Das Verhältnis zwischen Religionsgemeinschaften und den Menschenrechten war schon immer ambivalent: Verträgt sich das Prinzip der Religionsfreiheit mit dem Wahrheitsanspruch der monotheistischen Religionen? – Der bekannte Religionssoziologe Hans Joas, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, widerspricht in diesem Zusammenhang einer viel diskutierten These von Jan Assmann: «Ein religiöser Wahrheitsanspruch ist als solcher nicht mit Gewaltbereitschaft verbunden», meint Joas. Benno Bühlmann sprach mit Hans Joas anlässlich einer internationalen Tagung zum Thema «Menschenrechte und Religionen» an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.
Herr Professor Joas, im Verhältnis von Religionen und Menschenrechten zeigt sich ein Spannungsfeld, das auch in der medialen Öffentlichkeit immer wieder Anlass zur Auseinandersetzung gibt. Wo sehen Sie in diesem Zusammenhang die grösste Herausforderung?
Prof. Hans Joas: Durch die zunehmende Verbreitung des Glaubens an die universale Menschenwürde und die Menschenrechte sind die Religionen selber unter einen bestimmten Rechtfertigungsdruck geraten. Das ist zwar nicht ganz neu, verstärkt sich aber dann, wenn sich eine Religionsgemeinschaft selber die Idee der Menschenrechte sehr stark zu eigen macht, wie das beispielsweise bei der katholischen Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil der Fall war. Auch im Protestantismus ist es nicht so, dass er unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschenrechte ganz zu seiner Sache erklärt hätte. Das sind natürlich alles sehr komplizierte Konstellationen, von den nichtchristlichen Religionen ganz zu schweigen. Allerdings handelt es sich um eine Entwicklung, die seit den 70er-Jahren und dann nach dem Zusammenbruch des Kommunismus immer stärker wurde.
Sie haben bereits die katholische Kirche angesprochen, die die Menschenrechte relativ spät – im Zweiten Vatikanischen Konzil – zur eigenen Sache gemacht hat. Wie lässt sich das erklären?
Joas: Die anfängliche Ablehnung durch die katholische Kirche hängt wesentlich damit zusammen, dass die Idee der Menschenrechte durch Papst Pius VI. als Ausfluss des Geistes der Französischen Revolution aufgefasst wurde, als Ausdruck einer kirchenfeindlichen Politik und einer blutigen Verfolgung: Wir dürfen nicht vergessen, dass tatsächlich während dieser Revolution Tausende von Priestern und Ordensleuten um ihr Leben gebracht wurden. Damals hatten weder die Revolutionäre noch der Papst die Idee einer authentischen Religionsfreiheit. Die eine Seite hat die Kirche verfolgt und die andere Seite fasste deshalb das gesamte Gedankengut als Rechtfertigungsideologie der Kirchenverfolgung auf, was zwangsläufig zu einem tragischen Zusammenstoss führte.
Damals hatten weder die Revolutionäre noch der Papst die Idee einer authentischen Religionsfreiheit.
Ich sehe die Französische Revolution immer im Vergleich zur amerikanischen Revolution: In Nordamerika waren die Revolutionäre nicht antichristlich und verfügten über die Idee einer staatlich verbrieften Religionsfreiheit. Demgegenüber hat sich im 19. Jahrhundert der tragische Frontenverlauf in Frankreich und im ganzen katholischen Europa fortgesetzt und teilweise noch verschärft. So wurden die Päpste bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein immer ablehnender, was auch im sogenannten Anti-Modernisteneid deutlich zum Ausdruck kam. Das führte dazu, dass sich ein Teil der Liberalen und der Arbeiterbewegungen in den katholischen Ländern vom Katholizismus abwendete, weil die Kirche damals als Inbegriff des Reaktionären galt.
Wie ist es dann später zum Meinungsumschwung in der katholischen Kirche gekommen?
