Am 5. Januar 2017 reichten Vertreter der Volksgruppen der Herero und Nama in New York eine Sammelklage gegen Deutschland wegen Massakern ein, die deutsche Truppen während der Kolonialzeit im damaligen Deutsch-Südwestafrika verübt hatten. Sebastian Pittl erläutert, wie es dazu kommt.
Die Klage bezieht sich auf die Ereignisse zwischen 1904 und 1908, als im Zuge der von Generalleutnant Lothar von Throta angeführten Niederschlagung eines Aufstands geschätzte 65.000 Herero sowie 10.000 Nama ums Leben kamen.
Hintergrund des Aufstandes war die brutale Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung durch die deutschen Siedler und Kolonialbehörden, die nicht nur zunehmend Weideland und Viehbestände und damit die Lebensgrundlage der einheimischen Völker in ihren Besitz brachten, sondern die schwarze Bevölkerung auch als Menschen zweiter Klasse behandelten. Prügelstrafen standen auf der Tagesordnung. Vergewaltigungen und selbst Morde der Siedler an den Schwarzen blieben meist ungesühnt oder wurden nur geringfügig bestraft.
„Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero […] erschossen.“
Als am 12. Januar 1904 der Aufstand losbrach, war der Gouverneur Theodor Leutwein, Sohn eines evangelischen Pastors, völlig überrascht. Die Herero überfielen Farmen und Handelsniederlassungen und belagerten Militärstationen. Obwohl sich die Kämpfe ausschließlich gegen die deutsche Besatzung richteten und Angehörige anderer Nationalitäten sowie Frauen und Kinder weitgehend verschont blieben, kursierten in Deutschland sehr bald Nachrichten über die blutrünstige Abschlachtung weißer Frauen und Kinder. Kaiser Wilhelm II beauftrage daraufhin von Throta, der sich bereits bei der Aufständischenbekämpfung in Deutsch-Ostafrika hervor getan hatte, mit der Niederschlagung des Aufstands. Throta ging mit ausgesprochener Brutalität vor. Nachdem seine Truppen in einer Kesselschlacht ein Blutbad unter den Herero angerichtet hatten, trieben sie die Überlebenden in die Omaheke-Wüste. Am 2. Oktober 1904 erließ Throta eine Proklamation „an das Volk der Herero“, worin es heißt: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu Ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“[1] Die Vernichtung der Herero innerhalb des deutschen Kolonialgebiets war damit als erklärtes Ziel benannt. Zehntausende Männer, Frauen und Kinder verdursteten.
Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts
Die Ereignisse werden von Historiker_innen heute als erster Genozid des 20. Jahrhunderts eingestuft. Die deutsche Regierung hat die Massaker in Deutsch-Südwestafrika jedoch erst im Vorjahr offiziell als „Genozid“ anerkannt. Derzeit laufen Verhandlungen zwischen dem Auswärtigen Amt und Vertreter_innen der namibischen Regierung, denen eine gemeinsame Erklärung der beiden Parlamente und eine offizielle Entschuldigung Deutschlands folgen sollen.
Viele Herero und Nama fühlen sich von der namibischen Regierung jedoch nicht angemessen repräsentiert und fordern, auch selbst in die Verhandlungen eingebunden zu werden. Der Herero-Vertreter Vekuii Rukoro wies bei einem Besuch im Oktober 2016 in Berlin darauf hin, dass die beiden Volksgruppen eine Entschuldigung ohne Entschädigungszahlungen nicht akzeptieren würden. Mit dem Geld soll unter anderem Land zurückgekauft werden, das den Herero und Nama nach den Massakern enteignet worden war und seit damals nicht zurückgegeben wurde. Individuelle Entschädigungszahlungen will Deutschland jedoch nicht leisten. Stattdessen sollen Gelder in eine „Zukunftsstiftung“ fließen, um Erinnerungsprojekte zu finanzieren; Entwicklungsprojekte sollen unterstützt werden, die den beiden Bevölkerungsgruppen zu Gute kommen. Ein wichtiger Grund für die reservierte Haltung der Bundesregierung bezüglich Reparationszahlungen dürfte in der Sorge liegen, einen Präzedenzfall zu schaffen, der weitere Forderungen wegen Massaker und kolonialen Strafaktionen in Tansania, Togo, Kamerun und der Südsee nach sich ziehen könnte.
Die ambivalente Rolle der christlichen Mission
Aus missionswissenschaftlicher Perspektive ist die Frage relevant, welche Rolle die christlichen Missionen in den Ereignissen rund um den Völkermord in Deutsch-Südwestafrika spielten. Katholische Missionsaktivitäten waren in Deutsch-Südwestafrika bis Anfang des 20. Jahrhunderts vergleichsweise unbedeutend.[2] Im westlichen Teil des sogenannten Ovambolandes hatte eine evangelische finnische Missionsgesellschaft einige Niederlassungen. Die mit Abstand bedeutendste Missionseinrichtung war jedoch die bereits seit 1842 in Südwestafrika tätige (ebenfalls evangelische) Rheinische Missionsgesellschaft. Sie verfügte zur Zeit des Völkermordes über Niederlassungen in allen größeren Ortschaften im Siedlungsgebiet der Herero.
