Migration bedeutet Veränderungen und Brüche im Leben von Menschen. Religion kann hier als Sinnressource von Migrantinnen und Migranten eine zentrale Rolle einnehmen, zeigt Eva Baumann-Neuhaus am Beispiel einer christlichen Migrantin in der Schweiz.
Migration bedeutet nicht nur Bewegung im geographischen Raum. Migration bedeutet auch einen Wechsel des kulturell-sozialen Kontexts, verbunden mit zahlreichen Erfahrungen von Diskontinuität. Wie religiös sozialisierte Menschen mit solchen Erfahrungen umgehen, wurde im Rahmen einer Studie mit christlichen Migrantinnen und Migranten in der Schweiz untersucht.
Erfahrung von Diskontinuität
Bewegung und Veränderung gehören zum Menschsein. Im Verlaufe seines Lebens durchläuft ein Individuum nicht nur Zeit und Raum, sondern auch biologische und biographische Prozesse. Geprägt von seinem sozialen Umfeld hat es gelernt, sich in der Welt, in der es lebt, zu orientieren und sein Leben zu gestalten. Doch dieses Leben verläuft selten linear oder nach Plan. Vielmehr ist es geprägt von Brüchen, Übergängen und Neuanfängen – gewollten und nicht gewollten.
Das Leben verläuft selten nach Plan.
Eingespielte Denk- und Handlungsordnungen, aber auch Lebensentwürfe werden irritiert oder geraten durcheinander und müssen neu ausgehandelt und eingeübt werden.
Prozess der Reorientierung
Auch die Migrationserfahrung gehört in die Reihe solcher Diskontinuitätserfahrungen, die nach einer Reorientierung verlangen. Wer sein Zuhause verlässt, sei es aus Not oder Neugier, aus Liebe oder beruflicher Leidenschaft, der wechselt nicht nur seinen Wohnort, sondern sieht sich bald konfrontiert mit zahlreichen Herausforderungen, die auch das persönliche Selbstverständnis tangieren. Das zeigt sich auch in den biographischen Interviews mit christlichen Migrantinnen und Migranten, die im Rahmen der Studie befragt wurden.
Diese Veränderung war für mich sehr, sehr hart. Als ich dann hier ankam, befand ich mich in einem Land, in dem ich wieder von vorn anfangen musste. Das war sehr hart für mich. In der Tat habe ich alles nicht wirklich verstanden.
Im neuen kulturell-sozialen Kontext treffen die Zugewanderten auf eine andere Sprache, unbekannte Gerüche und Essgewohnheiten, ein anderes Zeitverständnis und soziale Normen und Gepflogenheiten, die ihnen fremd sind. Fernab von Familie, Freundinnen und Freunden realisieren sie, dass eingespielte Denk- und Verhaltensroutinen nicht mehr oder nur noch teilweise greifen und dass das Alltagsleben in vielem seine Selbstverständlichkeit eingebüsst hat.
Diskontinuität muss sinn-voll verarbeitet werden.
Der neue Kontext verlangt nach einer Reorientierung und Reorganisierung des eigenen Tuns und Denkens. Es beginnt ein Regulationsprozess, im Zuge dessen die Betroffenen versuchen, die neuen und unvertrauten Erfahrungen mit dem bereits vorhandenen Wissens- und Erfahrungsrepertoire zur Passung zu bringen bzw. die vertrauten Deutungs- und Handlungsschemata mit den veränderten Bedingungen und Umständen in Einklang zu bringen. Damit verbunden ist in der Regel auch eine Redefinition des Selbst. In diesem Sinne wird die Migration für die Einzelnen zur biographischen Herausforderung.1
Religion als Sinn- und Ordnungstifterin
Gerade in Zeiten der Veränderung, Unsicherheit und Ungewissheit kann Religion als Ressource der Orientierung und Sinnstiftung eine ordnungsgenerierende Kraft entfalten, denn solche Erfahrungen lösen ein Bedürfnis nach Sicherheit, Ordnung, Trost und Sinnstiftung aus und verlangen nach einer Strategie der Deutung. Religion als Sinn- und Orientierungssystem hat die Kompetenz, auf jene Selbst- und Welterfahrungen zu reagieren, die geprägt sind von Ordnungsbrüchen oder Zuständen dauernder Transition, wie sie für viele Menschen in der globalisierten Welt von heute typisch sind.2
Glaube als Sinn-Ressource in den Lebensgeschichten christlicher Migrantinnen und Migranten
Zur Verarbeitung dieser Erfahrungen ist Religion zwar nicht zwingend, wo sie aber dem Individuum in Form von Deutungs- und Orientierungsmustern zur Verfügung steht, kann sie zu einer Ressource werden und biographische Relevanz entwickeln. Das zeigt sich auch in den Lebensgeschichten christlicher Migrantinnen und Migranten.
