Mission – ein Manifest geht um in Deutschland. Endlich, so mag man denken, findet ein Begriff seinen Weg zurück ins aktive christliche Vokabular, endlich wird er herausgeholt aus den negativen Assoziationen von Kulturimperialismus und Zwangstaufe. Ein kritischer Kommentar von Ursula Nothelle-Wildfeuer.
Die „vielleicht letzte Chance für das Christentum“?
Zu Beginn des Jahres wurde im Rahmen der Mehr-Konferenz in Augsburg das „Mission Manifest. 10 Thesen für das Comeback der Kirche“[1] veröffentlicht. Das Manifest möchte den Begriff der Mission als Urgestein christlichen Glaubens revitalisieren, allerdings weniger in theologischer als in existentieller Absicht: Damit – so heißt es – werde die „vielleicht letzte Chance für das Christentum“ (Klappentext) zu überleben ergriffen und der Kirche das gegeben, was sie jetzt brauche, nämlich „Bekehrung, Gebet, Mut für ungewöhnliche Lösungen, unbefangenes, gewinnendes Zugehen auf Nichtchristen, eine Neuorientierung anhand der Heiligen Schrift, aber vor allem die Hinwendung zu Gott“ (Einleitung, S. 16).
Ein wichtiger Ansatz: Zentrale Stichworte des Mission Manifest wie „ungewöhnliche Lösungen“, „Zugehen auf Nichtchristen“, „Neuorientierung“, „Aufbruch“ und „Mut“ lassen sich jedoch längst auch in jedem Pastoralkonzept oder Leitbild einer Pfarrei finden. Sie nehmen die gegenwärtige Situation schonungslos in den Blick und zeigen, dass ein „Weiter-so“ nicht zielführend sein kann, sondern dass es einen Neuanfang braucht. Auch in der neueren (pastoral)theologischen Literatur ist in positiver Konnotation längst von der missionarischen Kirche, von missionarischer Pastoral und missionarischer Spiritualität die Rede.
Warum dann aber meine große Skepsis dem Mission Manifest gegenüber? Es liest sich befremdlich, wenn von der vielleicht letzten Chance des Christentums die Rede ist – ist Gott am Ende, wenn die Menschen keinen Weg mehr sehen? Es liest sich auch befremdlich, wenn von einem Comeback der Kirche die Rede ist – geht es bei Mission nicht darum, die Hoffnung des Evangeliums zu künden und damit das angebrochene Reich Gottes zu bezeugen, das die Kirche in unersetzbarer Weise zeichenhaft sichtbar macht, mit dem sie aber nicht identisch ist?
Es lohnt sich also, genauer auf den Missionsbegriff zu schauen. Denn die Stichworte von Aufbruch bis Zugehen treffen noch nicht den Kern des Gemeinten: Entscheidend ist die Verbindung mit Gebet und mit der Hoffnung auf Wunder, mit intensivem Fasten (vgl. Maasburg, 135). Der „altar call“, zu lernen bei den Erweckungsbewegungen und in den evangelikalen Freikirchen (vgl. Hartl, 159; Meuser, 170), verstanden als Bekenntnis der persönlichen Entscheidung für den Glauben und für Christus vor einer möglichst großen Öffentlichkeit, gewinnt zentrale Bedeutung für das, was hier mit Mission gemeint ist.
Mission ohne Diakonia?
Um es theologisch zu präzisieren: Spätestens das II. Vatikanum hat geklärt, dass es bei Mission nicht mehr um ein kirchliches Handlungsfeld unter vielen geht, nicht um eine Tätigkeit, die nach zahlenmäßigem Erfolg überflüssig wird, sondern um das, was Kirche und ihre Identität insgesamt ausmacht. Damit können wir die Grundvollzüge der Kirche Martyria, Leiturgia und Diakonia, die sich innerhalb der communio entfalten, auch als Ausdruck dieser kirchlichen Identität verstehen. Mission und Diakonia stehen also ebenso in einem notwendigen Zusammenhang wie Mission und Liturgie bzw. Mission und Martyria.
