Die Befreiungstheologie in Lateinamerika entwickelt sich weiter. Sie hat das Grundprogramm des II. Vatikanischen Konzils kreativ in die Wirklichkeit ihres Kontinents umgesetzt und ist heute bunter und breiter aufgestellt denn je. Stefan Silber zeigt ihre Vielfalt und bleibende Aktualität, auch für Europa.
Seit die Befreiungstheologie in die bundesdeutschen Lehrpläne für katholischen Religionsunterricht aufgenommen wurde, scheint sie endgültig reif fürs Museum zu sein. Wenigstens legen Form und Inhalt der Darstellung in Lehrplänen, Schulbüchern und Unterrichtsentwürfen oft nahe, dass die Befreiungstheologie als ein Gegenstand aus der Vergangenheit behandelt werden soll.
Ganz anders in Lateinamerika: Dort muss die Behandlung der Befreiungstheologie nicht durch behördlichen Erlass angeordnet werden. Sie leibt und lebt – in Schulen, Universitäten, Kirchen, Gemeinden und Bewegungen. Natürlich nicht überall im gleichen Maß, denn bis heute wird die Theologie der Befreiung vielfach angefeindet und ausgegrenzt. Aber sie ist so weit in den verschiedensten Bereichen lateinamerikanischer Kirchen und Gesellschaften etabliert, dass sie vielfach als die genuin eigene Theologie Lateinamerikas angesehen oder schlichtweg mit „der lateinamerikanischen Theologie“ synonymisiert wird.
Die Theologie der Befreiung ist zu einer bunten und breit aufgestellten Bewegung geworden.
Offensichtlich wurde das bei zwei großen kontinentalen Kongressen für Theologie 2012 und 2015, die jeweils mit einer Reihe von lokalen und regionalen Kongressen und Seminaren vorbereitet wurden und an denen Hunderte von Theologinnen und Theologen aus allen Generationen und praktisch aus allen Staaten Lateinamerikas teilnahmen. Gerade der Gedankenaustausch mit der jüngeren Generation der in den 1980er Jahren oder später Geborenen wurde gezielt gesucht und gefördert. Auf diesen Kongressen konnte man auch erkennen, dass die Theologie der Befreiung von einer Angelegenheit weißer Männer, zumeist Priester, inzwischen zu einer bunten und breit aufgestellten Bewegung geworden ist.
Bunt, das heißt nicht nur, dass inzwischen auch Menschen wissenschaftlich Befreiungstheologie treiben, die als Kinder und Jugendliche selbst in Armut und Unterdrückung aufgewachsen sind, die zu indigenen Kulturen oder ethnischen Minderheiten gehören, die als Mädchen oder Frauen sexuelle Gewalt oder Diskriminierung erleben mussten. Bunt sind auch die Themenbereiche, Fragen und Konflikte, denen sich die Theologie der Befreiung inzwischen stellt. Neben den klassischen sozioökonomischen Themen wurden bereits seit den 1990er Jahren zunehmend Gender- und Kulturfragen integriert. Nun treten viele neue Fragestellungen wie das Leben in der Megastadt, die Vielfalt der Migrationsformen, der Menschenhandel und die Gewalt, die Ökologie, aber auch die Kirchenreform und die Spiritualität stärker in den Blick.
Vernetztes, zyklisches und mythisches Denken tritt in einen kritischen Dialogprozess mit dem europäischen Rationalismus.
Bunter ist auch das Spektrum der befreiungstheologischen Methoden geworden. Zwar bleibt die grundlegende Methode das „Sehen-Urteilen-Handeln“. Sie setzt bei der gelebten und erfahrenen Wirklichkeit an und sucht sie aus dem Glauben heraus zu verändern. Aber statt der utopischen „Großen Erzählungen“ stehen konkrete Lebensgeschichten und Biografien im Mittelpunkt. Statt einer Fokussierung auf sozioökonomische Analysen setzt man auf eine Vielzahl interdisziplinärer Zugangsweisen. Und Schritt für Schritt löst man sich immer mehr von wissenschaftstheoretischen Denkmustern, die europäischer Denkart verbunden sind, und strebt eine systematische Dekolonialisierung der Wissenschaften an.
