Ein Jahr nach dem G20-Gipfel ist heute die Urteilsverkündigung im NSU-Prozess zu erwarten. Melanie Wurst denkt über Zusammenhänge nach, die sie erschaudern lassen und bei denen sie sich fragt, warum sie hier und in vielen anderen Medien nicht präsenter sind. Dabei gehen sie uns alle an.
Frankfurt/Offenbach, 27.6.: In den frühen Morgenstunden finden mindestens vier Hausdurchsuchungen statt. Gegen die Betroffenen, die sich mutmaßlich an den Gipfelprotesten in Hamburg #NoG20 beteiligt haben, liegen Haftbefehle vor. Manche sind noch minderjährig und werden deswegen später wieder unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen.
Valletta, 27.6.: Das Rettungsschiff Lifeline läuft in den Hafen ein. An Bord befinden sich circa 230 Geflüchtete und 17 deutsche Besatzungsmitglieder. Sechs Tage war das Schiff auf dem Mittelmeer an der Weiterfahrt gehindert worden. Die Passagiere wurden von Geretteten zu Eingeschlossenen. Die Situation auf dem Schiff wird für einige verletzte Geflüchtete lebensbedrohlich. Berlin und andere Kommunen bieten an, die Geflüchteten aufzunehmen – dies verhindert Innenminister Seehofer. Das Schiff wird nach dem Einlaufen auf Malta beschlagnahmt, gegen den Kapitän wird Haftbefehl erlassen.
Göttingen, 28.6.: Hausdurchsuchungen und Haftbefehle gegen Personen im Rahmen von #NoG20. Eine dieser Personen war zum angeblichen Tatzeitpunkt nachweislich in Japan.
Augsburg, 30.6.: Proteste gegen den AfD-Parteitag. Das neue bayerische Polizeigesetz kommt zur Anwendung: Eine Person aus der linken Szene wird als „Gefährder“ eingestuft und bereits am Dienstag „vorsorglich“ fünf Tage in polizeilichen Gewahrsam genommen. Gegen eine weitere Person wird ein „Betretungsverbot“ in die Stadt verhängt.
Berlin, 1.7.: Einigungsversuche im Unionskrach. Seehofer versus Merkel. Der Streitpunkt: Grenzabweisungen.
München, 3.7.: Letzte Worte der Angeklagten im NSU-Prozess. Die Prozesstage zuvor hielten die Anwält_innen von Beate Zschäpe in München ihre Abschlussplädoyers. Anwältin Sturm plädiert dafür, den NSU nicht als terroristische Vereinigung anzusehen, da keine terroristische Gefahr für die gesamte Bevölkerung ausgegangen sei. *Ist die migrantische Community nicht Teil unserer Bevölkerung?*
Düsseldorf, 7.7.: 20.000 Menschen protestieren gegen das nordrhein-westfälische Polizeigesetz.
Verschiedene deutsche und europäische Städte, 7.7.: Für die Aktion #seebruecke gehen 21.000 Menschen auf die Straße. Ihre Forderung: sichere Fluchtwege und die Entkriminalisierung der Seenotrettung. Im Juni 2018 sind 700 Menschen im Mittelmeer ertrunken.
Impressionen, die zu folgenden Überlegungen führen:
Am Mittwoch, den 11.7.2018, wird in München die Urteilsverkündigung im NSU-Prozess erwartet – begleitet durch Proteste des Bündnisses KeinSchlussstrich in München und vielen anderen Städten des Landes. Der NSU-Komplex gilt von polizeilicher Seite als „ausermittelt“, obwohl sehr viele Fragen noch ungeklärt im Raum stehen. Darauf machte vor einem Jahr das Tribunal NSU-Komplex auflösen aufmerksam: „Denn wesentliche Fragen sind ja nicht beantwortet: Wie groß war der NSU wirklich? Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz? Welche Verantwortung trug institutioneller Rassismus? Wir haben jetzt fünf konkret für die Taten Angeklagte. Aber auch der Staat gehört auf die Anklagebank. Diejenigen, die die Neonazi-Szene geschützt und gefördert haben, die Unschuldige verfolgt und Hinweise auf das Trio ignoriert haben.“ [1]
Gesellschaftliche und politische Problemlage.
