Mit der Brille einer Todesforscherin schaut Anna-Maria Klassen „Barbie“ und lernt von der pinkfarbenen Lady, wie der Mensch mit dem Tod umgehen kann.
„Denkt ihr auch manchmal an das Sterben?“ fragt Barbie auf der Kinoleinwand ihre Freundinnen und irgendwie auch mich. Obwohl ich gerade auf seichte Unterhaltung eingestellt bin, ist die Todesforscherin in mir getriggert und ich fühle mich in meiner Überzeugung bestätigt: Der Tod ist in unserer Gesellschaft kein Tabuthema, sondern in unterschiedlich sichtbaren Formen beschäftigt sie sich sehr wohl mit ihm. Sogar ein popkultureller, an die Breite der Gesellschaft gerichteter Film wie „Barbie“ setzt das Thema auf die Tagesordnung. Dieser wird vor allem wegen seiner Bearbeitung der Genderthematik, wegen Mattels selbstironischer Konsumkritik und hinsichtlich der Frage, wie eine gerechte Welt oder gar ein Paradies aussehen müsste, diskutiert. Diese Perspektiven werden im Folgenden weitestgehend außen vor gelassen. Der Fokus liegt hier darauf, was es bedeutet, dass die Hauptprotagonistin ein sterblicher Mensch sein will und was das über das allgemein menschliche Leben aussagt. Schaut man „Barbie“ mit der Brille einer Todesforscherin, dann bekommt man eine überzeugende Auseinandersetzung mit dem Tod und vielleicht sogar die Anleitung für eine Kunst des Sterbens geliefert.
Alle Zeichen deuten auf Vergänglichkeit.
Barbie lebt in einer perfekten, paradiesischen Welt, in der „jeder Tag der schönste“ ist, „für immer und ewig“. Frauen können alles und dürfen alles, sie sind vielfältig und verstehen sich trotzdem super. Jeder Tag beginnt mit einem Lächeln und endet mit einer Girls Night voller Fun.
„Denkt ihr auch manchmal an das Sterben?“ – Als die „stereotypische“ Barbie das unvermittelt in Tanz und Spaß hinein fragt, entsteht ein Riss in der Barbie-Welt. Barbie versucht die Situation zu retten, indem sie ausruft: „Fürs Tanzen könnte ich sterben!“. Dass sie damit aber lediglich auf die Präsenz des Todes in alltäglichen Äußerungen und Erfahrungen verweist, wird spätestens am nächsten Morgen deutlich. Ihre Ansage: „Gute Nacht, Barbies, ich denke definitiv nicht mehr über den Tod nach!“, entpuppt sich als uneinlösbares Vorhaben. Nach dem Aufstehen deuten alle Zeichen auf Vergänglichkeit: Mundgeruch, verbranntes Toast, abgelaufene Milch, Zellulitis. Barbie trifft mit beiden Füßen auf den Boden der Tatsachen und es streckt sie buchstäblich nieder. Angesichts ihrer Plattfüße schämt sie sich, dabei ist – wie ihre Mit-Barbies feststellen – doch Barbie „nie etwas peinlich“.
Barbie lernt an der
Bandbreite menschlicher Gefühle.
Barbie begibt sich auf die Reise in die reale Welt, um ihre paradiesische Perfektion wiederherzustellen. Das Schamgefühl begleitet sie auf ihrem Weg: Sie stellt fest, dass sie für den vermeintlichen Sinn ihres Daseins, Frauen zu mehr Selbstbewusstsein verholfen zu haben, gar nicht verehrt wird. Denn in Wahrheit haben Mädchen ihretwegen Komplexe und Selbsthass entwickelt und die Welt wird nicht wie in Barbieland von erfolgreichen Frauen gestaltet, sondern von Männern dominiert. Sie spürt den entblößenden, kritischen und vernichtenden Blick der anderen, stellt sich selbst und den Sinn ihrer Existenz in Frage, liegt irgendwann wie tot am Boden. Am Erleben der Bandbreite menschlicher Gefühle wie Scham, Traurigkeit, Angst vor Zurücksetzung und Bedeutungslosigkeit, Zweifel an der Liebe der Anderen, Unsicherheit und Zukunftsangst lernt Barbie, was es bedeutet, sterblich zu sein. Diese Erfahrungen sind dem Wesen des Todes ähnlich. Denn sie stellen das Leben in Frage. Sie ziehen den Sinn des Daseins in Zweifel. Sie zeigen auf, dass der Mensch sein Leben nicht bis ins Letzte unter Kontrolle hat. Sie drohen, den Menschen zu vernichten.
