Die Sinus-Milieu-Studien unterstützen seit knapp 40 Jahren die Wahrnehmung von Realitäten. Barbara Staudigl fragt, wie die vier Grunddienste der Kirche milieusensibel aussehen können.
Mich haben die Sinus-Milieu-Studien von je her fasziniert. Man weiß natürlich um die Unschärfen bei Verallgemeinerungen und Typisierungen – und dennoch helfen sie, die Wirklichkeit zu „vermessen“, die umgebende Gesellschaft einzuteilen und manches Irritierende, Fremde, aber auch Vertraute besser verstehen zu können. Seit 2005 gibt es in Kooperation mit dem Sinus-Institut auch Milieuhandbücher zur religiösen und kirchlichen Orientierung. Etliche Diözesen stellen ihren hauptamtlichen Mitarbeiter/innen Daten des Sinus-Marktforschungsinstituts kombiniert mit Standortdaten der Firma microm zur Verfügung.
Ich habe selbst einen spannenden Nachmittag damit verbracht, Sinus-Milieus in den Straßenzügen der Stadt, in der ich lebe, in den Dörfern der Diözese, zu der ich gehöre, zu orten. Die geostrategische Zuordnung von Milieus eröffnet tatsächlich einen anderen Blickwinkel auf die Umgebung, lässt neue Assoziationen zu – und ließe neue Zugänge zu Angehörigen der Milieus zu, ob man diese Analysen nun für Konsumverhalten, Bildung oder eben auch pastorale Zugänge auswertet.
Zeitgemäßes Kirchenmarketing in der Glaubwürdigkeitskrise?
Ziele der Milieuhandbücher zur religiösen und kirchlichen Orientierung waren ein zeitgemäßes Kirchenmarketing und eine milieusensible Pastoral. Mit dem ersten Ziel konnte ich mich nie anfreunden. Eine Kirche, die Marketing betreibt? Die Glaubwürdigkeitskrise der Kirche in den letzten Jahren hat doch offenbart, dass man nur verkaufen kann, was man auch auf Lager hat. Authentisch zu sein im Sinne des Evangeliums, wäre meines Erachtens die beste Marketing-Maßnahme. Das zweite Ziel hat mir immer gut gefallen: milieusensible Pastoral. Aber von je her hat mich immer auch der Zweifel beschlichen, ob das ernsthaft gewollt wird.
2021 hat das Sinus-Institut eine neue Milieu-Studie veröffentlicht und 2022 die Firma MDG auf dieser Basis den MDG-Trendmonitor: Religiöse Kommunikation 2020/211 vorgestellt. Die Ergebnisse sind deutlich: noch drei von zehn Milieus sind für kirchliche Angebote erreichbar.
Die roten Segmente in der Grafik sind die Kernzielgruppe, das lachsfarbene eine erweiterte Kernzielgruppe, die mittelblauen gelten als Potenzialgruppen und die hellblauen wären nur noch mit immensem Ressourceneinsatz zu erreichen.2
Kernzielgruppen
Zur gut erreichbaren Kernzielgruppe gehört das Konservativ-Gehobene Milieu. Angehörige dieses Milieus verstehen sich selbst als etablierte strukturkonservative Elite, die einen christlich-humanistischen Wertekanon vertreten: Tradition, Seriosität, Anstand, Autorität, Glaube und Religion. Postmodernem Zeitgeist und Wertewandel steht man kritisch gegenüber. Auffallend für dieses Milieu sind Führungs- und Exklusivitätsansprüche sowie eine meritokratische Grundhaltung: Man nimmt an, dass einem Privilegien auf Grund persönlicher Leistung und gesellschaftlicher Stellung zustehen.
Ebenso gehört das Traditionelle Milieu zur Kernzielgruppe. Es steht für die Welt der rechtschaffenen „kleinen Leute“. Klassische Werte sind Tradition, Heimat, Treue, Anstand, Sparsamkeit, Gehorsam, Frömmigkeit und Ordnung. Das Weltbild ist hierarchisch gefügt und geprägt von traditionellen Moralvorstellungen. Es ist im Hinblick auf die Mitglieder das älteste Milieu, das Pfarrgemeinde noch als Beheimatung empfindet.