Joas: Die katholische Kirche hat erst unter dem Eindruck des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus aus ihrer ablehnenden Haltung herausgefunden. Es gab dabei eine interessante Vorgeschichte, die etliche Jahre vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil unter Theologen – damals allerdings noch nicht auf der obersten lehramtlichen Ebene – einsetzte. Die Einstellung der katholischen Kirche den Menschenrechten gegenüber änderte sich zum ersten Mal durch Papst Johannes XXIII, der vorher apostolischer Nuntius in Frankreich war. Schon fünfzehn Jahre vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil entwickelte Angelo Roncalli im Zusammenhang der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein positives Verhältnis zu diesem Thema.
Wenn es um die Frage nach der Gleichberechtigung der Geschlechter geht, hat die katholische Kirche allerdings bis heute wichtige Prinzipien der Menschenrechtserklärung immer noch nicht umgesetzt. Sollte da etwa der Staat die Anwendung der Menschenrechte in Religionsgemeinschaften durchsetzen?
Joas: Ich bin katholischer Christ, aber sehr wohl Befürworter eines Frauenpriestertums. Und trotzdem wäre ich entschieden gegen eine staatliche Durchsetzung dieser längst notwendigen innerkirchlichen Reform. Ich gehe davon aus, dass heute in Deutschland oder in der Schweiz etwa 90 Prozent der Katholiken das Frauenpriestertum entweder unterstützen oder zumindest hinnehmen würden, wenn es käme.
Sollte der Staat die Anwendung der Menschenrechte in Religionsgemeinschaften durchsetzen?
Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass 90 Prozent der Katholiken Widerstand leisten würden gegen eine staatliche Durchsetzung. Das hängt auch mit schlechten Erinnerungen an die Zeiten des Kulturkampfes zusammen, als eben auch die liberalen Kräfte einen Veränderungsdruck auf die katholische Kirche ausüben wollten. Wenn Deutschland oder die Schweiz in die inneren Strukturen der katholischen Kirche eingreifen würden, können wir uns vorstellen, welche Eingriffe beispielsweise Länder wie China oder Vietnam für gerechtfertigt erklären würden…
Das Stichwort «Religionsfreiheit» stellt im Umgang mit den Menschenrechten wohl grundsätzlich eine Knacknuss für alle monotheistischen Religionen dar. Sind durch den exklusiven Wahrheitsanspruch die damit verbundenen Probleme nicht schon vorprogrammiert?
Joas: Das glaube ich nicht. Es gibt zwar eine grosse Debatte zu diesem Thema, die im deutschsprachigen Raum vor allem mit dem Namen Jan Assmann verbunden ist. Allerdings hat Assmann faktisch seine These inzwischen so weit modifziert, dass von seiner ursprünglichen These eigentlich nicht mehr viel übrig geblieben ist. Sie klingt in meinen Ohren schon fast tautologisch. Auf eine Kurzformel reduzidert, hiesse sie: Eine gewaltbereite Form von Religion ist gewaltbereit. Ich vertrete die Ansicht, dass ein Wahrheitsanspruch als solcher nicht mit Gewaltbereitschaft verbunden ist. Es trifft ja ebensowenig zu, dass mit einem philosophischen Wahrheitsanspruch Gewaltbereitschaft verbunden wäre. Meines Erachtens ist es gut, einen Wahrheitsanspruch zu haben. Aber man sollte demütig sein, was die menschliche Fähigkeit betrifft, die Wahrheit wirklich zu erreichen. Da teile ich die Auffassung des vor kurzem verstorbenen amerikanischen Philosophen Hilary Putnam: Selbstverständlich ist es für uns Menschen möglich, die Wahrheit zu finden, nur können wir nie ganz sicher sein, die Wahrheit gefunden zu haben. Diese Erkenntnis muss also unser Verhältnis zur Wahrheit prägen: dass wir letztlich nicht die Besitzer der Wahrheit sein können. Da besteht sicher eine gewisse Gefahr bei der katholischen Kirche, aber auch nur bei einem bestimmten Verständnis von Offenbarung.
dass wir letztlich nicht die Besitzer der Wahrheit sein können.
An welches Verständnis von Offenbarung denken Sie konkret?
