Feinschwarz hat einen der bekanntesten deutschen Theologen, Ottmar Fuchs, um einen Rückblick auf seine Zeit als Theologieprofessor gebeten. Entstanden ist ein sehr persönlicher, sehr eindringlicher Text.
Ich gehe immer schnelleren Schritts auf die achtzig zu. Vieles wird weniger selbstverständlich als bisher: Dass ich morgens aufstehen kann, dass ich gehen und denken kann, dass meine Sinne noch funktionieren, kurzum, dass ich noch mit meinen bisherigen Möglichkeiten leben darf. Dafür bin ich jeden Tag dankbar und diese Dankbarkeit bezieht sich überhaupt darauf, dass ich in dieses Leben hineingeboren wurde. Mit all dem, was mir geschenkt wurde, was ich erleben durfte, mit welchen Menschen ich Freundschaft haben durfte und darf. Sicher habe ich auch manches geleistet, aber das meiste ist unverdient, ist Gnade. Und dies umso mehr, als etliches je anfangs nicht gegeben, sondern zunächst (nur) Sehnsucht war. Ein Beispiel unter dem Stichwort „Bücher“:
Entdeckung der Bücherwelt
An den ersten handgreiflichen Kontakt mit der Wissenschaft kann ich mich sehr gut erinnern: Ende der vierziger Jahre, ich war noch im Kindergarten, hat meine Mutter in der Nachbarschaft bei einer Frau Professor Ruhl (sie war die Frau eines Professors, der längst gestorben war) die Wohnung geputzt, und ich durfte, wenn ich mich brav verhielt, mitgehen: eine große Altbauwohnung, mit Bücherregalen von unten bis oben, und ich durfte sogar Bücher herausnehmen, wenn ich sie an der gleichen Stelle wieder hineinschob, wie die Frau Professor sagte. Während meine Mutter die Wohnung geputzt hat, war ich auf dem Boden gesessen und habe Bücher durchblättert, habe Bilder und Zeichnungen entdeckt, und manche Überschrift konnte ich schon entziffern. Diese Besuche habe ich als wunderbare Erlebnisse in Erinnerung. Niemals wäre mir damals in den Sinn gekommen, dass ich selbst einmal so viele Bücher haben würde. Wir hatten zuhause kein Buch, außer dem Gesangbuch. Bücher musste ich mir immer aus der Stadtbücherei ausleihen oder ich bekam sie über die Lernmittelfreiheit am Gymnasium ins Haus.
Ich war ein Leben lang fasziniert vom Studium und vom Schreibtisch. Als Kaplan zwackte ich jede freie Stunde und vor allem die Nachtstunden (zwischen 22.00 und 1.00 Uhr) für das Studium ab. Später habe ich, nach fünf Jahren als Kaplan und fünf Jahren als Studentenpfarrer, 33 Jahre an der Universität (in Bamberg und Tübingen) das Leben in der Wissenschaft als Privileg genossen. Ich liebte es zu denken, zu lesen, zu schreiben, Fragen auf den Grund zu gehen, jahrzehntelang bis ins Alter mit jungen Menschen zu studieren, Themen zu bearbeiten, phantasievoll zu grübeln und wenigstens in Büchern, Aufsätzen, Seminaren und Vorlesungen die Wirklichkeit zu verändern.
Wer ein wissenschaftliches, literarisches oder poetisches Buch in die Hand nimmt und aufschlägt, begibt sich, weg vom eigenen Kontext, in einen anderen Text, in eine andere Welt. Penelope Fitzgerald schreibt in ihrem Büchlein „Die Buchhandlung“: „Ein gutes Buch ist der kostbare Lebenssaft eines meisterlichen Geistes, einbalsamiert und aufbewahrt zum Zweck eines Lebens über das Leben hinaus.“[1] „… und insofern ist es doch wohl ein lebensnotwendiges Gut.“[2] Denis Scheck trifft ins Schwarze: „Literatur ist das Medium, das einem ermöglicht, mehr als tausend Leben führen zu dürfen, ohne mehr als einen Tod sterben zu müssen“:[3]
„Nach“ der Shoah
Seit ich Mitte der fünfziger Jahre, fast noch ein Kind, das erste Mal heimlich von der Kinder- und Jugendbuchabteilung der Erlanger Stadtbücherei in den Erwachsenenbereich hinüberschlich, dort in der zeitgenössischen Geschichtsabteilung gelandet bin und einen der ersten Dokumentationsbände über die Judenverfolgung im Nazi-Deutschland in die Hand bekam: Seit diesem Schock der Bilder, der mich bis ins Innerste traf, hat mich dieses „Thema“ nie wieder verlassen.