Manche der Rheinischen Missionare übten von Beginn an vehement Kritik an dem Vorgehen der deutschen Truppen und zogen damit die Feindschaft der deutschen Siedler auf sich, andere versuchten zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln, indem sie über Hintergründe der Aufstände informierten und um Verständnis für die Herero und Nama warben.
Waren die christlichen Missionare also die ersten Kritiker der kolonialen Unterdrückung? Geriet eine ursprünglich „friedensstiftende“, „neutrale“ und „humanitäre“ deutsche Mission erst mit der Etablierung einer deutschen Kolonie, also erst ab 1884 in den Sog eines rassistischen Kulturimperialismus?
„Ohne die christliche Mission wären viele Deutsche nicht für ein koloniales Projekt zu gewinnen gewesen.“
Der Afrika-Forscher Clemens Pfeffer weist in einer Studie über das Verhältnis von Mission und Kolonialismus in Deutsch-Südwestafrika dieses auch bei Historikern verbreitete Bild zurück.[3] An Hand einer Analyse der Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft, der weltweit „konstanteste[n] und zugleich ausführlichste[n] vorkoloniale[n] Informationsquelle über Südwestafrika“[4], zeigt er auf, dass die vorkolonialen Heimatmissionen mit ihren vielfältigen Aktivitäten einen maßgeblichen Einfluss auf das Bild der außereuropäischen ‚Anderen‘ in Deutschland hatten, der für die spätere Kolonialpolitik in vielerlei Hinsicht wegbereitend war. Pfeffer weist darauf hin, dass Missionsberichte ein wichtiges Medium nicht nur zur Herausbildung einer gemeinsamen nationalen Identität gewesen seien, sondern auch ein breites Interesse an kolonialer Expansion geschaffen hatten. Insbesondere die christliche Landbevölkerung sei ohne die Mission kaum für ein koloniales Projekt zu mobilisieren gewesen.
Die Rheinische Missionsgesellschaft förderte allerdings nicht nur die koloniale Stimmung in Deutschland, sondern drängte – bis 1884 allerdings vergeblich – die preußische Regierung beziehungsweise später das Deutsche Reich auch direkt dazu, Südwestafrika unter seinen offiziellen Schutz zu stellen. Nach Beginn der Kolonialherrschaft beriet die Missionsgesellschaft die Kolonialverwaltung in vielfältiger Weise in Fragen der Kolonialisierung.
„Die schmutzige, feile, hündische Natur der Herero“
Trotz dieser aktiven Rolle in der deutschen Kolonialpolitik widerspricht Pfeffer der These des US-amerikanischen Soziologen Georg Steinmetz, der in der „negativen Homogenität“ der Repräsentation der Herero in den Berichten der Rheinischen Missionsgesellschaft als „grausames“ und „unmenschliches “ Volk den Genozid von 1904 bereits vorgezeichnet sieht.[5]
Zwar sei ein bestialisierender Diskurs über die Herero tatsächlich bei zahlreichen Missionaren auch der ersten Jahrzehnte zu finden, etwa wenn Johannes Rath, einer der ersten Herero-Missionare, über die „schmutzige, feile, hündische Natur“[6] der Herero schreibt oder der Missionar Heinrich Schöneberg eine auf der Missionsstation aufgetauchte Gruppe von „weggelaufene[n]“ Herero-Frauen als „Hurenklique“ und „miserables Pack“ bezeichnet, die man „aus der Welt schaffen“ sollte, „wenn sie nicht Menschen wären“.[7] Diesen Schilderungen stehen jedoch auch exotisierende Idealzeichnungen der Herero gegenüber, insbesondere in den Reiseberichten der Missionare. Carl Heinrich Beiderbecke berichtet etwa von seiner Begegnung mit „überraschend schönen, an Europäer erinnernde Herero, mit fast adeligem Benehmen und Anstand“, die „wahrhaft liebenswürdige Personen“ seien und ihre Treue gegenüber den Missionaren und „dem Guten“ beweisen würden.[8] Der rassistische Unterton ist freilich auch in diesem Umkehrbild deutlich zu vernehmen.
Aufarbeitung und Erinnerung heute
Die Nachfolgeorganisation der Rheinischen Missionsgesellschaft, die Vereinte Evangelische Mission (VEM), bemüht sich heute offensiv um eine Aufarbeitung der eigenen Verstrickung in die deutsche Kolonialgeschichte. Eine Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland forderte 2004 anlässlich des hundertsten Jahrestages des Völkermordes die deutsche Bundesregierung auf, sich offiziell bei den Herero und Nama zu entschuldigen und sich der historischen Verantwortung Deutschlands zu stellen. Auch die von einem ökumenischen Bündnis getragene Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA) ist Unterzeichnerin einer 2015 veröffentlichten Petition, die die Bundesregierung zu Aufarbeitung, Entschuldigung und Wiedergutmachungsmaßnahmen auffordert sowie dazu, mit den Herero und Nama in einen direkten Dialog zu treten.