Suche nach dem grössere Ganzen
Die Suche nach einem grösseren Ganzen, dem die Befragten ihre eigenen Erfahrungen und Hoffnungen einordnen können, an dem sie als Individuen aber auch teilhaben, zieht sich durch alle Interviews. Dieses grössere Ganze finden manche in der Vorstellung eines göttlichen Plans, andere in der religiösen Gemeinschaft, im gesellschaftlichen Lebenskontext oder im persönlichen Lebensentwurf. Unterschiedliche Perspektiven auf das Leben manifestieren und verbinden sich dabei mit unterschiedlichen Strategien der Sinnfindung und biographischen Orientierung. Als Ordnungs- und Sinnstifterin übernimmt die Religion einmal eine zentrale, einmal eine de-zentrale und einmal eine marginale Rolle – immer jedoch bleibt sie als Teil der Biographie in irgendeiner Form im Spiel.
Religiöse Zentralperspektive: Der göttliche Plan
Sara etwa glaubt an einen Gott, der ihr nahe ist und einen Plan hat für ihr Leben. Mit diesem Gott ist sie in Kontakt, von ihm weiss sie sich beschützt, geführt und versorgt. Diese Überzeugung entlastet sie gerade in Zeiten des Umbruchs, wo vieles ungewiss und ungewohnt ist.
Schau dir Matthäus 6 an. Da steht, dass die Vögel sich nicht kümmern sollen, was sie morgen essen, die Blumen nicht, was sie anziehen sollen. Du musst jeden Tag einfach dankbar sein und machen und dich nicht kümmern um das Geld und alles und du musst nicht alles planen und alles im Griff haben, weil das gibt nur Stress. Ich bin überzeugt, dass Gott einen Plan hat, er hat mich immer begleitet.
Dem Menschen bleibt der Blick hinter die Kulissen zwar meistens versagt. Doch wenn Gott seine Hand im Spiel hat, muss alles seinen Sinn haben, ob die Dinge rund laufen oder nicht. Dieser Vertrauensvorschuss hilft Sara, in schwierigen Zeiten ganz speziell nach den Spuren göttlicher Fügung und Führung zu suchen. Was sie erlebt, versucht sie als Gottes Bewahrung und Führung, als göttliche Antwort auf ein Gebet oder als Glaubensprüfung zu verstehen.
Wenn Gott dich brauchen will, dann formt er dich zuerst. Oder, wie ein Instrument, dann tut er, wie sagt man, dich stimmen. Er will uns stärken. Weil, er braucht uns nachher, um andere zu stärken, um anderen zu helfen. Weil so lerne ich auch, weil der Herrgott will einfach das Beste für dich. Aber das Beste ist nicht immer das, was du denkst, dass es das Beste ist.
Nichts geschieht also umsonst. Doch der Mensch ist nicht nur Betroffener, sondern steht als Teilhabender am göttlichen Plan auch in der Verantwortung. Als Gegenüber Gottes und Beteiligter muss er in seine Bestimmung hineinwachsen und seinen Teil beitragen. Das bedeutet Veränderung.
