Viel gäbe es zu sagen über die vergangene Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar. Ein interessantes Nachspiel hat das Turnier derzeit wegen eines von Claudio Fabian Tapa – dem Chef des argentinischen Fußballverbandes – auf Twitter veröffentlichten Videos. Von Julian Müller.
Im Video1 erfährt der mehrfache Weltfußballer und Topstürmer Lionel Messi, der Argentinien zum dritten Weltmeisterschaftstitel führte, eine Darstellung als Jesus Christus. Messi erscheint als Messias.
Was sich für manche sicherlich als klarer Fall von Blasphemie ausnimmt2, dürfte anderen beim Durchscrollen eher ein müdes Lächeln abringen. Zwischen Hybris und Humor, Geschmacklosigkeit und Kreativität oder kurz zwischen „Wut-„ und „Lach-smileys“ dürften die Wogen in den sozialen Medien hin- und her branden. Vielleicht aber, so lautet die Vermutung, offeriert sich fernab dieser Dichotomie eine alternative Lesart. Eine, die mit der theologischen Strahlkraft säkularer Ereignisse rechnet und es vor diesem Horizont schafft, die vorgebrachte Message ernst zu nehmen, ohne ihr zeitgleich mit dem Vorwurf der Gotteslästerung aufzuwarten. Drei Schritte scheinen hierfür hilfreich:
Ist der Sport des ‚runden Leders‘ eine Religion?
Zunächst gilt es deutlich zu machen, dass eine Beantwortung der alten Streitfrage, ob es sich bei der schönsten Nebensache der Welt denn um ein Phänomen handelt, das als Religion bezeichnet zu werden verdient oder nicht, von dem Religionsbegriff abhängt, der jeweilig Anwendung findet. Für das an dieser Stelle Verhandelte scheint es allerdings nicht von Relevanz zu sein, ob der Sport des „runden Leders“ denn nun eine Religion darstellt oder weniger anspruchsvoll ein quasireligiöses oder auch religioides Kulturphänomen (Georg Simmel).3 Denn für die Spieler:innen und ihre Fans vermag er es, so oder so eine zutiefst ausgreifende Bedeutung zu entfalten. Fußball, so könnte man es auch ausdrücken, muss gar nicht erst zur Religion stilisiert werden, um ein theologisches Interesse zu wecken.4
Odysseus hätte das Steuerrad vermutlich nicht besser lenken können als der Pastoraltheologe Christian Bauer, der zielgenau zwischen der Skylla einer definitorischen Zugriff verlierenden Ausweitung des Religionsbegriffes und der Charybdis einer allzu strikten, Bodenhaftung einbüßenden Reservierung desselben für sakrale Wirklichkeiten hindurchsteuert, um mit der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils festzuhalten, dass auch immanente Erfahrungen bzw. säkulare Überschreitungspraktiken als eine Spur zur Transzendenz verstanden werden dürfen. Statt Grenzen implodierender Inklusion oder Grenzen betonierender Exklusion offeriert Bauer einen in Gaudium et Spes verbürgten dritten Zugang der „immanenten Transzendenzen des Lebens“5.
Die Hinordnung des Menschen auf Erlösung und Vollendung in Gott erweist sich schließlich als desiderium naturale (Thomas v. Aquin) oder als, um es mit der Begrifflichkeit eines für das besagte Konzil einflussreichen Peritus auszudrücken, übernatürliches Existenzial (Karl Rahner SJ) tief in den Bereich des „Allzumenschlichen“ eingesenkt. Was sich hier auf Erden ereignet, kann somit mitunter himmlisch anklingen und auf den ersten Blick banale Erfahrungen können vor diesem Hintergrund auf ganz Anderes und mitunter eben auch auf das:den:die „ganz Andere:n“ verweisen.6
Erwählung, Kreuzigung, Abstieg in das Reich der Toten, Auferstehung und Gemeinschaft mit den Jüngern.
