Wer ist das eigentlich: die Weltkirche? Michael Schüßler dekonstruiert das koloniale wie klerikale Erbe global-kirchlicher Gegenwart.
Das bekannte Weltkirchenargument geht so: Forderungen nach Geschlechtergerechtigkeit und Normalisierung sexueller Vielfalt, nach echter Partizipation und synodaler Kontrolle von Macht in der Kirche, das seien Luxusprobleme des säkularen westlichen Nordens. Die Kirche aber wachse vor allem im globalen Süden und der sei traditionell tief religiös und konservativ. Stellt sich die Frage: Wie und woher weiß man das alles?
Von post- und dekolonialen Ansätzen lernen
Theologisches Denken ist mit Verzögerung auch hierzulande dabei, von post- und dekolonialen Ansätzen zu lernen.[1] Wobei Postkolonialität ja weniger das Verschwinden, als die anhaltenden Muster kolonialer Machtstrukturen in der Gegenwart meint. Dabei geht es weniger um Vorwürfe, sondern um die Entdeckung gemeinsamer Verflechtungen in Geschichte und Gegenwart.
Und die ist eben ohne die katholische Missions- und Kolonialgeschichte nicht wirklich zu verstehen. So entstand die Annahme vom notorisch bzw. unheilbar religiösen Charakter afrikanischer Kultur als Reaktion auf die Einschätzung der frühen Missionare, dort gebe es gerade keine (eben christliche) Religion, sondern nur primitive Kulte, Fetische und Aberglauben. Das ehemals für heidnisch gehaltene Afrika gilt dagegen heute wahlweise als Hort eines religiös-fundamentalistischen Backlashs oder umgekehrt als gelobtes Land echter katholischer Frömmigkeit, das in einer „Reverse Mission“ Europa von seiner moralischen Verkommenheit heilen solle. Die Afrikaforscherin Birgit Meyer sieht darin eine paradoxe Kontinuität postkolonialer VerAnderungs-Prozesse (Othering), nämlich schiefe Gegensätze wie Nord/Süd oder religiös/säkular zur Stabilisierung je eigener identitärer Bedürfnisse auszubeuten.[2]
Ambivalentes Erbe christlicher Mission
Ähnlich bei Geschlechtervorstellungen und Sexualitäten. Exemplarisch zeigt Rebekka Habermas, wie Styler Missionare in Togo Anfang des 20.Jhdts davon überzeugt waren, „dass die bisherige afrikanische Geschlechterordnung zerstört werden müsse, da diese die ‚stärkste Bastion des Satans‘ beziehungsweise […] ‚der größte Krebsschaden Westafrikas‘ sei“.[3] Mission hieß: Frauen wurden nicht mehr im Handwerk ausgebildet, sondern auf ihre Rolle als Hausfrau vorbereitet. Ein afrikanischer Promovend hat mich auf die Aba-Frauenaufständen 1929 in Nigeria hingewiesen. Bis zu 25.000 Frauen wehrten sich massiv gegen überbordende Besteuerung von Marktfrauen durch die britische Kolonialregierung: Ihre Existenz war bedroht. Das zeugt von einer selbstbewussten Stellung von Frauen in Nigeria. Ebenso breit erforscht ist es, wie heute eine fatale Ökumene aus evangelikal-pentekostalen, anglikanischen und katholischen Kirchen an der Politisierung von Homosexualität in Afrika beteiligt war und ist. Dabei haben erst die christlichen Kolonialmächte eine kulturelle Ächtung und strenge Kriminalisierung von Homosexualität eingeführt.[4]
Vor kurzem kritisierte Papst Franziskus im Kongo diese scharfen Homosexuellen-Gesetze, aber auch die wirtschaftliche Ausbeutung des Westens: „Hände weg von Afrika“. Doch als Weltkirche trifft Europa immer auch auf die Auswirkungen ihrer eigenen Missions- und Kolonialgeschichte. Wer diese Verflochtenheiten nicht wahrnimmt, übersieht zugleich die vielen lokalen Erfahrungen und Initiativen in den Kirchen des Südens, die sich auf je lokale Weise für Minderheitenrechte einsetzen, auch für sexuelle und geschlechterbezogene Vielfalt.
Gender- und Macht-Bias des katholischen Klerikalismus
Eine besondere Rolle spielt hier der Gender- und Macht-Bias des katholischen Klerikalismus. Was wir von der Weltkirche (medial) wissen, wissen wir vor allem aus der Perspektive von Bischöfen, Priestern und Ordensleuten. Postkoloniale Theorie hat dieses anwaltschaftliche „Sprechen für“, sei es konservativ oder emanzipatorisch, auf Machteffekte des „Silencing“ hin problematisiert. Damit ist gemeint, dass Menschen mit ihren Erfahrungen nicht wirklich gesehen werden, „dass es ihnen im Kontext bestehender Machtverhältnisse nicht möglich ist, […] sich als komplexe Personen Gehör zu verschaffen, d.h. sich erfolgreich zu repräsentieren“.[5] Wer also spricht als katholische Weltkirche? Wer hat welche Definitionsmacht? Was wird gesagt, aber nicht gehört? Was ist sagbar, was ist nicht sagbar?