Wo aber ist die Dimension der Diakonia im Mission Manifest? Selbst weitgefasst als sozial-caritative und auch gesellschaftlich-politische Diakonie, ist im gesamten Text dazu kaum etwas zu finden. Konstitutiv für die Mission und für das Comeback der Kirche ist sie dort jedenfalls nicht. Allenfalls nebenbei wird solches Engagement berücksichtigt und auch entsprechend (ab)gewertet: „Natürlich ist es wichtig, eine Willkommenskultur in unseren Gemeinden zu entwickeln.“ Aber gleichzeitig müsse man sich immer wieder fragen: „Wann habe ich das letzte Mal von Selbstverleugnung und Kreuzesannahme gesprochen?“ (Oettingen, 133).
Wenn es weiter heißt: „Wie oft betone ich, dass Familie wunderbar und großartig ist, aber hinter der Nachfolge Christi immer an zweiter Stelle steht?“ (ebd.), dann wird deutlich: Wirklicher Glaube drückt sich den Verfasser*innen des Mission Manifest zufolge anders aus als etwa in Willkommenskultur und Familienleben; Welt- und Gesellschaftsgestaltung aus christlichem Geist ist etwas Nachgeordnetes. Der Familien- und Berufsalltag, geprägt von dem Bemühen um christliche Verantwortung, spielt offenkundig keine entscheidende Rolle. Ist es an uns, solches Leben aus dem Glauben als „dekorative(s) Christentum“ (Einleitung, S. 17) abzuqualifizieren?
Da halte ich es lieber und entschieden mit einer anderen Argumentationslinie, die nämlich statt einer Hierarchisierung der Grundvollzüge deren notwendigen Zusammenhang im Blick auf das Zeugnis-Geben formuliert. Sie geht davon aus, dass das Eintreten für Humanität, Solidarität und Gerechtigkeit unabdingbar zum Zeugnis für das Evangelium gehört, dass im Gottesdienst neben der Kirchenmusik auch der Schrei der Armen notwendig einen Ort haben muss. Nicht von ungefähr hat Papst Franziskus noch im Vorkonklave die Kirche gerade an den geographischen, aber auch an den existenziellen Grenzen der Erde verortet. Und Benedikt XVI. formuliert in Deus caritas est (31) einen diesbezüglich fundamentalen Satz: Christ*innen wissen, „wann es Zeit ist, von Gott zu reden, und wann es recht ist, von ihm zu schweigen und nur einfach die Liebe reden zu lassen. (Sie wissen), daß Gott Liebe ist (vgl. 1 Joh 4, 8) und gerade dann gegenwärtig wird, wenn nichts als Liebe getan wird.“ Welche Befreiung von einem (Missionierungs-)Leistungsdruck für das Gottesreich atmet diese Aussage!
Die Welt als Schlachtfeld oder als Wegbereitung für das Evangelium?
Problematische Hierarchisierung klingt auch dort an, wo es in befremdlich militärischer Sprache heißt: „Wann habe ich zuletzt öffentlich gesagt, dass die Situation eines Christen mit dem Leben eines Soldaten verglichen werden kann – und zwar in einer relativ kleinen Armee kurz vor einem Kampf gegen eine wesentlich größere Streitmacht?“ (Oettingen, 133) Die Welt als Feind, als Gegenmacht für den Christen – wie passt das zu den Grundaussagen des II. Vatikanums? Hat nicht gerade Gaudium et spes theologisch grundlegend das Verhältnis der Kirche zur Welt, zu den Menschen und zur Gesellschaft neu bedacht und sich von einem solchen Weltverständnis abgewendet? Die Welt wird hier nicht länger ausschließlich verstanden als Eigenmacht, die im Widerspruch zum Glauben steht, mit der sich einzulassen gläubige Christ*innen sich hüten sollten, sondern vielmehr gedeutet als „Wegbereitung für das Evangelium“ (GS 40,4).
Das konziliare Weltverständnis fordert dazu auf, die Entwicklungen der Zeit nicht nur negativ, sondern differenziert zu betrachten. Es wird also auch nicht nur von einer „epidemisch gewordenen Säkularisierung“ (16) sprechen, sondern solch komplexe Phänomene angemessen analysieren müssen: Die problematischen Aspekte der Säkularisierung sind allenthalben bekannt. Aber bedenken die Verfasser*innen des Manifests hinreichend, welcher Zugewinn an Freiheit in der Säkularisierung steckt – für die Kirche als Freiheit von politischer Macht, für die Theologie als Freiheit zur weitreichenden vernunftgemäßen Debatte, für die Weltgesellschaft als Formulierung von universal gültigen Menschenrechten, für die Menschen die Freiheit von ungerechtfertigten Übergriffen der Kirche?
