Der Apostel Paulus legitimiert die umstrittene Einwanderungspolitik der US-Regierung. Eine zweifelhafte Ansicht. Geäußert hat sie der Justizminister der Vereinigten Staaten. Der erntete dafür viel Kritik. Zu Recht?, fragt Philipp Spahn.
Vor Kurzem noch wurden an der Grenze zwischen den USA und Mexiko Kinder von ihren Eltern getrennt. Die höchst umstrittene Praxis wurde von Jeff Sessions, Justizminister der USA, vehement verteidigt. Nichts Außergewöhnliches möchte man denken, ex officio war damit zu rechnen. Erstaunen rief allerdings seine Argumentation hervor, die auch von der Pressesprecherin des Weißen Hauses, Sarah Sanders, nochmals aufgegriffen und bekräftigt wurde.
Gott befiehlt, der Regierung zu gehorchen?
Unter explizitem Verweis auf den Apostel Paulus paraphrasierte Sessions den Römerbrief. „Ich zitiere den Apostel Paulus und seinen klaren und weisen Befehl in Römer 13, die Gesetze der Regierung zu befolgen, weil Gott sie zum Zweck der Ordnung bestimmt hat.“ Und weiter: „Geordnete und rechtmäßige Vorgänge sind an sich gut und schützen die Schwachen und Gesetzestreuen.“ Zur Erinnerung: Bei Paulus heißt es, dass sich jeder der staatlichen Gewalt unterzuordnen habe, da alle staatlichen Ordnungen von Gott eingesetzt seien. In der Folge stellt sich also jeder gegen die göttliche Ordnung, sofern er sich staatlichen Anordnungen widersetzt.
Gegenwind sogar von evangelikalen Predigern
Die Presse überschlug sich. Lucas Wiegelmann von der Tageszeitung „Die Welt“ sah die Bibelstelle gar als „Schlüssel zu Amerikas Migrationspolitik“. Und sogar von mehreren evangelikalen Predigern, die der Regierung Trump sonst den Rücken stärken und nicht unbedingt für exegetische Höchstleistungen bekannt sind, bekam Sessions Gegenwind für seinen Rekurs auf die Bibel.
Inzwischen ist die Diskussion etwas abgekühlt, und zumindest die umstrittene Trennung von Kindern und Eltern an der Grenze wurde durch den US-Präsidenten wieder aufgehoben. Zeit also für eine Bestandsaufnahme aus theologischer Sicht. Dabei geht es weder um die Einwanderungspolitik des amerikanischen Präsidenten noch um eine billige Kritik an seiner Person, wie sie sich seit dessen Amtsantritt gebetsmühlenartig wiederholt. Die Analyse dringt tiefer: Ist es legitim, mit der Bibel auf den Lippen Politik zu machen? Oder sollte sich das Christentum einer Vereinnahmung durch politische Zwecke erwehren?
Ist es legitim, mit der Bibel auf den Lippen Politik zu machen?
Prinzipiell gilt, dass die biblische Botschaft nicht für einen kleinen, exklusiven Kreis reserviert ist. Sie ergeht vielmehr als Angebot an alle Völker, an alle Menschen (Mt 28,19). Davon sind auch US-Justizminister nicht ausgenommen. Zwar ist es in der politischen Debattenkultur der Bundesrepublik undenkbar, dass Bibelzitate politische Positionen stützen. Und auch wenn Angela Merkel als Pfarrerstochter mit den biblischen Texten sicher bestens vertraut ist: Der Vorwurf, statt einer politischen Rede eine Predigt zu halten, wurde ihr noch nicht gemacht. Obwohl biblische Zitate in der hiesigen politischen Debatte außen vor bleiben, stellt Politik aus christlicher Überzeugung dennoch kein Ärgernis dar. Alle im Bundestag vertretenen Parteien, sogar Die Linke und die AfD, besitzen Arbeitsgruppen, die sich selbst als christlich bezeichnen. Und ungeachtet der Tatsache, dass Papst Franziskus kein Klimaexperte ist, fand er für seine Umwelt-Enzyklika Laudato si‘ dennoch viel Zuspruch in fast allen politischen Lagern.
Christliche Politik?
Allerdings sollten nicht nur Menschen mit tief sitzenden Aversionen gegenüber allem, was auch nur im Verdacht steht, christlich zu sein, die Argumentation von Jeff Sessions kritisch hinterfragen. Auch Personen, die der biblischen Botschaft aufgeschlossen entgegentreten, haben gute Gründe zum Widerspruch. Wo aber liegt der Unterschied zwischen politischen Argumenten, die mit biblischen Zitaten gespickt sind, und einer Politik aus christlicher Überzeugung?