Der Völkermord in Deutsch-Südwestafrika sowie seine Vor- und Nachgeschichte zeigen jedenfalls die Vielschichtigkeit der Verflechtung von Kolonialismus und Mission, in der Missionare sowohl als Triebkräfte, Kollaborateure, aber auch als (zumindest partikulare) Widerstandsmomente gegen imperiale Kolonialpolitik in Erscheinung treten. Eine wesentliche Aufgabe heutiger Mission liegt zweifellos darin, sich in Anerkennung dieser Verstrickungen um historische Gerechtigkeit zu bemühen. Dazu gehört das Bestreben, zu Aufarbeitung und Erinnerung des Völkermordes beizutragen.
„Das Eingeständnis historischer Schuld muss konkrete Folgen haben, sonst wird es zur Heuchelei.“
Ebenso wichtig ist es, die Nachfahren der Opfer – mit Sensibilität für die sozialen und politischen Dynamiken solcher Prozesse – dabei zu unterstützen, auch international gehört zu werden. Das Eingeständnis historischer Schuld wird freilich nur dann nicht zur Heuchelei, wenn es auch Änderungen in den gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zur Folge hat. Die KASA leistet in diesem Sinn auf sehr aktive Weise Lobby- und Kampagnenarbeit für die Förderung sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit im Kontext von Globalisierung und Klimawandel im südlichen Afrika. Insbesondere Deutschland hätte die Möglichkeit, sich innerhalb der Europäischen Union für eine gerechtere Wirtschaftspolitik gegenüber den afrikanischen Staaten einzusetzen.
Quellen und Literatur:
Clemens Pfeffer, Koloniale Repräsentationen Südwestafrikas im Spiegel der Rheinischen Missionsberichte, 1842‐1884, in: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien Nr. 22/2012, 12. Jg., 1‐33.
Clemens Pfeffer, Koloniales Denken im Spiegel der Rheinischen Missionsberichte. Neue Perspektiven zum Verhältnis von Mission und Kolonialismus in Südwestafrika, 1842 – 1884, Wien 2010.
Georg Steinmetz, The Devil’s Handwriting. Precoloniality and the German Colonial State in Qingdao, Samoa, and Southwest Africa, Chicago 2007.
Andreas Eckl, The Herero genocide of 1904. Source-critical and methodological considerations, in: Journal of Namibian Studies. History, Politics, Culture, Nr. 3/2008, 31-61.
Medardus Brehl, „Diese Schwarzen haben vor Gott und Menschen den Tod verdient“. Der Völkermord an den Herero 1904 und seine zeitgenössische Legitimation, in: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 2004, 77–97.
Helmut Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika, Hamburg 1968.
Ausführliche Information und Hinweise zu weiterführender Literatur bieten die Webseiten der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ sowie genocide-namibia.net.
Anmerkungen:
[1] Lothar von Trotha an Theodor Leutwein, 5.1.1904, BArch Berlin Lichterfelde R 1001, Nr. 2089, Bl. 100ff.
[2] Erst ab 1896 waren in den nördlichen Gebieten die Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria als Missionare tätig. Vorangehende Versuche einer katholischen Mission verliefen im Sand.
[3] Clemens Pfeffer, Koloniales Denken im Spiegel der Rheinischen Missionsberichte. Neue Perspektiven zum Verhältnis von Mission und Kolonialismus in Südwestafrika, 1842 – 1884, Wien 2010.
[4] Clemens Pfeffer, Koloniale Repräsentationen Südwestafrikas im Spiegel der Rheinischen Missionsberichte, 1842‐1884, in: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien Nr. 22/2012, 12. Jg., 1‐33, 25.
[5] Vgl. Georg Steinmetz, The Devil’s Handwriting. Precoloniality and the German Colonial State in Qingdao, Samoa, and Southwest Africa, Chicago 2007.
[6] Johannes Rath, in: Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft, No.7 (1852), 110; zitiert nach: Pfeffer, 12.
[7] Heinrich Schöneberg, in: Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft, No.16 (1853), 252; zitiert nach: Pfeffer, 13.
[8] Carl Heinrich Beiderbecke, in: Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft, No.9 (1875), 268f; zitiert nach: Pfeffer, 18.
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Sebastian Pittl leitet den Forschungsbereich „Interkulturelle Theologie“ am Institut für Weltkirche und Mission an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt-Georgen in Frankfurt am Main.
Bild: Ehemalige deutsche Militärfestung in Namibia. Lothar Henke / pixelio.de