Hierauf aufbauend gilt es in einem zweiten Schritt kenntlich zu setzen, weshalb Lionel Messi in dem veröffentlichten Video im Schnelldurchlauf einmal den Gang durchs Evangelium nimmt. Während im Hintergrund eine weibliche Stimme das Glaubensbekenntnis vorträgt, bekommen die Zuschauer:innen die passenden Szenerien aus dem Leben des Fußballstars, Erwählung, Kreuzigung, Abstieg in das Reich der Toten, Auferstehung und Gemeinschaft mit den Jüngern inklusive, ansprechend visualisiert. Was eingefleischten Fußballfans und Kenner:innen der argentinischen Leidensjahre hierbei womöglich schnell zugänglich sein dürfte, muss solchem eher Fernstehenden unter Umständen in ein, zwei Sätzen nahegebracht werden.
Die fußballverrückte Nation der „Himmelblauen“ (Albiceleste), die sich seit Jahren in politisch wie wirtschaftlich schwierigen Zeiten befindet, ersehnte seit 1986 einen Erfolg. Maradona, der aus vielen Gründen ambivalente und zurecht umstrittene Mann mit der Nummer 10, führte das Team zum damaligen Weltmeistertitel und lange sah es so aus, als würde dies seinem Nachfolger mit derselben, sagenumwobenen Rückennummer vorenthalten bleiben. Von Turnier zu Turnier schieden die Argentinier aus, häufig nur eine Handbreit vom Pokal entfernt (2014 bspw. verlor die argentinische Nationalmannschaft das Finale, da kurz vor dem möglichen Elfmeterschießen das 0:1 fiel). All die Jahre war Messi der absolute Ausnahmestar des Teams und sollte es für alle anderen richten. Den Druck, der hierdurch auf seinen Schultern lastete, sah man ihm und seinem Spiel an.
Statt einer Art Christus-Gestalt agierte Messi, unter dem Gewicht verzweifelnd, vielmehr als überforderter Christophorus und verkündete 2015 gar seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Doch er kam zurück und wurde in der Weltmeisterschaft 2022 nicht minder von seinen weitgehend jungen und somit unerfahrenen Mitspielern getragen, als er, fast schon paradoxerweise, sie trug. „Wir alle entscheiden uns zu glauben an den Einzigen, der es nicht glauben/ fassen kann.“ So lautet eine der Botschaften des Twittervideos.7 Die zahlreichen Tiefpunkte und Niederlagen werden in dem Beitrag nicht ausgespart, jedoch von der Perspektive des Auferstandenen ausgehend geradezu eschatologisch finalisiert.
Nicht zufällig reckt Messi Twitternutzer:innen den errungenen Pokal jubelnd entgegen, während das vorgetragene Credo bei dem Glauben an das ewige Leben angekommen ist. Hier macht sich jemand unsterblich und inkludiert all jene, die als Fans über die Jahre in einem Wechselbad der Gefühle aus Freude und Hoffnung, Trauer und Angst mit-litten, mit-verloren und nun endlich, am Zenit von Messis Karriere, mit-gewannen. Die in dem Twittervideo aufgewendete religiöse Symbolik rekurriert somit auf Erfahrungen von Spieler:innen und Fans, die von diesen als existenziell erlebt und wahrgenommen wurden. Immanente Transzendenzen des Lebens ereignen sich schließlich auch auf dem grünen Rasen. Zugleich aber, und dies ist entscheidend für eine sachgemäße Einordnung, verleiht dem Fußball die irdische Gravitation zwangsläufig Bodenhaftung. Als Sehnsuchtsort des schon und noch nicht zeugt bspw. gerade der Moment des glorreichen Triumphes eines Weltmeisterschaftsfinales, und zwar sowohl in seiner punktuell beschränkten Ereignishaftigkeit als auch seiner durch das Gefühl eines nunc stans und einer auf Wieder-holung ausgelegten memoria ausgeweiteten Zeitlosigkeit, von den Grenzen jeglicher irdischen Freude.
Nichts macht dies, mit Blick auf den Sieg einer Fußballweltmeisterschaft, so deutlich wie die kontrastive Gegenüberstellung folgender Bestimmungen: Ein Titel ist für die Ewigkeit. Nach dem Turnier ist vor dem Turnier. So stehen Mbappe und Messi bereits wieder Seite an Seite bei ihrem Verein Paris St. Germain während der weltumspannende Fußballtaumel schon lange verklungen ist und die unnötigen Stadien, an denen so viel Blut klebt, leer stehen oder abgebaut werden.8 Der Moment verblasst in seinem Aufblitzen und erweist sich als begrenzte Erfüllung. Nicht mehr. Aber, und dies ist das entscheidende Moment, eben auch nicht weniger.