Die SoKo „Schwarzer Block“ der Hamburger Polizei wartet hingegen mit zwei Öffentlichkeitsfahndungen und einer Verhaftungswelle zum Jahrestag der Gipfelproteste auf. Gleichzeitig gibt es trotz 155 eingeleiteter Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte bis jetzt keine einzige Anklage, 52 Verfahren wurden bereits eingestellt. Wohin soll das führen? In beiden Themenkomplexen kommt die gesellschaftliche und politische Problemlage des „Rechtsrucks“ zum Vorschein. Ja, es wurden in Hamburg auch Straftaten begangen, es wurden Dinge zerstört, ja, darüber erregen sich nach wie vor die Gemüter – gerade in den vielen Veranstaltungen und Reportagen zum Jahrestag der G20-Proteste. Und es sind dort auch unfassbar viele Verletzungen durch Polizeigewalt geschehen, körperlicher wie seelischer Natur, die viele Teilnehmer_innen wahrscheinlich ihr ganzes Leben bearbeiten müssen. Die kommen in den Aufarbeitungen kaum vor. Die Ereignisse vor einem Jahr wurden in den vergangenen Tagen von vielen Seiten beleuchtet, es gab Stimmen von Protestteilnehmer_innen, Anwohner_innen des Schanzenviertels, Polizist_innen usw.
Zugleich gab es wieder und wieder Debatten über angeblichen Linksextremismus. Interessanterweise wird die Aufmerksamkeit darauf oft von Menschen gelenkt, die eher von den in unserer Gesellschaft präsenten rechtsgerichteten oder rechtsextremen Positionen ablenken wollen.
Dass es einen „Rechtsruck“ in unserer Gesellschaft gibt, bestreitet wohl niemand mehr, dass dieser aber nicht stillschweigend hingenommen werden darf, weder in politischen Debatten, noch in Behörden, noch in unseren alltäglichen Begegnungen, sagt mir meine Vernunft und auch meine christliche Überzeugung.
Es entsetzt mich.
Es entsetzt mich, dass Vertreter_innen der deutschen und anderer europäischer Regierungen Debatten über die Abschottung Europas, Auffanglager in Nordafrika und „konzentrierte Zentren“ (eine Abkürzung wird da wohl schwer möglich sein) führen. Und das in Wochen, in denen fast 700 Menschen im Mittelmeer ertrinken und keine politische Verantwortung für das Sterben in den Wüstenregionen Nordafrikas übernommen wird. Es entsetzt mich, dass im Gegenteil Aktivist_innen, die sich in der Seenotrettung engagieren, kriminalisiert werden, natürlich nicht, weil sie Menschenleben retten, das wäre doch (noch) eine Spur zu zynisch, nein, weil sie irgendwelche Auflagen (im Fall der Lifeline die korrekte Registrierung) nicht erfüllen.
Auf die Straße.
Wollen wir in einer solch erbarmungslosen Welt leben? Diese Entwicklungen einfach so hinnehmen? Oder wäre jetzt nicht der Zeitpunkt, dass jede_r einzelne von uns aufsteht, rausgeht, sich bestehenden Protestbündnissen anschließt und so zumindest lauthals auf die Straße bringt: „Das will ich nicht. Ich stehe für eine Welt der Solidarität und der Achtung ein; finde nicht, dass es Menschen gibt, die weniger wert sind, und will nicht permanent menschenverachtende Kommentare aus Politik und Presse einfach so hinnehmen.“
Neben den genannten Aktionen KeinSchlussstrich zur Urteilsverkündigung des NSU-Prozesses am heutigen Mittwoch und den Aktionen der Seebrücke bietet sich auch eine gute Möglichkeit, für eine offene und solidarische Gesellschaft auf die Straße zu gehen: am 29. September in Hamburg bei der antirassistischen Parade We’ll come united.
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Autorin u. Foto: Melanie Wurst, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Kath. Theologie der Goethe-Universität Frankfurt
1 Mehmet Daimagüler, Vertreter der Nebenklage im NSU-Prozess, 2017, in: http://www.nsu-tribunal.de/unsere-anklage-einleitung/.
Weitergehende Informationen:
www.welcome-united.org/de/well-come-united
www.seebruecke.org
www.nsuprozess.net
www.nsu-tribunal.de