Am 4. Juni wird in Budapest ein Buch erscheinen, dessen Titel auf Deutsch Dafür gibt es keine Vergebung – Sexuelle Raubtiere in der Kirche lautet. Es ist das erste Buch in Ungarn, in dem Missbrauchsopfer, die durch katholische Priester spirituell und sexuell misshandelt wurden, ihre Leidensgeschichten öffentlich erzählen. Dieses Buch wurde von Rita Perintfalvi, einer ungarischen katholischen Theologin geschrieben, die an der Universität Wien promoviert hat und derzeit an der Theologischen Fakultät der Universität Graz als Postdoc-Universitätsassistentin arbeitet. Hier berichtet sie über den Weg bis zu dieser Veröffentlichung.
In meinem Heimatland existiert bis jetzt weder eine theologische, noch eine psychologisch-psychiatrische Aufarbeitung des Themas spiritueller und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Es ist trotz der in den letzten ein, zwei Jahren eingeführten kirchlichen Maßnahmen bis heute immer noch stark tabuisiert. Deswegen ruft das Buch schon vor seiner Veröffentlichung äußerst heftige Reaktionen im medialen Bereich hervor und ich werde als Autorin von vielen regierungsnahen und rechtskonservativen Medien vehement angegriffen.
Heftige Reaktionen schon vorab
Wenn man die Frage stellt, wo die ungarisch-katholische Kirche momentan in der Auseinandersetzung mit der Problematik des sexuellen Missbrauchs steht, ist zunächst die Kommunikation und Rhetorik der Kirchenleitung zu erwähnen. Nach dem Missbrauchsgipfel im Vatikan 2019 war die offizielle Kommunikation ‒ ähnlich wie früher in den deutschsprachigen Ländern vor dem Ausbruch der ersten Missbrauchsskandale ‒ im eigenen Kontext abwiegelnd, obwohl die Skandale im angelsächsischen Raum bereits die wahre Tiefe des Problems schonungslos gezeigt hatten.
Der Vorsitzende der ungarischen katholischen Bischofskonferenz, András Veres, sagte nach dem Missbrauchsgipfel in einem Interview, dass er von etwa einem Dutzend Missbrauchsfällen seit 2012, in diesem Jahr wurde er Vorsitzender der Bischofskonferenz, gehört habe, aber er kenne persönlich keinen Fall und kein Opfer. In seiner Argumentation betonte er, dass sowohl der ungarische Mensch als auch die ungarische Kultur kinder- und familienfreundlich seien und es deswegen kaum solche Fälle gäbe ‒ im Kontrast zu den liberalen westlichen Ländern, wo dieses Problem sehr virulent sei. Der Hauptgrund für den sexuellen Missbrauch in West-Europa seien der Liberalismus und das liberale Menschenbild. Seines Erachtens seien in Ungarn während der kommunistisch-sozialistischen Diktatur solche Fälle durch die politische Polizei verhindert worden.
Eine erste Stimme
Trotz der starken Tabuisierung hat die ungarische Gesellschaft dank der Arbeit einiger investigativer Journalisten, vor allem von Péter Urfi, seit 2016 jedoch von einigen konkreten Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche erfahren. Im Februar dieses Jahres hat das allererste Opfer, Attila Pető, seine Leidensgeschichte öffentlich im Online-Fernsehkanal Partizán erzählt. Diese Geschichte rief in der Gesellschaft sehr heftige Reaktionen hervor. Obwohl Pető vor 20 Jahren durch einen katholischen Priester sexuell missbraucht wurde und dieser Priester später (nur) durch ein kirchliches Gericht verurteilt wurde, klagte die Erzdiözese Esztergom-Budapest jedoch ihn, also das Opfer, gerichtlich an. Nach dieser Anklage belästigte Pető mehrere kirchliche Personen durch Telefonate, SMS und auch persönlich. Nach seinem Dafürhalten wollte er damit aber nur erreichen, dass eine verantwortliche Person in der Kirche ihm endlich zuhört, die damaligen Fehler bei seinem Verfahren korrigiert und sich für die erlittenen Ungerechtigkeiten bei ihm entschuldigt. Das Gerichtsverfahren läuft gerade und eben in diesem Kontext erscheint mein Buch mit zehn weiteren Opfererzählungen und fachlichen Analysen.
Wie ist dieses Buch entstanden?