Zur rotfarbenen Kernzielgruppe zählt auch das Nostalgisch-Bürgerliche Milieu, das eine untere Mittelschicht abbildet und sich selbst als Rückgrat der Gesellschaft sieht. Werte wie Ordnung, Treue, Gemeinschaft, Familie, Heimat, aber auch Leistungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft sind den Vertreterinnen und Vertretern dieses Milieus wichtig. Kirche wird als gesellschaftlicher Player akzeptiert, wenngleich es eine unterdurchschnittliche Bindung an die Pfarrgemeinde gibt.
Das lachsfarbene Postmaterielle Milieu gilt als erweitere Kernzielgruppe und zeichnet sich durch eine selbstbewusst-liberale Grundhaltung und Werte wie Toleranz, Weltoffenheit, Anti-Fundamentalismus, Pluralismus, Diversität und Ökologie, Bildung und Kultur aus. Das Verhältnis zur Kirche ist kritisch-distanziert: Es besteht Interesse an kulturellen und Bildungsthemen, aber Distanz gegenüber Hierarchie und anti-modernistischen Haltungen.
Potenzialgruppen
Zur mittelblauen Potenzialgruppe gehört zum einen das Adaptiv-Pragmatische Milieu. Angehörige dieses Milieus zeichnen sich durch ein hohes Maß an Nützlichkeitsdenken, Anpassungsbereitschaft und Sicherheitsbedürfnis aus. Sie gelten als bodenständig, aber nicht „altbacken“. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ihnen ebenso wichtig wie ein zeitgemäßer und alltagsrelevanter Lebensstil. Berührungspunkte zur Kirche gibt es kaum, das Verhältnis ist nicht kritisch, sondern gleichgültig, wobei man christliche Rituale im Kirchenjahr (Weihnachten, Ostern) oder Lebenslauf (Taufe, Hochzeit, Kommunion) mit in einen pragmatischen Life-Style integriert, ohne jedoch theologisch interessiert zu sein.
Eine zweite Potenzialgruppe stellt das Prekäre Milieu dar, das der Unterschicht angehört. Das Leben dieser Milieugruppe ist geprägt vom Bemühen um Anschluss an den Lebensstandard der breiten Mitte und von der Angst, gesellschaftlich marginalisiert zu werden. Wichtige Werte sind Geltung, Statussymbole, Respekt, Konsum, aber auch Redlichkeit und Bodenständigkeit. Das Verhältnis zur Kirche ist sehr distanziert.
Erreichbar nur mit hohem Ressourceneinsatz.
Die vier hellblauen Milieus sind auf der x-Achse stark in Richtung Neuorientierung ausgerichtet und gelten als Milieus, die kirchlicherseits nur mit sehr hohem Ressourceneinsatz zu erreichen wären. Hier finden sich auch von der Altersstruktur her die jüngsten Angehörigen.
Das Milieu der Performer/innen wird als effizienzorientierte und fortschrittsoptimistische Leistungselite definiert, das sich durch global-ökonomisches Denken und Werte wie Globalisierung, Individualität, Freiheit und Multioptionalität kennzeichnet. Technikaffinität und neue Medien gehören zum Life-Style. Sie sind überdurchschnittlich an gesellschaftlichen Themen wie sozialer Gerechtigkeit oder Umwelt- und Klimaschutz interessiert. Der Kirche stehen sie emotionslos und distanziert gegenüber.
Das Expeditive Milieu wird als urban, hip, digital, kosmopolitisch, vernetzt und unkonventionell beschrieben. Angehörige dieses Milieus sind mental, kulturell und geografisch mobil, Individualität, Kreativität, Diversität, Flexibilität und Selbstverwirklichung sind ihnen wichtig. Klassische kirchliche oder religiöse Themen sind für dieses Milieu nahezu irrelevant, jedoch sind sie interessiert an ethischen und weltanschaulichen Fragestellungen.