„Auschwitz“, und wofür es insgesamt steht, ist ein „theologischer Ort“, von dem sich die christlichen Inhalte ihrer bisherigen Selbstverständlichkeit gründlich beraubt erfahren. Die Erinnerung an das tödliche „Brechen“ menschlichen Lebens lässt auch die theologischen Diskurse nicht ungebrochen sein. Auschwitz kann nicht in Konzepte „integriert“ werden, sondern wird zum Ort expansiver Desintegration für die Gottes-, Sinn- und Methodenvorstellungen. Denn was in Auschwitz geschehen ist, wofür es, bei aller Unvergleichbarkeit, doch in relativer Vergleichbarkeit weltgeschichtlich steht, ist die abgründige menschliche Gewalt- und Leidensgeschichte, die nie „zu Ende“ gedacht und in einen deckungsgleichen Respons der Erschütterung und Verantwortung gebracht werden kann. Für deren Unverzeihlichkeit reicht auch eine noch so aggressive Gottesanklage nicht aus. …. Ich kann hier nur einen harten Schnitt machen, um weiter sprechen zu können.
Dynamik der Freiheit
Eine starke Dynamik in meinem Leben war und ist die Sehnsucht nach Freiheit: Menschen und Systemen, aber auch Gott gegenüber. Die Entmoralisierung der Gottesbeziehung, das Zerbrechen von jeder Wenn-Dann-Struktur öffnet sich für beides: nämlich, dass ich weder Gott selbst mit Bedingungen in den Griff bekommen will, noch dass Gott mich mit Bedingungen bei der Stange halten will. Gott muss nicht nutzbar sein, um existieren zu dürfen, und ich muss nicht brav sein, um geliebt zu werden.
Was eine solche Spiritualität für die Kritik verfasster Religionen bedeutet, nämlich sich wenigstens annähernd in diese Richtung zu bewegen, müsste vieles vom Kopf auf die Füße stellen. Auf diesem Hintergrund erfahre ich mein Leben als permanente Emanzipationsgeschichte von Vorgegebenheiten, von angeblichen Gesetzmäßigkeiten und angeblich notwendigen Strukturen, die ich soweit wie möglich hinter mir lasse. Dabei musste ich auch verlassen, was mich zeitweise getragen hat. Im Tod muss (oder darf?) ich alles loslassen. Für eine unendliche Freiheit danach?
In diesem Spannungsfeld habe ich auch das entsprechende Verhältnis zu meiner eigenen Kirche erlebt: Ich verdanke ihr viel, sehr viel, von der fränkischen Volksfrömmigkeit angefangen bis zu den immer wieder faszinierenden Theologien, Spiritualitäten und Praxen, die sich ebenfalls auf den Weg entsprechender Befreiungen gemacht haben und machen. Mit ihnen möchte ich solidarisch sein und mit ihnen suche ich nach Möglichkeiten über bisherige Grenzen hinaus. Oder auch in bisherigen Grenzen, um der darin lebenden Menschen willen.
„Empathie ist wichtiger als…“
Vom Gebet „Engel des Herrn“ lässt mich immer das dritte Ave besonders innehalten: „Und das Wort ist Fleisch geworden – Und hat unter uns gewohnt.“ Das ist das einzig mögliche Wahrheitskriterium einer Transzendenz, die jetzt nicht eingreift und die die Frage nach dem unverzeihlichen Leid unbeantwortet sein lässt. Nur weil Gott selbst diesen Schmerz der Menschheit am eigenen Leib erlebt, kann ich ihm/ihr zutrauen, dass es eine Rettung gibt, die alle Fragen nicht unterhalb des Niveaus des Erlittenen beantworten wird. Das Kreuz steht für diesen unendlichen Mitschmerz Gottes. Das alles ist unmöglich, aber Unmöglichkeit ist das Attribut Gottes selbst.