Tränen – schmerzlich, aber gut.
Wie begegnet man diesen Erfahrungen? Am liebsten liegen bleiben und warten, dass jemand etwas gegen das Schlamassel tut, denkt sich Barbie – sich in die eigene Handlungsunfähigkeit zu ergeben, das wäre eine Option. Barbie ist kurz davor, diesen Weg einzuschlagen: Sie lässt sich von ihren Machern überzeugen, in den Karton – ihre bunte und doch sargähnliche Verkaufsverpackung – zu gehen. Sie könnte mit diesem Schritt aus der ach so komplexen Welt zurück ins Paradies fliehen. Doch in dem Moment, als sich die Fesseln um ihre Hände legen wollen, flieht sie zurück in die Realität. Denn gleichzeitig mit den vernichtenden und lähmenden Gefühlen hat sie eine andere Erfahrung gemacht: Als ihr die ersten Tränen ihres Lebens übers Gesicht laufen, stellt sie überrascht fest: „Das war schmerzlich, aber gut.“
Das Leben ist schön,
gerade weil es überraschende Wendungen gibt.
Was am Schmerz ist gut? Kurz geantwortet: dass Barbie in diesem Moment sich selbst entdeckt. Ihr Weg hat das eigentliche Ziel, die „Wahrheit über das Universum“ zu erfahren. Die negative Seite dessen wird Barbie – wie gesehen – schmerzlich bewusst. Gleichzeitig entdeckt sie mitten in der rauen Realität die Schönheit des Lebens, die sich an so anderen Idealen misst als in Barbieland. Barbie sieht das Schöne paradoxerweise zuerst im Gesicht einer alten, vom Leben gezeichneten Frau. Im Film wird deutlich: Das Leben ist schön, weil es sich aus einzigartigen, einmaligen Lebensschicksalen zusammensetzt. Als Barbie feststellt, „die echte Welt ist nicht so, wie ich dachte“, kommentiert ihre Erfinderin: „Das ist sie nie, und ist das nicht wunderbar?“ Das Leben ist schön, nicht weil jeder Tag wie der andere der „schönste“ ist, nicht weil es durchgehend nach vorhersehbaren Mustern funktioniert, sondern weil es überraschende Wendungen nimmt. Die Unverfügbarkeit des Lebens wird so nicht allein als begrenzend, sondern auch als befreiend und beglückend empfunden.
Mit sich selbst gnädig sein.
Die Begrenztheit des Lebens hat noch einen weiteren Sinn: Dass Menschen sich entwickeln können, hängt davon ab, dass das Leben einen zeitlichen Verlauf hat, dass es nicht „für immer und ewig“ gleich ist, sondern einen Anfang und ein Ende hat. So wird die Sterblichkeit, das Enden-Können, zur Bedingung für die Vielfalt des Lebens. Die Weisheit der Erfinderin, „Menschen haben immer das gleiche Ende, Ideen leben ewig“, wird damit umgedreht: Ideen haben tagtäglich das immer gleiche Leben, Menschen können sich entwickeln, gerade weil sie die ganze Palette von Erfahrungen durchmachen. Die Befreiungsrede einer Mutter aus der echten Welt macht deutlich: Es kommt nicht darauf an, sich mit dem perfekten Lebenslauf, der allen Ansprüchen gerecht wird, selbst zu optimieren. Sondern es geht darum, das Leben trotz seiner Widersprüchlichkeit und Begrenztheit selbstwirksam zu gestalten und dabei mit sich selbst gnädig zu sein. Es geht nicht darum „alles sein zu können“, sondern zu sich selbst zu kommen.