Joas: An die Auffassung: «Uns hat Gott die Wahrheit als festen Besitz gegeben und unsere Aufgabe ist es nur noch, als Verwalter dieser Wahrheit die hunderprozentige Kontrolle darüber auszuüben.» Daraus folgt natürlich eine dezidierte Gegenerschaft gegen Religionsfreiheit. Da könnte ich aus eigener Erfahrung schildern, wie manche Priester in Bayern noch lange nach dem Konzil genau in diesem Sinne gepredigt haben: Es gibt keine Freiheit für die Feinde der Wahrheit.
Den wichtigsten Punkt sehe ich also nicht im Monotheismus, sondern in der Errungenschaft von «Transzendenz», wobei ich diesen Begriff nicht in dem etwas trivialen Sinne von «über den Augenblick hinaus denken» meine. Vielmehr gehe ich von einem starken metaphysischen Transdenzverständnis aus – und das gibt es nicht nur in monotheistischer Form. Und das sehe ich, offen gestanden, als Voraussetzung für einen Begriff von Menschheit und für so etwas wie moralischen Universalismus. Was aber nicht heisst, dass ein Verfechter ihre eigene Form des moralischen Universalismus für alleinseligmachend erklären dürften.
Was sagen Sie zur aktuellen Tendenz der Radikalisierung, wie wir sie derzeit in verschiedenen Religionen beobachten können – beispielsweise in der Ausprägung des so genannten Islamischen Staates?
Joas: Der sogenannte Islamische Staat hat mit einer Radikalisierung der Religion des Islam wenig zu tun. Es stimmt zwar, dass es immer wieder neue Formen extremer Intoleranz und der gewalttätigen Verfolgung derer gibt, die einer bestimmten Weltanschauung nicht zustimmen. Aber in der Bilanz des 20. Jahrhundert können wir sagen, dass die dominanten Formen nicht religiöser, sondern säkularer Art gewesen sind. Zu nennen wären da beispielsweise Namen wie Stalin, Mao oder Hitler.
Die dominanten Formen extremer Intoleranz im 20. Jahrhundert sind nicht religiöser, sondern säkularer Art gewesen.
Was den Islamischen Staat betrifft, ist es charakteristisch, wie viele Aktivisten dieser Terrormiliz Konvertiten sind, die vorher gar nicht besonders religiös waren. Sie fühlen sich vor allem von der Militanz und der Gewaltlust dieses utopischen Staatsbildungsprojektes angezogen. Es ist dabei sekundär, ob es sich um religiöse oder nichtreligiöse Formen handelt. Insofern ist es ganz wichtig, auf die Genese dieses Islamischen Staates zu schauen.
Sie würden also sagen, dass der Islamische Staat nicht allzu viel mit Religion zu tun hat?
Joas: Ich will nicht sagen, dass dieses Phänomen gar nichts damit zu tun hat. Ich glaube schon, dass es zum Beispiel zwischen der saudiarabischen Form des wahhabitischen Islam und anderen Formen sunnitisch-politischer Radikalisierung Zusammenhänge gibt. Für den Aufstieg des Islamischen Staates zu einer einflussreichen Kraft stehen jedoch ganz andere Faktoren im Vordergrund. Das wären ein paar wenige «Spinner» geblieben, wenn da nicht professionelle Militärs ihr Knowhow zur Verfügung gestellt hätten. Es handelt sich dabei beispielsweise um früher im Irak herrschende und später sich unterdrückt fühlende Sunniten.
In der Diskussion rund um die universale Verbindlichkeit von Menschenrechten wird immer wieder moniert, die Menschenrechte seien ein «westliches Konstrukt». Sie haben sich in einem 2015 erschienenen Buch mit dem Titel «Sind Menschenrechte westlich?» explizit mit dieser Frage auseinandergesetzt…
Joas: Ich bin ganz klar der Meinung, dass die Menschenrechte nicht einfach als westlicher Wert zu bezeichnen sind. Im erwähnten Buch habe ich die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass wir gerade, wenn wir die vermeintlich «abendländischen» Werte hochhalten wollen, ein realistisches Bild der Geschichte Europas und der Geschichte der Rolle Europas in der Welt brauchen.