Gute Gründe zum Widerspruch
Ein Problem ist, dass die biblischen Texte selbst zunächst der Auslegung bedürfen. Eine gelungene Exegese aktualisiert die biblische Botschaft für das Heute. Eine misslungene Exegese missbraucht sie, in diesem Fall für politische Zwecke. Dazwischen liegt oft nur ein schmaler Grat. Das zeigt nicht zuletzt auch die Debatte um politische Predigten, die Ulf Poschardt, Chefredakteur der Tageszeitung „Die Welt“, vergangene Weihnachten mit einem Tweet losgetreten hat. Der von Poschardt kritisierte Steffen Reiche sagte in seiner Weihnachtspredigt, man könne „die Nachfolge Jesu nie predigen, ohne dass man Folgen für die Welt“ habe. Gegen eine solche Ansicht ist nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil. Das Problem, das Poschardt mit der Predigt hatte, waren die politischen Schlüsse, die Reiche aus der biblischen Botschaft zog. Die Einen jubeln, die Anderen schütteln den Kopf. Das ist bei dezidiert theologischen Predigten aber kaum anders. Die Frage, die sich stellt: Welche – nicht zuletzt politischen – Schlüsse aus der biblischen Botschaft sind legititm, welche beliebig oder gar fundamentalistisch?
Von der Bibelauslegung (Exegese) lernen
Kirchen- und Theologiegeschichte weisen einen Weg aus dem Dilemma. Neben Regeln der Auslegung, die sich mit der Zeit verändern, ist es vor allem das Ringen um das richtige Verständnis der Schrift, das die Kirchengeschichte bestimmt. Das gilt – auch heute – nicht nur für die Teildisziplin Exegese. Streng genommen übersetzen alle theologischen Disziplinen die biblische Botschaft in ihre Sprache und interpretieren sie im Licht ihrer Fragestellungen. Die Disziplinen eint die Pflicht zum Diskurs. Denn Kennzeichen akademischen Forschens sind im Idealfall immer auch die Disputation und der Austausch gegenteiliger Meinungen. Sic-et-non eben, wie es Petrus Abaelard, Säulenheiliger der wissenschaftlichen Theologie, auf den Punkt gebracht hat. Rede und Gegenrede schützen vor einseitigen Deutungen und führen zu einer produktiven Spannung. Idealiter fungiert das Lehramt von Papst und Konzil als Korrektiv. Es zwingt dann keine Auslegung auf, sondern schützt vor Verirrungen und Fundamentalismen jedweder Couleur. Eine legitime Auslegung der biblischen Texte kann neben anderen koexistieren. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass sie sich dem Diskurs gestellt haben und, trotzt ihrer Beschränktheit, für legitim befunden wurden.
Auch Thierse hat Röm 13 in Gewissensnöte gebracht
Es ist an der Zeit, den verlorenen Faden von Römer 13 wiederaufzugreifen. Die Frage, wie das Pauluswort zu verstehen ist, ist ein heißes Eisen. Gut möglich, dass kaum ein anderer biblischer Text in 2000 Jahren Kirchengeschichte so intensiv diskutiert ist wie dieser, der besagt, dass alle staatliche Gewalt von Gott eingesetzt sei. Zahlreiche Widerstandskämpfer gegen Unrechtsherrschaften aller Art hat Römer 13 in Gewissensnöte gebracht. Wolfgang Thierse gab in einer Fastenpredigt im Berliner Dom ein Zeugnis seiner inneren Zerrissenheit, welche die Bibelstelle während der Diktatur in der DDR bei ihm ausgelöst hat. Thierse ist nur ein Beispiel unter vielen für die bleibende Relevanz des Pauluswortes.
… im Ringen um Widersprüche zeigt sich der Unterschied von Theologie und Fundamentalismus.
Theologen aller Konfessionen stellten Römer 13 wiederholt die Apostelgeschichte (5,29) gegenüber: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Eine inhaltliche Synthese ist das geflügelte Wort: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“
Man wird es dem US-Justizminister nicht vorwerfen können, wenn er die Einwanderungspolitik der US-Regierung verteidigt. Als Evangelikaler, der regelmäßig Bibelkurse besucht, hätte er jedoch gut daran getan, die Sentenz aus der Apostelgeschichte nicht zu verschweigen. Denn erst im Ringen um Widersprüche zeigt sich der Unterschied von Theologie und Fundamentalismus. Dieses Ringen kann Politik in der Regel nicht bewältigen. Nicht nur Jeff Sessions möchte man daher zurufen: „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“
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Philipp Spahn studierte Katholische Theologie und Geschichte in Frankfurt am Main und promoviert derzeit zu einem Thema der mittelalterlichen Geschichte.
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