Die Logik der Staatenordnung und ihrer Souveränitätsansprüche darf die Teilhabechancen der Armen nicht zunichte machen. Marianne Heimbach-Steins zu den migrationsethischen Impulsen der Enzyklika Fratelli tutti von Papst Franziskus.
Von unterschiedlichsten Not- und Bedrohungssituationen angetriebene Flucht- und Migrationsbewegungen sind ein prägendes Phänomen der globalisierten Gesellschaft und ihrer „komplexe[n] sozio-ökologische[n] Krise“ (Laudato si’ 139). Als eine Begleiterscheinung des globalen Kapitalismus provozieren sie die harsche Kritik von Papst Franziskus an einer ausschließenden Welt(wirtschafts)ordnung. Er wirbt für ein Ethos der „universalen Geschwisterlichkeit“ (Fratelli tutti) als Fluchtpunkt einer Neuorientierung, zu der er die ganze Menschheit aufruft. „Die Erde ist für alle da, denn wir Menschen kommen alle mit der gleichen Würde auf die Welt. […] Folglich sind wir als Gemeinschaft verpflichtet, dafür zu sorgen, dass jeder Mensch in Würde leben kann und angemessene Möglichkeiten für seine ganzheitliche Entwicklung hat.“ (Fratelli tutti 118)
Kritik an einer ausschließenden Weltwirtschaftsordnung
Das Axiom der gleichen Menschenwürde – theologisch reflektiert in den Topoi der Geschöpflichkeit und der Gotteskindschaft – verbindet sich mit der Solidaritätsmetapher der Menschheits- bzw. Schöpfungsfamilie (vgl. Laudato si’ 1-2). Diesem schöpfungstheologischen Grundmotiv korrespondiert die Widmung der Erdengüter zur gemeinsamen Nutzung für alle Menschen als fundamentaler Maßstab der (sozialen und wirtschaftlichen) Gerechtigkeit. Das allgemeine Nutzungsrecht hat Vorrang vor allen privaten Eigentumsansprüchen; auch die unternehmerische Tätigkeit soll der Vorrangregel des allgemeinen Nutzungsrechtes unterliegen (vgl. Fratelli tutti 120; 123). Auf die globalisierte Welt bezogen folgt gar die Erwartung, der allgemeine Teilhabeanspruch dürfe nicht durch politische Ausschließungsansprüche – wie sie sich mit der Souveränität von Nationalstaaten über ihre Grenzen verbinden – untergraben werden: „Niemand darf aufgrund seiner Herkunft ausgeschlossen werden und schon gar nicht aufgrund der Privilegien anderer, die unter günstigeren Umständen aufgewachsen sind. Auch die Grenzen und Grenzverläufe von Staaten können das nicht verhindern.“ (Fratelli tutti 121)
Nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen politisch definierten Territorien sind Zugehörigkeits- und Nutzungsrechte, Bürgerrechte und Teilhaberechte miteinander so zu korrelieren, dass der menschenrechtlich notwendige Zugang zu den Gütern gesichert werden kann (vgl. Fratelli tutti 124-125). Die vorrangige Gemeinwidmung der Güter betrifft auch die Beziehungen zwischen Staaten in Bezug auf Land und Ressourcen. „Wenn jeder Mensch eine unveräußerliche Würde hat, wenn jeder Mensch mein Bruder oder meine Schwester ist, und wenn die Welt wirklich allen gehört, ist es egal, ob jemand hier geboren wurde oder außerhalb der Grenzen seines eigenen Landes lebt.“ (Fratelli tutti 125)
Das Vorzeichen der Geschwisterlichkeit relativiert das Zugehörigkeitskriterium der Staatsbürgerschaft.