«Sind Menschenrechte westlich?»
Ganz schrecklich ist, wenn wir in Europa so tun, als hätten wir doch diese unbezweifelbar großartigen Werte und seien gewissermaßen auch schon immer nahe an ihrer Verwirklichung gewesen, nur andere haben dafür kein Verständnis, und denen müssen wir jetzt versuchen, dieses Verständnis beizubringen, aber vermutlich haben die dann immer noch kein Verständnis dafür. Das sieht von der Geschichte zum Beispiel des Kolonialismus, von der Geschichte der Sklaverei und so weiter in einer Weise ab, dass es einem schwindelig werden kann. Ich neige eher dazu zu sagen: Wenn wir es ernst meinen mit Werten wie Gerechtigkeit und Demokratie, dann lasst uns ausserordentlich selbstkritisch auf unsere eigene Geschichte und wahrlich auch auf die gegenwärtige Rolle Europas oder der USA in der Welt blicken.
selbstkritsch auf unsere eigene Geschichte blicken
Die Frage, ob Menschenrechte überhaupt universalisierbar seien, wird heute immer noch kontrovers diskutiert. Was meinen Sie dazu?
Joas: Wir müssen vorerst präzisieren, was wir genau mit Universalität meinen. Nach meiner Auffassung kann das nicht bedeuten, dass alle Menschen diesen Wert teilen müssen, denn dann würde das auch für die europäischen Länder nicht gelten. In Deutschland gibt es Neonazis, die das nicht teilen – und die Nazis waren ja einmal die Mehrheit in Deutschland. Ich mache jeweils die Unterschiedung zwischen Trägern und Adressaten. Es geht bei dieser Frage letztlich um das Wohl aller Menschen: Alle Menschen haben dieselbe Würde und keiner kann sie verlieren. Aber diese Idee, dass alle Menschen die gleiche Würde haben, findet nicht notwendigerweise eine Mehrheit. Der historische Durchbruch zu dieser Idee von einer universalen Menschenwürde hat nicht nur in der jüdisch-christlich-religiösen oder griechisch-philosophischen Tradition stattgefunden, sondern in authentischer Weise auch im ost- und südasiatischen Raum.
Im Zusammenhang mit der gleichen Würde aller Menschen haben Sie auch den Begriff von der «Sakralität der Person» geprägt. Was verstehen Sie darunter?
Joas: Ich gebrauche für bestimmte Analysen bewusst die Begriffe «Sakralität» und «Sakralisierung» und meine damit: Es gibt in den Biografien von Menschen und der Geschichte von Kulturen immer wieder Siutationen, in denen sie zu dem starken Gefühl kommen, sie hätten jetzt erkannt, was ganz offensichtlich gut und was böse ist. Das geschicht in einer Weise, die sie so bewegt, dass sie zur Motivationskraft in ihrem Leben wird. Das kann beispielsweise die Überzeugung sein, dass Foltern etwas Böses oder die Sklaverei undenkbar ist.
«Sakralität der Person»
Mit «Sakralisierung der Person» meine ich, dass die Überzeugung sich durchsetzt, in jedem menschlichen Wesen sei ein sakraler Kern.
Sie betonen, dass es sich dabei nicht bloss um einen anderen Ausdruck für «universale Menschenwürde» handelt…
Joas: Ich habe bewusst diesen künstlichen Begriff eingeführt, weil «Menschenwürde» zu sehr nach christlicher Tradition klingt, der ich selber angehöre. Dieser Kunstbegriff enthält denn auch Anknüpfungsmöglichkeiten beispielsweise für Buddhisten, weil er nicht einfach aus einer einzelnen Tradition stammt.
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Joas ist Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor für Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und Professor am Department of Sociology der University of Chicago.
Am 2. Dezember 2016 sprach er an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern anlässlich einer internationalen Tagung zum Thema «Menschenrechte und Religionen. Nichtstaatliche Akteure und ihr Verhältnis zu den Menschenrechten» – einer Veranstaltung, die von der Professur für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht organisiert worden war.
Foto: ©Benno Bühlmann