Die echte Welt als Ort der erfüllten Sehnsucht.
Auf ihrem Weg erkennt Barbie nicht nur die Wahrheit über die Realität, sondern sie stellt fest: „Es ist, als ob mir etwas bewusst wird, aber das bin ich selbst“. Sie beginnt den Kern ihrer Identität im Unterschied zu der lediglich nach Rollen differenzierten, ewigen Gleichheit der Barbies zu suchen. Sie ahnt, wo sie zu sich selbst kommt: Im Erleben von Resonanz mit der Welt und Anderen, im Eintauchen in eine ambivalente Gefühlswelt und in der Selbstwirksamkeit. „Ich möchte zu den Menschen gehören, die etwas erschaffen, nicht etwas Erschaffenes sein“ – danach sehnt sich Barbie. Die Chance der selbstwirksamen Gestaltung ihres Lebens entdeckt sie gerade im Menschsein. So entpuppt sich für Barbie nicht etwa ihr wiederhergestelltes und sogar noch besser als zuvor konzipiertes Paradies, sondern die echte Welt als der Ort der Erfüllung ihrer Sehnsucht. Aus vollem Herzen sagt sie zum menschlichen Leben und Sterben: „JA“.
Der Mensch entzieht sich der Berechenbarkeit.
Überzeugend ist diese Auseinandersetzung, weil hier mit dem Todesbewusstsein nicht nur die Einsicht in die eigene Begrenztheit einhergeht. Ja, das zeigt der Tod: Das Leben ist schmerzhaft, der Mensch erlebt sich dem Schicksal ausgeliefert und in Frage gestellt und an der Erfahrung des Todes wird ihm das schmerzlich bewusst. Aber in der damit verbundenen Kontingenz des Lebens liegt zugleich eine Form von Freiheit: Das Leben kann gar nicht nach vollständig kontrollierbaren Mechanismen funktionieren, sondern es will in der je eigenen Situation gestaltet werden. Der Mensch selbst entzieht sich der Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit; er ist immer mehr als die Summe seiner Zuschreibungen und Funktionen. Theologisch greift hier die Spannung zwischen der schlechthinnigen Abhängigkeit des Geschöpfs von seinem Schöpfer und seiner ihm zugetrauten Freiheit, mit welcher der Mensch Anteil an der göttlichen Kreativität hat – gottebenbildlich ist. Mit dieser Spannung leben zu können, sprich Ambiguitätstoleranz einzuüben, dazu hilft nach theologischem Verständnis der Glaube. Ob er dazu im Gegensatz zu Barbie die Hoffnung auf ein Paradies braucht, kann an anderer Stelle diskutiert werden. Barbie jedenfalls hilft der Blick auf das unter seinem vermeintlichen Gegenteil verborgene Schöne, die Fähigkeit, widersprüchliche Gefühle empfinden und benennen zu können, das Vertrauen ihrer Schöpferin in ihre Potentiale und das Entwickeln eigener Ideale, für die es sich zu leben lohnt. Ihre Kunst des Sterbens besteht darin, trotz der Verneinung, des Schmerzes und der Ohnmacht, die der Tod mit sich bringt, sich selbst in ihrer Einzigartigkeit bejaht zu fühlen und das Leben in seiner wunderbaren Unverfügbarkeit zu bejahen und zu gestalten.
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Anna-Maria Klassen, Dr. theol., ist Pastorin in der St. Johanniskirche Göttingen. Sie hat über die theologische Deutung des Todes geforscht. Eine Zusammenfassung ihrer Thesen bietet das Essay „Zwischen Todesangst und Ewigkeitsgewissheit. Heute christlich vom Tod reden, in: Konstantin Sacher (Hg.): Leben mit dem Tod. Vier Essays gegen die Sprachlosigkeit, Gütersloh 2022.
Foto Barbie: Elena Mishlanova/unsplash.com