Im Vorfeld des anstehenden Prozesses um eine weitere Schmerzensgeldklage im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch plädiert Philipp Thull für tiefgreifende Anpassungen der kirchlichen Verfahren und Anerkennungszahlungen durch die Deutschen Bischöfe.
Ab dem 2. Juli 2024 wird vor dem Landgericht Köln eine weitere Schmerzensgeldklage im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch verhandelt. Ursprünglich sollte der Prozess schon am 9. April beginnen. Die Forderung: 850.000 Euro. Mit diesem Verfahren setzt sich ein Kapitel der deutschen Rechtsgeschichte fort, das den Deutschen Bischöfen Bauchschmerzen bereiten, Opfern des furchtbaren sexuellen Missbrauchs hingegen aber endlich Gerechtigkeit bringen dürfte. Dass es sich keineswegs um eine vernachlässigbare Marginalie handelt und um mehr gestritten wird als Kaisers Bart, haben die meisten Bischöfe inzwischen begriffen; dass sich daraus ganz neue Maßstäbe bei der Zuerkennung von Schadensersatz ergeben, leider noch nicht so ganz.
Betroffene sollen den Weg
aus der erniedrigenden Rolle von Bittstellern finden
Dabei ist die Zeit reif, seitens der Deutschen Bischofskonferenz eine verlässliche Antwort auf die Frage zu formulieren, wie in Zukunft mit Entschädigungen der Opfer sexualisierter Gewalt umzugehen ist, und zwar so, dass die Anliegen der Opfer uneingeschränkte Berücksichtigung und Betroffene den Weg aus der erniedrigenden Rolle von Bittstellern finden.
Mutwilliger kirchlicher Whataboutism schürt eher Misstrauen
Wozu sollten sich die Deutschen Bischöfe in dieser Situation entschließen? Zunächst einmal sollten sie sich auf ein gemeinsames, Recht und Gerechtigkeit verpflichtetes Vorgehen einigen, dem jeder Anschein der Überheblichkeit und Willkür abhold ist. Bislang hat man eher nicht den Eindruck, allen Bischöfen sei daran gelegen, Opfern – freiwillig – zukommen zu lassen, was ihnen aufgrund leidvoller Erfahrungen und des oft lebenslangen Leidens wirklich zusteht – weder in rechtlicher noch moralischer Hinsicht. Immer wiederkehrende Verweise auf die Freiwilligkeit bisheriger Anerkennungszahlungen, die vermeintlich unzureichende Aufklärung in anderen Institutionen oder die Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit eigenen Handelns machen es nicht besser. Im Gegenteil! Unüberlegter oder mutwilliger kirchlicher Whataboutism schürt eher Misstrauen und verstärkt Zweifel an der Rechtstreue der katholischen Kirche.
Die Kirche haftet unbegrenzt für die Verbrechen und Vergehen,
die Kleriker und Laien in ihrem Dienst begehen
Daneben sollten die Bischöfe sich endlich eines klar machen: Die Kirche haftet für die Verbrechen und Vergehen, die Kleriker und Laien in ihrem Dienst begehen, und zwar unbegrenzt. Mit seinem wegweisenden Urteil aus dem Jahr 2023 hat das Landgericht Köln die Auffassung der herrschenden Lehre bestätigt und die Erzdiözese Köln für haftbar im Wege der Amtshaftung gem. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i. V. m. Art. 34 S. 1 GG erklärt. Dieses Urteil setzt in rechtlicher Hinsicht Maßstäbe, an denen sich künftige Entscheidungen orientieren werden; unumkehrbar geht der Trend zu hohen und höheren Entschädigungen, die die Anerkennungszahlungen als das hinter sich lassen, was sie immer waren und als was sie zurecht vielfach gebrandmarkt wurden, bloße Almosen ohne den Willen zu einem eindeutigen Schuldbekenntnis und -anerkenntnis nämlich. Andere Gerichte werden sich die vom Landgericht Köln vertretene Rechtsauffassung zu eigen machen und weitere Diözesen zur Leistung von Schadensersatz in vergleichbarer Höhe verurteilen. Darum wäre es besser, schon jetzt die Weichen zur Zahlung angemessener Wiedergutmachung zu stellen.