Julia Enxing sagt: „Für mich persönlich ist das das Göttliche: Immer da zu sein. Gott kann mir meine Entscheidungen nicht abnehmen, die Fallstricke nicht wegzaubern und auch meine Probleme nicht lösen, mir meinen Schmerz nicht nehmen. Aber Gott ist da, hält mit mir aus, geht nicht weg, sondern bleibt da und wacht mit mir. Für mich ist Gott empathisch, Gott fühlt mit mir. Gott ist ein Gott, der da ist … Gott bleibt mit mir wach in meinen wachen Nächten. Das klingt nicht gerade ‚allmächtig‘ meinen Sie? Vielleicht. Vielleicht ist Empathie aber auch wichtiger als Allmacht.“[4]
Wozu war ich gut? Wenn Empathie wichtiger ist als Macht, Leistung und Erfolg? Das endgültige Urteil darüber gebe ich ebenfalls ab an jenen offenen Raum im Universum, von dem ich immer noch glaube, dass er die Unendlichkeit an Freiheit und Liebe aufmacht.
Und wenn nicht?
Wenn das alles einmal nicht wahr sein sollte, wofür viele religiöse Vorstellungen und viele Sehnsüchte stehen, dann bleibt die haltlose Schwebe, die im Nichts versinkt. Erst im Tod werde ich merken, wohin die Zukunft geht, oder ich werde nichts mehr merken. Die Liebe geht dann zugrunde und die schlimmsten Taten bleiben ungesühnt. Wie weit Menschen trotzdem mit Hoffnungsillusionen besser leben als ohne sie, steht auf einem anderen hochambivalenten Blatt.
Der religiöse Glaube lebt davon, immer auch über den Tod hinaus zu phantasieren. Das muss er sich nicht verbieten lassen. Von solchen Phantasien leben Spiritualitäten, Kunst, Rituale und Musik, – und Theologien. Und die diesbezüglich Verantwortlichen haben die Verantwortung, dass diese Phantasien jetzt das Erlebnis-, Hoffnungs- und Sorgeniveau der Menschen so erreichen, dass sie jetzt gut tun, zu leben helfen und nicht Ausgrenzung und Hass befördern. Und sie haben permanent zu signalisieren, dass ihre Phantasien nie identisch mit dem sind, was vom unendlichen Geheimnis her tatsächlich sein könnte.
Auch wenn es Gott nicht gäbe, wäre eine solche Kritik der Religionen nicht vergeblich. In jedem Fall ginge es dann um die Humanisierung religiöser Vorstellungen. Es ist ja offensichtlich, dass sich in der Geschichte und in der Gegenwart der Religionen Gottesphantasien ausgesprochen inhuman auswirken, vor allem für die Nichtdazugehörigen. Umso mehr braucht es Menschen, die die Humanisierung der Gottesvorstellungen betreiben und mit den Mitteln der jeweiligen Religionen vertiefen, damit die herrschenden Gottesbeziehungen den Menschen eine Lebenshilfe zur Liebe und zur Solidarität sind bzw. werden.
Epilog
Gestorbensein hat für mich nichts Schreckliches. Schmerzlich ist aber, dass dies liebe Menschen als Verlust erfahren. Auf einem Flug vor etwa 20 Jahren nach Rom wurde das Flugzeug von einem Blitz getroffen und es war zunächst nicht klar, ob nicht dabei die ganze Elektrik zerstört war. Die ersten Gedanken, die mir (und übrigens auch den mitfliegenden Kollegen und Kolleginnen) kamen, waren nicht die des eigenen Sterbens, sondern wen ich nun zurücklassen müsse, wer nun so oder so dadurch geschädigt und im Stich gelassen sein würde. Auch deswegen hänge ich am Leben.
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Ottmar Fuchs ist em.Univ.-Prof. für Praktische Theologie (Bamberg und Tübingen) und wohnt in Lichtenfels.
[1] Penelope Fitzgerald, Die Buchhandlung. Berlin 3/2022 (London 1978), 76
[2] Ebd. 178.
[3] So Denis Scheck in seiner TV-Literatursendung „druckfrisch“ im März 2021.
[4] https://www.ardmediathek.de/video/das-wort-zum-sonntag/wie-trifft-man-entscheidungen/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2RhcyB3b3J0IHp1bSBzb25udGFnLzIwMjMtMDYtMDNfMjMtMzUtTUVTWg Zugriff 29.09.23.