So wird beispielsweise in der indigenen Befreiungstheologie autochthonen Weisheits- und Wissenstraditionen auch methodologisch viel Raum gegeben. Vernetztes, zyklisches und mythisches Denken tritt in einen kritischen Dialogprozess mit dem europäischen Rationalismus. Abendländischen Modellen von Wissen, Ethik und Vernunft wird im Dialog mit anderen postkolonialen Methodologien weltweit die Machtfrage gestellt. Der methodologische Universalismus wird durch partikulares, hybrides und geschichtsbezogenes Denken abgelöst, Grenzen, Ränder und Zwischenräume treten stärker in den Blick.
Die Option für die Armen: Menschen mit ihren Einzelschicksalen und konkreten Hoffnungen und Leiden.
Die Armen bleiben im Mittelpunkt. Trotz aller Kritik an dem oft als Leerformel wahrgenommenen Begriff der „Armen“, trotz (oder vielleicht gerade wegen) aller notwendigen Differenzierungen an diesem Begriff, den Hinweisen, dass arme Menschen konkret auch Frauen und Männer sind, Indigene und Afroamerikaner, Kinder und Alte, Gewaltopfer und Migranten, halten die Theologinnen und Theologen der Befreiung die klassische Maxime der „Option für die Armen“ aufrecht. Inzwischen ist gut durchdiskutiert, dass sich unter diesem abstrakten Überbegriff ganz konkrete Menschen mit ihren Einzelschicksalen und konkreten Hoffnungen und Leiden tummeln.
Heute wird daher in der Befreiungstheologie viel sorgfältiger nach den konkreten Lebensbedingungen, den Einzelfällen, den Organisationsmöglichkeiten und den Kompetenzen derer gefragt, die unter Bedingungen der Armut, Ausgrenzung und Unterdrückung leben. Im Ergebnis wird die Theologie differenzierter, kreativer, ökumenischer, laikaler und säkularer. Inzwischen ist sogar von einem „lateinamerikanischen theologischen Frühling“ (Óscar Elizalde Prada) die Rede.
Kraft aus dem Dialog und der Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten sozialen Bewegungen.
Die Vielzahl der lateinamerikanischen Theologien der Befreiung eint auf diese Weise immer noch das Ziel, sich von der konkreten und konfliktiven Realität anleiten zu lassen, um das Wort Gottes und die Tradition so zu lesen, dass es in dieser Realität Wirklichkeit werden kann. Die Weltrevolution im Namen des Reiches Gottes oder die große nationale Befreiungsbewegung ist dabei meist nicht im Blick – das war auch in der Gründungsphase nur in Ausnahmen der Fall. Aber auch wenn klar ist, dass jede Form der politischen Befreiung immer nur vorläufig und prekär bleiben wird, wird die lateinamerikanische Theologie der Gegenwart von der Überzeugung getragen, dass die Theologie politische Konsequenzen haben muss. Auch wenn es nur kleine, prekäre, vorübergehende Schritte der Befreiung sind, die möglich werden.
In den vergangenen Jahrzehnten konnte die lateinamerikanische Kirche durch den Einfluss der Theologie der Befreiung tatsächlich manche soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Veränderung in den Ländern des Kontinentes bewirken. Ihre Kraft schöpft sie aus ihrem Dialog und der Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten sozialen Bewegungen. Als eine Partnerin im Dialog und im gemeinsamen Kampf macht sich die Kirche mit Gruppen und Bewegungen, die bestimmte politische, soziale, ökologische oder andere Interessen vertreten, auf den Weg, um ganz konkrete Etappen der Befreiung und Humanisierung zu erreichen.
Das Vertrauen in die Gegenwart des schöpferischen und befreienden Geistes Gottes.
In kleinen Schritten auf diesem Weg kann das Reich Gottes Wirklichkeit werden, kann das Evangelium ganz praktisch verkündet und vertreten werden. Die Theologie der Befreiung wird von der hoffnungsvollen Überzeugung getragen, dass in den unterschiedlichen Veränderungsprozessen des Kontinentes und in den Reichtümern seiner Menschen und Kulturen der schöpferische und befreiende Geist Gottes gegenwärtig ist und sich auch kirchenferner und sogar kirchenfeindlicher Bewegungen bedienen kann.