Seitens der Bischöfe hätte man sich längst
zu außergerichtlichen Verhandlungen einlassen müssen
Dass es nunmehr staatliche Gerichte sind, die feststellen, was gilt und was nicht, wie viel Opfern an finanzieller Entschädigung zusteht, mag im Rechtsstaat zunächst selbstverständlich erscheinen, in Wirklichkeit ist es aber das beschämende Ergebnis einer missglückten Anerkennungspolitik, die eigenes Versagen zu möglichst geringen Preisen übertünchen wollte. Opfer haben sich ja nicht deshalb auf den unwägbaren und kostspieligen Rechtsweg begeben, weil sie zuvor positive und zufriedenstellende Erfahrungen mit der Verhandlungsbereitschaft der katholischen Kirche in Deutschland gemacht haben. Um retraumatisierende Gerichtsprozesse zu vermeiden, hätte man sich seitens der Bischöfe aber längst zu außergerichtlichen Verhandlungen einlassen müssen. Nicht nur das staatliche, auch das kanonische Recht kennt diesen Weg des Ausgleichs widerstreitender Interessen. Ja, der universalkirchliche Gesetzgeber hält alle Gläubigen, insbesondere Bischöfe, gar dazu an, Rechtsstreitigkeiten nach Möglichkeit zu vermeiden und alsbald durch friedliche Einigung beizulegen, freilich ohne Beeinträchtigung der Gerechtigkeit (vgl. can. 1446 § 1 CIC/1983). Zudem befindet im kirchlichen Strafprozess der Ordinarius darüber, ob er mit Einverständnis der Beteiligten nach billigem Ermessen über die Schadensersatzfrage entscheidet (vgl. can. 1718 § 4 CIC/1983). Sehr befremdlich erscheint vor diesem Hintergrund die Berufung einiger Bischöfe auf die staatliche Rechtsordnung, während sie sich zugleich überzeugt zeigen, außergerichtliche Einigungen hätten etwas mit „Mauschelei“ zu tun, obwohl gerade das kirchliche Recht sie dazu anhält. Nehmen sie ihr eigenes Recht etwa nicht ernst? War es nicht die katholische Kirche in Deutschland, die – wie etliche Gutachten beweisen – noch bis vor einigen Jahren selbst systematische Vertuschung und Strafvereitelung betrieben und das Recht anderer mit Füßen getreten hat?
Schadensersatz, der angesichts erlittenen und anhaltenden Leids angemessen ist
Längst hätten deutsche Diözesen Opfern aus eigenem Antrieb heraus Schadensersatz leisten können, der angesichts erlittenen und anhaltenden Leids angemessen ist. Sie taten es in der Vergangenheit nur deshalb nicht, weil sie sich für begangene Taten nicht verantwortlich wähnten, weil sie Zahlungen in vierstelliger Höhe für großzügig und ausreichend hielten, weil sie nicht einsehen wollten, dass sie für Pflichtverletzungen ihrer Bediensteten haften, weil sie immer noch Ansehen und Schutz der Institution vor Leben und Wohl der Opfer stellen. Nun aber sehen sich die Bischöfe einer Klagewelle gegenüber, die den Opfern die ihnen zustehende Entschädigung bringen und übrigens auch zahlungspflichtige Unfall- und Rentenversicherungen zu etwaigen Regressforderungen gegenüber der katholischen Kirche in Deutschland veranlassen werden.
Sich eigener Schuld und kollektivem Versagen rechtlich stellen
Auch hinsichtlich der möglicherweise eingetretenen Verjährung im Einzelfall wäre ein gemeinsames Vorgehen der Bischöfe wünschenswert. Zur Entscheidungsfindung sollten sie sich die Frage stellen, ob es wirklich gerecht wäre, sich nunmehr, nach Jahren der Vertuschung, des Wegsehens, der Gleichgültigkeit, auf die Einrede der Verjährung zu berufen. Wäre es – allein schon mit Blick auf die eigene Glaubwürdigkeit – nicht ehrlicher und besser, auf die Einrede zu verzichten und sich eigener Schuld und kollektivem Versagen rechtlich zu stellen? Nur weil es die Einrede der Verjährung gibt, heißt das übrigens ja nicht, dass man sich in jedem Fall wirksam und mit Recht auf sie berufen darf. Die Verjährungseinrede schützt den nicht, der sich grob treuwidrig verhalten hat, schon gar nicht, wenn – wie im Falle der Kirche – von einer besonderen Treueprägung auszugehen ist (vgl. § 242 BGB); wenn es also bspw. deshalb nicht zur Klageerhebung kam, weil die Kirche Betroffene davon abgehalten oder weil sie durch aktives oder unbeabsichtigtes Zutun dazu beigetragen hätte, dass eine Klage nicht rechtzeitig erhoben wurde, kann sie sich heutzutage schwerlich darauf berufen, etwaige Ansprüche Betroffener seien verjährt. Im Klartext: Wer geltendes Recht beugt oder missachtet, kann sich später nicht auf die Verjährung berufen. Und noch etwas: Im Falle der kirchlichen Strafverfolgung der dem Glaubensdikasterium in Rom reservierten delicta graviora hebt die Kirche die Verjährung bereitwillig auf; warum soll dies nicht auch für die Entschädigung der Opfer gelten? Die Bischöfe sollten ein für alle Mal den Mut aufbringen, sich geschlossen für einen Verzicht auf die Verjährungseinrede im Zivilprozess festzulegen; damit setzten sie ein wichtiges Zeichen, mit dem verlorengegangenes Vertrauen zumindest ein Stück weit wieder aufgebaut werden könnte.