Oft liegen dieser Perspektive auf das Leben und die eigene Bestimmung existentielle Brucherfahrungen zugrunde, die als Bekehrungserfahrungen erinnert und erzählt werden. So erinnert sich Sara an die wundersame Heilung ihrer lebensbedrohlich erkrankten Tochter und sieht darin das Eingreifen Gottes als Antwort auf ihr verzweifeltes Gebet. Die Gotteserfahrung hat ihre Perspektive auf das Leben verändert.
Ich glaube nicht mehr an Zufälle. Nie mehr. Für mich existieren die Zufälle gar nicht mehr. Und ich habe Gott gesagt: „Ich bin in deinen Händen und für alles, was ich geplant habe, schaust du.“
Auch wenn Fragen offen geblieben sind und Sara die Führung Gottes im Alltagsgeschehen oft nicht erkennen kann, so weiss sie sich doch aufgehoben. Mit Gott sieht sie sich in einer kommunikativen und kollaborativen Beziehung.
Und dann habe ich mich schon gefragt: „Mist, Scheisse… was mache ich hier in der Schweiz?“ Und dann habe ich nochmals gefragt: „Gott, willst du wirklich, dass ich hier bin?“ Und jetzt habe ich Frieden, ich spüre, dass Gott nicht will, dass ich von hier weggehe, denn irgendwie klappen die Sachen.
Das religiöse Sinnverstehen ermöglicht es Sara, ihr Handeln sowohl restrospektiv wie prospektiv zu legitimieren und sich als Gestalterin ihres Lebens wahrzunehmen.
Weil Gott, er ist immer da in einer gewissen Form und er sagt mir eben, was ich tun soll. Und wenn man folgt, dann hört man, was er sagt, dann… ja, irgendwie lenkt man das Leben selber, ja. Aber er hilft uns mit dem Lenken, oder? Er weiss, wohin es geht und dann hilft er einfach, oder? Er hilft uns, dieses Leben zu leben.
Bruch- und Unverfügbarkeitserfahrungen werden, aus dieser religiösen Zentralperspektive betrachtet, zu konstitutiven Elementen von Biographie. Indem sie Neuanfänge und Transformationsprozesse initiieren, helfen sie dem Individuum, in seine Bestimmung hineinzuwachsen. Das Bekehrungserlebnis als Prototyp aller Brucherfahrungen wird von den Betroffenen oft als Wendepunkt wahrgenommen. Die eigene Lebensgeschichte wird in ein Vorher und ein Nachher geteilt und die beiden Teile in ein sinnvolles Ganzes integriert, das als Plan Gottes deutlich wird.
Zwei Seiten der Medaille
Eine solche Perspektive kann das Individuum zu selbständigem und selbstbewusstem Handeln ermächtigen und gleichzeitig von der Last alleiniger Verantwortung und Zuständigkeit befreien. Die Dauersuche nach Sinn und Bestimmung, kann aber auch in einen Zwang zur Dauerlegitimation bzw. in eine religiöse Überhöhung der subjektiven Wahrnehmung führen, die sich schliesslich jeder Kritik und Kontrolle durch andere entziehen kann.
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Dr. Eva Baumann-Neuhaus ist Projektleiterin im Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut, SPI, in St. Gallen.
Bild: StockSnap auf Pixabay
Das Buch zur Studie, das im November 2019 erscheint, präsentiert anhand einer Typologie verschiedene religiöse Sinn- und Orientierungsmuster in den Lebensgeschichten von christlichen Migrantinnen und Migranten und stellt diese in den Kontext von Herkunft, konfessioneller Zugehörigkeit und Frömmigkeitsform.
- Alheit, Peter (2003): Biographizität als Schlüsselqualifikation. Plädoyer für transitorische Bildungsprozesse, in: QUEM-Report, Schriften zur beruflichen Weiterbildung, Heft 78, Berlin, S. 7–20. Ruokonen-Engler, Minna-Kristiina (2012): „Unsichtbare“ Migration? Transnationale Positionierungen finnischer Migrantinnen. Eine biographieanalytische Studie. Bielefeld. ↩
- Lübbe, Hermann (2004): Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral. München. ↩