Ein wesentliches Kennzeichen sowohl der lateinamerikanischen Kirche wie der Bewegungen, mit denen sie unterwegs ist, ist das Martyrium (vgl. feinschwarz.net vom 13. Oktober 2016). Die Zahl derer, die in den letzten Jahrzehnten aufgrund ihres Glaubens an die befreiende Kraft des Evangeliums ermordet wurden, geht inzwischen in die Hunderte und nimmt immer noch zu, ohne all die Menschen zu zählen, die von der Sünde getötet wurden, die – wie die Bischöfe 1979 in Puebla sagten – „den Strukturen selbst innewohnt“.
Diese neuen Gestalten der Theologie der Befreiung werden oft übersehen, wenn in der europäischen Theologie über sie gesprochen wird. Allzu schnell wird sie als Schnee von gestern bezeichnet, als Überrest des Kalten Krieges, der nicht mehr aktuell sei. Es gibt aber auch in Europa Prozesse einer anderen, lebendigeren Rezeption der Theologie der Befreiung. Die deutschsprachige „Plattform Theologie der Befreiung“ vernetzt inzwischen seit zehn Jahren Menschen, Institutionen und Bewegungen, die an der Weiterentwicklung, Verbreitung und Umsetzung dieser Theologie arbeiten.
Verbunden mit der aktiven und verheutigenden Erinnerung an das II. Vatikanische Konzil.
Eine erstaunliche Fülle an Publikationen, Dissertationen, Kongressen, Erwachsenenbildungsveranstaltungen und konkreten politischen und pastoralen Prozessen tritt zutage, wenn man sorgfältig auf die regelmäßigen Meldungen v.a. aus der Schweiz, Österreich und Deutschland achtet. Auch in Europa vernetzt die Theologie der Befreiung sich mit politischen und sozialen Bewegungen, die sich teils nicht kirchlich oder sogar dezidiert antikirchlich verstehen. Vor allem eine junge Generation von Theologinnen und Theologen sucht den Dialog mit antikapitalistischen, ökologischen und anderen sozialen Bewegungen, ist bei der Aufnahme von Geflüchteten aktiv und sucht gezielt auch die Zusammenarbeit mit nichtkirchlichen Partnerinnen und Partnern.
In den vergangenen vier Jahren war es unübersehbar, wie sehr gerade die Menschen, die an der Rezeption der Theologie der Befreiung in Europa arbeiten, sich auch um die aktive und verheutigende Erinnerung an das II. Vatikanische Konzil bemühten (vgl. Projektgruppe „Pro Konzil“). Nicht nur der bis heute mahnende Katakombenpakt (vgl. feinschwarz.net vom 6. Dezember 2016), sondern auch die zeitgemäße Interpretation der Herausforderungen, vor welche besonders die Pastoralkonstitution des Konzils uns heute noch stellt, verweisen auf die lateinamerikanische Theologie der Befreiung, die das zukunftsweisende Grundprogramm dieses Konzils in die Wirklichkeit ihres Kontinents kreativ umgesetzt hat.
Die Theologie der Befreiung lebt.
„Die Theologie der Befreiung lebt.“ Mit diesem plakativen Satz startete die Plattform Theologie der Befreiung vor zehn Jahren. Damals klang das so provokativ wie heute. Wer ihre Entwicklungen in Lateinamerika verfolgt und beobachtet, wie sie in zahlreichen Regionen der Welt aufgenommen, weiterentwickelt und in die Praxis umgesetzt wird, kann jedoch auch heute nur bestätigen, dass sie die Kirche und die Gesellschaft noch immer in Bewegung bringt.
Literatur zum Weiterlesen:
- Gunter Prüller-Jagenteufel / Hans Schelkshorn / Franz Helm (Hg.): Sehnsucht Brot. Auf dem Weg zu einer globalen Tischgemeinschaft (Concordia Monographien 64), Aachen: Verlag Mainz 2015
- Franz Segbers / Simon Wiesgickl (Hg.): »Diese Wirtschaft tötet« (Papst Franziskus). Kirchen gemeinsam gegen Kapitalismus, Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, in Kooperation mit Publik-Forum, Hamburg: VSA 2015
- Stefan Silber: Totgesagt und doch lebendig. Aktualität der Theologie der Befreiung in Lateinamerika, in: ET-Studies 5 (2014) 1, 139-149
Stefan Silber, Dr. theol. habil, Privatdozent an der Universität Osnabrück, arbeitet als Theologe und Pastoralreferent in der Diözese Würzburg und ist Koordinator der Plattform Theologie der Befreiung.