Sich um eine neuerliche Reform des Anerkennungsverfahrens mühen
Schließlich sollten sich die Bischöfe um eine neuerliche Reform des Anerkennungsverfahrens mühen, sofern es in seiner jetzigen Gestalt überhaupt beibehalten wird. Es ist zwar grundsätzlich zu begrüßen, dass Betroffenen seit dem 1. März 2023 die Möglichkeit zum Widerspruch gegen Entscheidungen der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) gegeben ist. Jedoch krankt das gegenwärtige Verfahren immer noch an zu vielen Schwachstellen, die es insgesamt in Frage stellen: Aufgrund welcher Kriterien werden Entscheidungen überhaupt getroffen? Wie kommen Entscheidungen zustande? Ist die Kommission unabhängig? Bleibt sie am Ende des Tages nicht doch abhängig von den Bischöfen, die die Mitglieder ausgewählt und beauftragt haben? Nach welchen Gesichtspunkten werden Mitglieder bestimmt? Wie kommt es eigentlich, dass der Name der Kommission sehr stark an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs erinnert? Warum erhalten Betroffene nicht uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Akten? Woran orientiert sich die Höhe bisheriger Anerkennungsleistungen? Warum gibt es bislang keine Möglichkeit zur Auszahlung von Rentenleistungen? Warum wird Opfern nicht zusätzlich und aktiv die Möglichkeit einer zivil- und kirchenrechtlichen Schadensersatzklage offeriert, wenn ein Vergleich für manche Bischöfe undenkbar erscheint? Auch das kanonische Recht sieht die Schadensersatzklage ausdrücklich vor (vgl. cann. 1729-1731 CIC/1983)! Solange es keine Kommission gibt, die wirklich unabhängig und mit höchstmöglicher Transparenz agiert, wird es keine Befriedung zwischen Bischöfen und Opfern geben können. Die UKA, wie sie sich derzeit präsentiert, bleibt als Ausführungsorgan einer zögerlichen und in der Summe viel zu geringen Anerkennungspraxis völlig ungeeignet, Gerechtigkeit auch nur ansatzweise wiederherzustellen. Die Deutschen Bischöfe sollten endlich vom symbolischen Anerkennungsverfahren wegkommen und den Weg zum opfernahen Vergleichs- und Entschädigungsverfahren ebnen. Zahlungen in sechsstelliger Höhe dürften in vielen Fällen nicht zu hoch sein. Es bleibt die Frage, ob die aktuellen Bemühungen dem Anspruch des kanonischen Rechtes auf Wiederherstellung der Gerechtigkeit und Wiedergutmachung (vgl. can. 128 CIC/1983) genügen.
Skepsis nach wie vor angebracht
Aus Sicht von Juristen und Kanonisten bleibt Skepsis nach wie vor angebracht. Dass Opfer des sexuellen Missbrauchs immer noch an begangenen Verbrechen leiden, macht zutiefst betroffen. Dass die Fortdauer ihres Leidens ausgerechnet durch die mangelnde Bereitschaft vieler – nicht aller – deutscher Bischöfe zu angemessenen Entschädigungsleistungen verstärkt wird, fordert zur Unterstützung Betroffener bei der Umsetzung rechtlicher Ansprüche und zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit heraus.
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Philipp Thull, Dr. theol. habil. Lic. iur can. M. Ed., ist Privatdozent für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Fulda. Er arbeitet als Lehrer für Deutsch, Ethik und katholische Religion.
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