Das Vorzeichen der Geschwisterlichkeit relativiert das Zugehörigkeitskriterium der Staatsbürgerschaft und entgrenzt die Dimensionen gesellschaftlicher Verantwortung. Die menschenrechtlichen Teilhabeansprüche werden auf die Ebene der „Rechte der Völker“ übersetzt – mit der „Utopie“ eines solidarischen globalen Zusammenlebens: Wenn wirtschaftliche Not, ökologische Auszehrung, politische Verfolgung und Kriege nicht mehr die treibenden Kräfte der Migration wären, hätte Migration aufgehört, ein Problem zu sein. „Ideal wäre es, wenn unnötige Migration vermieden werden könnte, und das kann erreicht werden, indem man in den Herkunftsländern die Bedingungen für ein Leben in Würde und Wachstum schafft, so dass jeder die Chance auf eine ganzheitliche Entwicklung hat. Solange es jedoch keine wirklichen Fortschritte in diese Richtung gibt, ist es unsere Pflicht, das Recht eines jeden Menschen zu respektieren, einen Ort zu finden, an dem er nicht nur seinen Grundbedürfnissen und denen seiner Familie nachkommen, sondern sich auch als Person voll verwirklichen kann.“ (Fratelli tutti 129)
Eine Ordnung der Welt, welche allen Menschen annähernd gleiche Lebens- und Zugangsmöglichkeiten zu den notwendigen Gütern eröffnet, ist in weiter Ferne. Die Dynamiken des globalen Kapitalismus – samt den verbreiteten Phänomenen der Korruption und des Protektionismus – treiben Privatisierung und neokoloniale Inbesitznahme selbst basaler lebensnotwendiger Güter wie Wasser und Boden zu Lasten von Menschen in den Armutsregionen der Erde an und verschärfen die zerstörerischen Folgen des Klimawandels.
Weil gegen die (auto-)destruktiven Kräfte Wege der Teilhabe zur Befriedigung der humanen Bedürfnisse grenzüberschreitend geöffnet werden müssen, fordert Papst Franziskus ein Recht auf Freizügigkeit. V.a. mit der Betonung des Rechtes nicht auszuwandern (vgl. Fratelli tutti 38) knüpft Papst Franziskus an entsprechende Forderungen aus der Enzyklika Pacem in terris (25; 103-108) an. Neben die Argumentation mit einem doppelten Zugehörigkeitsrecht tritt nun aber – angesichts der massiv gesteigerten globalen Verflechtungen und der armuts- und klimabedingten Flucht- und Migrationsgründe – der Rekurs auf die sozialen und wirtschaftlichen Teilhaberechte im Sinne der Gemeinwidmung der Güter: Die Logik der Staatenordnung und ihrer Souveränitätsansprüche darf die Teilhabechancen der Armen nicht zunichtemachen. Sie muss deshalb ebenso wie das private Eigentumsrecht relativiert und durch ergänzende Zugehörigkeits- und Teilhabemodi überschritten werden.
Teilhaberechte in Sinne der Gemeinwidmung der Güter
Den Staaten und Gesellschaften, in denen Geflüchtete ankommen, erwachsen aus dem gleichen Teilhabeanspruch an den Gütern der Erde humanitäre Verpflichtungen, insbesondere jene Menschen, „die vor schweren humanitären Krisen fliehen“ (Fratelli tutti 130), aufzunehmen, zu schützen, zu fördern und zu integrieren (vgl. Fratelli tutti 129). Neben humanitären Hilfemaßnahmen werden die Gewährleistung grundlegender Persönlichkeits-, Teilhabe- und Justizgrundrechte für die Geflüchteten (Fratelli tutti 130), der Zugang zu Arbeit und Bildung sowie die Garantie der Religionsfreiheit gefordert. Zudem werden mit dem Recht auf Zugehörigkeit („Bürgerrecht“) für diejenigen, die schon länger in einer Aufnahmegesellschaft angekommen sind, um sie vor einem diskriminierenden „Minderheiten“-Status zu schützen (vgl. Fratelli tutti 131), Maßnahmen zur Legalisierung sog. irregulärer Migrant*innen bzw. die Chance eines Spurwechsels gefordert.