Das alles ist sicher nicht ohne den christlichen Boden denkbar, aber eben deswegen scheint es mir höchst unpassend, von Epidemie zu sprechen und das Bild tödlicher Bedrohung aufzurufen. Nach christlichem Schöpfungs- und Inkarnationsverständnis entfaltet sich der Glaube gerade nicht in einer exemten Parallelwelt, sondern Gott ist der Schöpfer dieser einen Welt, in der es zwar die Sünde gibt, in die hinein aber Gott auch Mensch geworden ist und die er erlöst hat!
Mission unter Leistungsdruck?
Das Mission Manifest formuliert klare Anforderungen, aber kann Mission tatsächlich primär eine Frage der eigenen Leistung im Gebet, im Fasten, im Bekenntnis sein angesichts eines Gottes, der die Menschen bedingungslos liebt, sich ihnen zuwendet ohne Festlegung eines Mindeststandards an Überzeugung? „Betone ich“, so fragt Oettingen im Mission Manifest, „dass ein schales, bloß konventionelles Christsein nicht einmal für den Misthaufen reicht?“ (Oettingen, 133) Erschreckend!
Klar, es ist erfreulich, wenn auf der Mehr-Konferenz in Augsburg 11.000 meist junge Menschen ihren Glauben feiern. Aber ist es weniger wertvoll, und hier schließe ich mich Erik Flügge an, wenn über 100.000 sozial engagierte Jugendliche bei der 72-Stunden-Aktion des BDKJ mitmachen, wenn über 300.000 Sternsinger und Sternsingerinnen durch die Straßen ziehen? Wer sind wir Menschen, dass wir festlegen, was für Gott reicht? Das II. Vatikanum hat doch zwei wichtige Einsichten wachsen lassen: (1) Christ*innen haben auch das Recht, in der Kirche hinter der Säule zu stehen. Gerade nicht nur Superheld*innen sind eingeladen, sondern alle mit ihrer Kontingenz, ihren Zweifeln, ihren Fragen, ihrem Leid, ihrer Anklage an Gott, aber auch mit ihrer Gleichgültigkeit und Halbherzigkeit, einfach mit all dem, was ihr Leben ausmacht. (2)
Rainer Bucher hat es gerade wieder vor ein paar Tagen an dieser Stelle betont: Alle Menschen sind mögliche Orte der Entdeckung Gottes. „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe“ heißt das bei Bischof Klaus Hemmerle. So meint Mission zunächst, dass Christ*innen als Lernende einen Dialog auf Augenhöhe führen und gerade in dieser Komplexität der Wirklichkeit, in allen Straßen und Häusern – viel eher als in Träumen und Visionen – Spuren Gottes feststellen können.
Last, but not least: „Gott wird“, so heißt es in der 5. These, aufgrund des Gebetes „den Menschen über den Weg laufen“ „und sei es in Träumen und inneren Eingebungen“; es werden Wunder geschehen. Das wäre ein einfacher Mechanismus: Wer genug betet, genug fastet, der wird schon sein Wunder erleben. Und wenn es nicht passiert? Ist dann Gott verantwortlich? War dann das Gebet nicht intensiv, nicht innig oder nicht lang genug? Welch ein Gebets- und Gottesverständnis zeigt sich da. Und welch ein Missionsverständnis.
Mission meint eben keinen Leistungsdruck, kein Wetteifern im Fasten und Beten, sondern ist Sendung: „Ite missa est“ heißt es am Ende jeder Messe – und das ist die entscheidende missionarische Aufforderung: Geht hinaus in die Welt und, so lässt es sich frei nach Frère Roger Schütz fortsetzen, bezeugt durch Wort und Tat das vom Evangelium, was ihr verstanden habt – und sei es noch so wenig.
[1] Hartl, Johannes; Wallner, Karl; Meuser, Bernhard (Hg.) (2018): Mission Manifest. Freiburg: Herder Verlag. Zu den Thesen vgl. auch https://www.missionmanifest.online/. Im Folgenden werden, wenn nicht anders vermerkt, bei Zitaten Autor*in und Seitenzahl aus dem Mission Manifest angegeben.
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Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Professorin für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Breisgau.
Siehe auch:
Gott einen Ort sichern. Impulse aus der Begegnung mit Madeleine Delbrêl