Ein Beispiel: Eva Wimmer hat als Teilnehmende des vatikanischen jugendsynodalen Prozess 2017-2019 eine kleine mutige Rede zu den Themen Geschlechtergerechtigkeit, Frauenordination und Nachhaltigkeit gehalten. Wie sie auf feinschwarz.net berichtet, „kamen über 30 Frauen aus der ganzen Welt zu mir und bedankten sich bei mir […]. Einige dieser Frauen sagten dabei, dass sie nicht applaudieren konnten, da dies die zweite Person ihres Herkunftslandes hätte sehen können, und wenn das zu Hause bekannt werden würde, dann hätte dies weitreichende Folgen. […] Die Frauen hätten Angst, dass sie selbst unter Druck gesetzt oder missbraucht würden, wenn sie so etwas offen ansprechen würden. […] Etwas zugespitzt formuliert könnte man behaupten, dass diese Frauen in der Kirche nicht nur keinen Platz finden, wo sie sich entfalten und etwas mitgestalten können, sondern vielmehr noch, dass die kirchliche Struktur den Frauen ihre Sprache nimmt.“
Theologische Kampf um Gleichberechtigung als Frage von Leben und Tod
Ute Leimgruber hat 2021 das Buch „Catholic Women. Menschen aus aller Welt für eine gerechte Kirche“ herausgegeben. Die Texte und Zeugnisse machen deutlich, dass das Weltkirchen-Argument „im Blick auf Frauen und Menschenrechte in der katholischen Kirche nicht verfängt“[6]. Nontando Hadebe, promovierte katholische Theologin aus Südafrika, schreibt darin in aller Klarheit: „Die unterdrückerischen Theologien sind auch für das hohe Maß an Gewalt gegen Frauen auf der ganzen Welt mitverantwortlich.“[7] Der theologische Kampf um Gleichberechtigung von Frauen sei eine Frage von Leben und Tod: „Um es nochmal zu betonen: Es geht um konkrete, teils auch lebensbedrohliche Fragen, und es geht um nachhaltige Entwicklungsziele, die den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Status der Menschen verbessern, es geht um nationale und kontinentale Agenden, die Frauen als gleichberechtigte Bürgerinnen und Trägerinnen aller Rechte einschließen, auch wenn Religion und Kultur dies behindern.“[8]
Mit dem Othering zum globalen Süden wird destruktive Kirchenpolitik gemacht
Das Engagement für Geschlechtergerechtigkeit, Vielfalt und kirchliche Machtkontrolle als eurozentrisches Luxusproblem zu bezeichnen, ist nicht nur falsch, sondern geradezu zynisch. Hier wird mit dem Othering zum Globalen Südens nicht einfach konservative, sondern in den Auswirkungen für betroffene Menschen weltweit auch destruktive Kirchenpolitik gemacht. Umso wichtiger wäre es, dass sich die emanzipatorischen Kräfte in der Weltkirche global weiter vernetzen. Theologien sollten der Vielfalt des Lebens Raum geben, statt in die Käfige stereotyper Verhaltenserwartungen mit Bezug auf Gott noch ein paar Stäbe mehr einzubauen. Drei Dinge könnten dabei wichtig sein:
- Die römisch-katholische Weltkirche ist trotz Globalisierungswissen weiter von eurozentrischen Mustern und Stereotypen geprägt. Es müsste auch in Deutschland mehr gesehen werden, wie historisch eng verflochten Europa und Afrika sind, wie im „Anderen“ Afrikas das Echo europäischer Missionsgeschichte begegnet.
- Was wir medial über die Weltkirche wissen, wissen wir überwiegend aus der Perspektive von Priestern und Ordensleuten. Es handelt sich um eine im letzten von co-klerikalen Machtstrukturen verzerrte, strukturell männlich geprägte Perspektive. Die Vielfalt des gelebten Glaubens vor Ort bleibt oft unsichtbar. Diese Vielfalt braucht Gewicht, denn es gibt sie.
- Beides verdichtet sich in der Rolle der katholischen Kirche als geschlechterpolitischer Akteur. Binnenkirchliche Debatten sind hier für das Leben von Frauen, Männern und queeren Menschen existenziell relevant. Weltkirchliche Solidarität verlangt nach einer dekolonialen Politischen Theologie der Weltkirche, die leidempfindlich, gendersensibel und religionskritisch zugleich ist.
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Michael Schüßler ist Praktischer Theologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen.
Bild: SmallmanA auf pixabay.
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[1] Stefan Silber, Postkoloniale Theologien, Tübingen 2021.
[2] Birgit Meyer, What is Religion in Africa? Relational Dynamics in an Entangled World, in: Journal of Religion in Africa 50 (2020), H. 1/2, 156-181.
[3] Rebekka Habermas, Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft, Frankfurt/M. 2016.,72-73. Den Hinweis auf Rebecca Habermas wie überhaupt auf interkulturelle und postkoloniale Literatur verdanke ich dem Austausch mit Sebastian Pittl.
[4] Vgl. dazu Masiiwa Ragies Gunda / Joachim Kügler, Die Bibel und Homophobie in Simbabwe: Die Manipulation des Glaubens in der öffentlichen Diskussion, in: Bibel und Kirche 78 (2023), H 1, 35-40.
[5] Ina Kerner, Postkoloniale Theologien zur Einführung3, Hamburg 2017, 105. Für die Theologie vgl. Katja Winkler, Postkoloniale Kritik als immanente Modernekritik? in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 63 (2022), 97-106 (online: https://doi.org/10.17879/jcsw-2022-4405).
[6] Ute Leimgruber (Hg.), Catholic Women. Menschen aus aller Welt für eine gerechtere Kirche, Würzburg 2021, 11.
[7] Nontondo Hadebe, Wie wir uns selbst befreien. The Circle of Concerned African Women Theologians und Catholic Women Speak Network, in: Ute Leimgruber (Hg.), Catholic Women. Menschen aus aller Welt für eine gerechtere Kirche, Würzburg 2021, 133-148, 135.
[8] Hadebe, Uns selbst befreien, 146.