Du hast deine Spuren in dem Leben von uns allen hinterlassen.
Ein dritter Schritt soll diesen Gedankengang abschließen und, durch einen Blick hinter das Finale zurück, abrunden. Als Lionel Messi nach dem gewonnenen Halbfinale gegen Kroatien von der Sportjournalistin Sofia Martinez interviewt wurde, rechnete er sicherlich mit einer abschließenden Frage, stattdessen aber erhielt er ein herzerwärmendes Statement. Martinez entlässt den lächelnd-gerührten Weltstar mit folgenden Worten in das entscheidende Spiel: „[…] Das Weltmeisterschaftsfinale steht an und sicher, wir alle (Argentinier) wollen den Pokal gewinnen. Ich möchte Dir aber sagen, dass es etwas gibt, dass Dir, völlig unabhängig vom Ausgang des Spiels, niemand nehmen kann und das ist der Umstand, dass Du eine Verbindung zu allen Argentiniern hattest. […] Es gibt kein Kind, das kein Trikot von Dir hat, sei es ein gefälschtes, ein echtes oder ein selbstgemachtes. […] Du hast deine Spuren in dem Leben von uns allen hinterlassen. Und das übersteigt, in meinen Augen, den Sieg eines Weltmeisterschaftsfinales. Ich hoffe wirklich, dass Du Dir diese Worte zu Herzen nimmst, denn ich glaube das ist so viel wichtiger, als einen Weltmeisterschaftspokal zu gewinnen und das hast Du schon.“9
Unwissend, ob eine weitere Niederlage gegen die stark besetzten Franzosen droht (2018 schied Argentinien ausgerechnet gegen Frankreich im Achtelfinale aus), unwissend ob seine Karriere somit als die „unvollendete“ endet und unwissend ob Argentinien (mindestens) weitere vier Jahre auf einen möglichen Sieg wird warten müssen, verabschiedete sich Messi von Martinez. Eines aber wusste er zu diesem Zeitpunkt der radikalen Kontingenz bereits: Für sie kann er gar nicht mehr verlieren. Wenn das eine adäquate Übersetzung jenes gnadentheologischen Zuspruchs von Gottes Gratuität in eine Sprache des fußballerischen Lateins ist, dann, ja dann wird man Lionel Messi wohl auch den GOAT (engl. Anfangsbuchstaben für „den Größten/ Besten aller Zeiten“) nennen dürfen.
Julian Benjamin Müller, Doktorand bei Prof. Dr. Schüßler in Praktischer Theologie in Tübingen.
Bild: Fabrizio Velez, pexels.com.
- Vgl. Selección Argentina auf Twitter, #TodosJuntos. „A un mes de esta inolvidable Copa del Mundo… Creamos, sigamos creyendo siempre. ↩
- Vgl. Katholisch.de, Messi, der Messias? Video zeigt Fußballstar als Jesus Christus. ↩
- Hierbei handelt es sich um religionsähnliche Vorstellungen und/-oder Handlungen. ↩
- Vgl. C. Bauer, Fußball als theologischer Ort. Nur die schönste Nebensache der Welt?: Herder Korrespondenz (17.12.2018). ↩
- Vgl. ebd. ↩
- Vgl. ebd. ↩
- Todos elegimos creer en el único que no se la cree. Übersetzung d. Verf. Selección Argentina auf Twitter, #TodosJuntos. ↩
- Vgl. R. Lorenzen, Nach der WM. Was wird aus den Stadien in Katar?: Panorama (20.12.2022). ↩
- J. Kenmare, A reporter told emotional Lionel Messi what he means to the world in beautiful post-match interview: SPORTbible (14.12.2022). Übersetzung und Hervorhebungen durch d. Verf. Die englische Übersetzung, von der die Übertragung vorgenommen wurde, lautet: „the World Cup final is coming and sure, we all (Argentinians) want to win the cup. I just want to tell you that no matter the result, there’s something that no one can take from you, and it’s the fact that you resonated with Argentinians, every single one. I’m being serious. There’s no kid who doesn’t have your team tricot, no matter if it’s a fake, real or a made up one. Truly, you made your mark in everyone’s life. And that, to me, is beyond winning any World Cup. I seriously hope you take those words into your heart because I really believe that’s more important than winning a World Cup and you already have it.“ ↩