Weil die Entwicklung einer menschenrechtlich tragfähigen, Teilhabe sichernden und Diskriminierung vermeidenden Migrationspolitik die Ebene einzelstaatlichen Handelns überschreitet, ist eine umfassende und langfristige Migrations-Governance, die in internationaler Zusammenarbeit unter dem Vorzeichen des globalen Gemeinwohls entwickelt werde, notwendig (vgl. Fratelli tutti 132). Eine globale Ordnungspolitik, die sich der Verwirklichung der Rechte der Völker und dem Anspruch gleicher Teilhabe verpflichtet (vgl. Fratelli tutti 126-127), sei keine bloße Phantasie, sondern eine Herausforderung, die man annehmen könne, „wenn man als grundlegendes Rechtsprinzip akzeptiert, dass diese Rechte [der Völker, Erg. d. Autorin] aus der bloßen Tatsache des Besitzes einer unveräußerlichen Menschenwürde hervorgehen“ (Fratelli tutti 127).
Die universalistische migrationsethische Position des Papstes stellt nationale Schließungsansprüche zur Disposition.
Eine solche universalistische migrationsethische Position stößt hart an die Grenzen der Realpolitik und trifft auch in der sozialethischen Debatte nicht auf ungeteilte Begeisterung. Sie wendet sich fundamentalkritisch gegen scheinbare Selbstverständlichkeiten der eingespielten nationalen und supranationalen Ordnungen mit ihren vor allem auf Abschottung bauenden Migrationsregimen und setzt diese unter Rechtfertigungsdruck. Sie insistiert darauf, dass nationale Verteilungsordnungen und die Begrenzung von Schutz- und Teilhaberechten anhand des Kriteriums der Staatsbürgerschaft weder „natürlich“ gegeben sind noch per se als gerechtfertigt vorausgesetzt werden können. Sie sind gegenüber den humanen Ansprüchen der weniger begünstigten Menschen und Völker legitimationspflichtig – ihre Legitimität findet an den gleichen Teilhabeansprüchen der Ausgeschlossenen bzw. Marginalisierten eine Grenze. Wenn und solange es für bestimmte Menschen(gruppen) keine alternativen, menschenrechtlich gleichwertigen Zugänge zu den lebenswichtigen Gütern gibt, stehen nationale Schließungsansprüche nach dieser Logik zur Disposition.
Vorrang eines allen Menschen gemeinsamen Anspruchs auf Anerkennung der Würde, der Rechte und Teilhabechancen
In einer solchen Erwartung liegt erhebliches Konfliktpotential. Sie stellt die Annahme in Frage, es handle sich um einen illegitimen Angriff auf geltende Besitzverhältnisse. Ja, sie entzieht einer solchen Position den Boden der Legitimität, indem sie die Priorität eines allen Menschen gemeinsamen Anspruchs auf Anerkennung der Würde, der Rechte und Teilhabechancen geltend macht. Was im nationalen Rahmen grundsätzlich und grundgesetzlich als richtig und notwendig gilt, wird in einem konsequent global gedachten Rahmen zum Stein des Anstoßes.
Eine Öffnung für die Teilhabeansprüche der vielen Menschen, die heute als Geflüchtete und aus Not zur Migration Entschlossene in Länder des globalen Nordens streben, würde die Lebensverhältnisse und Erwartungen an soziale Sicherheitsstandards in den Wohlstandsregionen der Welt deutlich verändern – die Nachwehen des Herbstes 2015 in Deutschland geben nur einen blassen Vorgeschmack von den erwartbaren Ängsten und Verwerfungen, die mit einer Politik der Grenzöffnung einhergehen würden. Dabei weist auch die päpstliche Wortmeldung unmissverständlich darauf hin, dass die Wanderungen ja nicht die Lösung der globalen Teilhabe(un)ordnung darstellen, sondern eher ein Symptom derselben bilden und nachhaltig tragfähige Lösungen nur in einer grundlegend veränderten globalen Weltordnungspolitik erarbeitet werden können.
Die prophetischen Worte der Enzyklika als idealistische Traumtänzerei abzutun, verkennt den Wert dieser Utopie: Sie markiert die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels, um wahrzunehmen, was die Stunde geschlagen hat, und sie ermutigt dazu, im Potentialis zu denken, anstatt sich in der zynischen Retrotopie (Z. Bauman) des „Rette sich wer kann“ zu verschanzen, um noch einen weltgeschichtlichen Moment lang auf Kosten der Anderen zu überleben.
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Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins leitet das Institut für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.
Bild: Flüchtlingslager Moria, Sommer 2020 (Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.)