur., Lehrbeauftragte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; Referentin im hessischen Ministerium für Justiz, Integration und Europa. ↩
- Deshalb möchte man der Autorin raten, die Arbeit auch in ihre Muttersprache zu übersetzen, um diese Potentiale auch in die inneriranische Verfassungsdiskussion einzubringen. ↩
- Damit gäbe es einen Anknüpfungspunkt zur westlichen Rechtsphilosophie, z. B. zu Immanuel Kant. ↩
- Anders als der Gottesbezug in der deutschen Verfassung, welcher ein Ausdruck von „Religionsverfassungsrecht“ und damit des Bildes vom Menschen darstellt, ist ein Scharia-Vorbehalt in dem Vielvölkerstaat Iran, als ein starker Ausdruck der Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion, … eher als problematisch zu werten“ (97). ↩
- Ayatollah Khomeini betont die Freiwilligkeit im Hinblick auf die Befolgung islamischer Gesetze, so z.B. das Tragen des Kopftuches. Wenn islamische Vorschriften dem öffentlichen Interesse widersprechen, so sollte gemäß Khomeini auf diese verzichtet werden, was eine gewisse Flexibilität zum Ausdruck bringt. ↩
- Die Mündigkeit des Individuums ist nach der strikten Einbindung des Einzelnen in das Ordo-Prinzip des Mittelalters und nach dem Wohlfahrtsdiktat des Absolutismus gleichsam das Kennzeichen moderner Verfassungen. Aufklärung ist nicht Herausführung, sondern nach Kant der „Ausgang aus selbst verschuldeter Unmündigkeit“. Mit John Locke ist die Basis der Eigenverantwortlichkeit das Gewissen des Menschen. Diese Instanz kann aber nur funktionieren, wenn Staat und Recht nicht in sie eindringen. Vgl. Friedhelm Hufen, Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsrechts und der Rechtsphilosophie, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 3 (1992) 455-485, 474. ↩
- Hier haben sogar ein paar zivile Juristen Einsitz. Dies löste den Eindruck aus, dass das islamische Recht Mängel aufweise (147). ↩
- Kognitive Dissonanzen bzw. deren Verdrängung sind nach Habermas für eine fanatisch verhärtete Mentalität verantwortlich. Er plädiert daher für einen strengen Pluralismus aller Konfessionen, um nicht fanatisch verhärtete Mentalitäten zu fördern. Vgl. Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Frankfurt a.M. 2004, 18. ↩
- Zitiert nach Jörg Paul Müller, Die Demokratische Verfassung: zwischen Verständigung und Revolte, Zürich 2002, 87. ↩
- Z.B. John Rawls fasst den grundrechtsgebundenen Rechtsstaat wie folgt zusammen: Jede Person hat gleiche Rechte auf das umfangreiche Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten. Und: Freiheit muss gleich verteilt sein – selbst dann, wenn eine ungleiche Verteilung von weit größerem Gesamtnutzen wäre. Vgl. John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, dt. Politischer Liberalismus (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1642), Frankfurt a.M. 2003, 406. ↩