Das Neo-Ökologische Milieu wird 2021 erstmals beschrieben und gilt als „Treiber der globalen Transformation“. Die Angehörigen dieses Milieus sind einerseits pragmatisch und realistisch in der Einschätzung, „was geht“, andererseits hochsensibel für Werte wie Umwelt und Klimaschutz, Diversität, Gerechtigkeit, Toleranz, Freiheit und Selbstverwirklichung. Sie werden mit den Begriffen „Protest und Party“ umschrieben: Problembewusstsein auf der einen, Zukunftsoptimismus und Lebensfreude auf der anderen Seite. Die Distanz zu Kirche ist groß, sie gilt als antiquiert, konservativ-dogmatisch und resistent gegenüber Reformen.
Eine eher kleinere Gruppe gehört dem Konsum-Hedonistischen Milieu an, das sich durch Werte wie Freiheit, Freizeit, Entertainment, Events, Konsum, Luxus und Prestige auszeichnet. Sie sehen sich selbst als lässige Lebenskünstler/innen, die im Hier und Jetzt leben. Kirche gilt als bürgerliche, lust- und lebensfeindliche Institution.
Was nun?
Ich finde die Analyse ernüchternd und großartig. Was folgt nun? Welche Konsequenzen hat die Feststellung, dass Kirche die meisten Milieus nicht mehr erreichen kann, welche jene, dass nur noch zwei Milieus eine Bindung an die Pfarrgemeinde haben – was wohl nichts anderes besagt, als dass die vorherrschende Pastoral ausgesprochen milieuverengt ist. Nun kann man jammern über die Säkularisierung dieser Welt und Gesellschaft, in der Kirche keine Rolle mehr spielt. Man kann sich zurückziehen auf die zweieinhalb für Kirche noch aufgeschlossenen Milieus und eben nur traditionell und milieuverengt Kirche machen.
Der Missionsauftrag von Mt 28,19 lädt aber doch ein, hinauszugehen in die Welt, in die Gesellschaft und das Evangelium zu verkünden – wohl auch in eine Gesellschaft mit den eben beschriebenen Milieus. Mich würde interessieren, wie die vier Grunddienste der Kirche – Verkündigung, Liturgie, Dienst am Nächsten und Gemeinschaft – milieusensibel aussehen können? Welche Form der Liturgie, welche Rituale, welche Sprache, Musik würden sich Expeditive, Neo-Ökologische oder Konsum-Hedonist/innen wünschen? Und in welcher Form von Gemeinschaft würden sich Angehörige des prekären Milieus, die die Sorge der Ausgrenzung haben, wohl und beheimatet fühlen? Wie müsste der Dienst am Nächsten, der Dienst an der Schöpfung in den Augen der Neo-Ökologischen aussehen, damit sie sich angesprochen fühlen? Und wie müsste Verkündigung aussehen, um dem kritischen Blick und Ohr des Postmateriellen Milieus standzuhalten?
Natürlich ist es eine Herausforderung, Zugang zu den diversen Milieus zu finden. Wie erreicht man Expeditive, Konsum-Hedonist/innen, Performer/innen, Neo-Ökologische? Wo sucht man sie auf, wo spricht man sie an, wie lädt man ein und wohin? Und würden sie die Einladung zum Gespräch annehmen? Zuvorderst aber die Frage an die hauptamtlichen Vertreter/innen der verfassten Kirche selbst: Traut man dem Evangelium die Kraft zu, sich auch im Milieu der Expeditiven, der Performer/innen, der Neo-Ökologischen oder der Hedonist/innen zu entfalten, und wären Priester, die die Exklusivrechte für Gemeindeleitung und Liturgie haben, bereit und hätten sie die Kompetenzen, die vier Grunddienste milieusensibel zu gestalten?
___
Text: Prof. Dr. Barbara Staudigl, Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH), einer Fachakademie und Fachoberschule in München.
Bild: privat
- MDG-Trendmonitor: Religiöse Kommunikation 2020/2021. Einstellungen, Zielgruppen, Botschaften und Kommunikationskanäle, Freiburg 2021. ↩
- Die Darstellung der Milieus erfolgt auf Basis des Dokuments „Update der Milieubeschreibungen nach dem neuen Sinus-Modell 2022. Eine Expertise des Sinus-Instituts für die MDG, 12/2021, S. 9ff. ↩