Als Papst Franziskus im Jahr 2019 eine Konferenz über sexuellen Missbrauch in der Kirche einberief, begann ich, mich mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs theologisch auseinanderzusetzen. Zuerst schrieb ich einige Texte für die bereitere Öffentlichkeit. Ich war durch die Worte des Papsts zu diesem Thema tief berührt und motiviert. Da ich seit 2002 teilweise in Österreich lebe, 2014 an der Universität Wien promoviert habe und seit 2019 an der Universität Graz als Postdoc-Universitätsassistentin angestellt bin, kenne ich das Missbrauchsthema im deutschsprachigen Raum gut. Deswegen habe ich am Ende meiner Artikel immer einen kurzen Aufruf geschrieben, dass ich den Opfern gerne zuhöre, wenn sie mich als eine katholische Theologin mit offenem Herzen brauchen. Obwohl ich keine Psychologin bin, habe ich früher viel Psychologie und auch ein wenig Psychiatrie studiert. So war für mich die Situation, jemandem zuzuhören, der von schlimmen Erfahrungen spricht, nicht ganz fremd. Gleich am ersten Tag haben mich zwei Opfer per E-Mail angeschrieben.
Da ich als Theologin seit 2015 in Ungarn als eine öffentliche Person gelte, fragten mich auch einige Journalisten wegen Interviews zum Missbrauchsthema an. Ich habe auch diese Möglichkeiten genutzt, um zu verbreiten, dass ich weiteren Opfern sehr gerne zur Verfügung stehe. So hat alles angefangen. Bis heute habe ich 35 Opfer entweder durch persönliche Gespräche oder durch Telefonate und E-Mails kennengelernt. Natürlich kenne ich nicht alle Opfer sehr gut. Einige wollten mir einfach in einer E-Mail oder in einem Gespräch ihre Geschichte erzählen. Aber die zehn Personen und ihre Geschichten, die im Buch aufscheinen, habe ich durch mehrmalige Gespräche sehr intensiv kennengelernt. Nach einer Weile stellte ich auch ein Team aus zwei Psychologinnen, einem Strafanwalt und einem Medienanwalt zusammen, die, wenn notwendig, mir und auch den Opfern helfen können.
Hoffnung auf Sensibilisierung
Da meine Arbeit mit den Opfern in Ungarn relativ schnell bekannt wurde, hat mich der Verlag Kalligram kontaktiert und eingeladen, über dieses gesellschaftlich sehr relevante Thema ein Buch zu schreiben. Damals dachte ich, dass ich durch ein Buch noch mehr Sensibilisierung erreichen könnte, und habe deswegen das Angebot gerne angenommen. Und ich habe nur diejenigen Opfer ins Buchprojekt involviert, die wirklich aus ihrer wortlosen und ohnmächtigen Situation heraustreten wollten. So konnte ich sie aus ihrer Ohnmacht befreien und sie wieder handlungsfähig machen. Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Heilung.
Ich mache diese ganze Hilfsarbeit mit den Opfern ehrenamtlich, in meiner Freizeit. Ich habe von der ungarisch-katholischen Kirche keine Unterstützung bekommen, weder finanziell noch moralisch. Aber ich leide schon seit drei, vier Monaten unter vielen aggressiven medialen Angriffen und Anfeindungen. Jetzt vor der Veröffentlichung des Buches wurden diese Attacken noch verschärft. War es früher jede Woche, so ist es jetzt schon fast täglich, dass ein Journalist der sich katholisch oder christlich-konservativ nennenden, tatsächlich aber regierungsnahen Zeitschriften über mich und über meine Tätigkeiten schreibt.
Fast tägliche Angriffe
Auch erzkonservative protestantische bzw. evangelikale Journalisten, Blogger, auch Pfarrer etc. wollen meinen Ruf als Theologin ruinieren. Sie stellen meine fachliche Kompetenz in Frage. Sie behaupten die Unwissenschaftlichkeit meines Buches, ohne es gelesen zu haben. Sie bezeichnen mich als „Häretikerin“ oder „kirchenfeindlich“, im Extremfall auch als „satanistisch“. Rechtsextreme Journalisten und Blogger drohen mir und manchmal auch meinen Mann mit Gewalt.
Nicht gegen, sondern für die Kirche
Trotz allem denke ich, dass ich auf diesem Weg unbedingt weitergehen will. Das ist eine „Mission“ für mich. Ich habe das nicht gewollt, ich habe sie einfach als „Berufung“ bekommen. Ich werde die Opfer, die mich aufgesucht haben, nie im Stich lassen. Wir arbeiten nicht gegen die katholische Kirche, sondern im Gegenteil für die Kirche, für ihre Reinigung und dadurch für ihre Zukunft. Vielleicht wird sie es einmal verstehen.
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Dr. Rita Perintfalvi ist Postdoc-Universitätsassistentin am Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz im Rahmen des fakultären Forschungsschwerpunktes Genderforschung.
Bild: Ivola Bazánth