Was sieht man, wenn man mit Theorien Michel Foucaults auf ein katholisches Priesterseminar schaut? Der Münsteraner Seminarist Maximilian Heuvelmann erlaubt kritische Einblicke hinter die Kulissen.
Jeder kennt die Situation: Man läuft zufällig an einem Gebäude vorbei und kann sofort erkennen, welchen Zweck es erfüllt. Ein Gericht kann sehr deutlich von einem Krankenhaus, eine Schule von einem Einkaufsmarkt und eine Bank von einem Kindergarten unterschieden werden. Der Zweck des Gebäudes drückt sich also schon in der Bauweise aus.
Gleiches gilt für Priesterseminare. Nähert man sich einem Priesterseminar, so fällt auf, dass der Baustil dem einer Kaserne oder einem Gefängnis ähnelt und dass zwischen diesen Gebäuden große Gemeinsamkeiten bestehen. Das Priesterseminar in Münster dient hier als Beispiel.
Jeden im Blick
Möchte man zum Seminar in Münster, so muss man in eine Stichstraße am Domplatz abbiegen und läuft ganz gezielt auf dieses Gebäude zu. Kurz bevor man den Hof des Seminars betritt, durchschreitet man ein Tor, das in eine Mauer eingelassen ist. Der Blick fällt sofort auf die Pforte. Sie ist fast täglich besetzt und hat sofort jeden im Blick, der sich der großen Haustür nähert. Verweilt man einen Moment im Hof und schaut sich um, fällt auf, dass jedes Zimmer einen Blick in den Hof hat. Der Baustil ermöglicht schnellstmögliche Sichtbarmachung. Beim Durchschreiten der Haustür werden die ersten Informationen gesammelt. Was ist der Grund für einen Besuch im Seminar? Welche Autos parken im Hof? Wie lange wollen Sie bleiben? Welcher Besuchergruppe sind Sie zugehörig?
Im Seminarinneren fällt das riesige Treppenhaus auf. Es ermöglicht einen sofortigen Blick auf Besucher, die im Flur hinter der Pforte warten. Im großen Treppenhaus geht die Sichtbarmachung weiter. Es kann niemandem ausgewichen werden. Auf der ersten und zweiten Etage passiert man die Wohnungen der Regenten. Die Wohnungstüren öffnen sich in den Hauptflur hinein. Biegt man aus dem Treppenhaus in die Flure ein, die zu den einzelnen Wohngemeinschaften führen, fallen sofort die langen sehr einsehbaren Flure auf – schon durch die Seitenwände der Türen können die Flure vollständig eingesehen werden. Im ganzen Haus fällt die Sauberkeit auf. Atmosphärisch charakteristisch sind die Stille und Leere im ganzen Seminar.
Überwachen und Strafen
Als Analysemittel für die Beschreibung und für die schon angedeuteten Interpretationen bietet sich der französische Philosoph Michel Foucault an. In der Studie „Überwachen und Strafen“ beschäftigt er sich zunächst mit verschiedenen Techniken der Strafe und deren Entwicklungen im Laufe der Geschichte. Er untersucht verschiedene Orte und Bereiche, wie zum Beispiel Gefängnisse, die durch Mechanismen der Sichtbarmachung das Individuum beherrschen.[1]
Foucault macht auf den gravierenden Zusammenhang zwischen Architektur und Individuum aufmerksam. Durch die Architektur wird das Individuum verändert und berechenbar gemacht.[2] Die Architektur wirkt also auf den Kandidaten ein und folgt dem Interesse der Sichtbarmachung. Sichtbarmachung meint: andauernde und permanente Ansammlung von Informationen über das Verhalten, die Haltung, Interessen und Fähigkeiten des Kandidaten. In Bezug auf die Architektur und die Individuen schreibt Foucault: „Noch allgemeiner geht es um eine Architektur, die ein Instrument der Transformation der Individuen ist: die auf diejenigen, welche sie verwahrt, einwirkt, ihr Verhalten beeinflussbar macht, die Wirkung der Macht bis zu ihnen vordringen läßt, sie einer Erkenntnis aussetzt und sie verändert.“[3]
Machtfülle
Bezogen auf das Priesterseminar in Münster lassen sich hier zuerst die einsehbaren Flure und die sofortige Sichtbarmachung beim Betreten des Hofes anführen. Alles ist möglichst zu jeder Zeit und an jedem Ort zu sehen. Nur so kann auf den Insassen eingewirkt werden. Damit ergibt sich folglich ein enger Zusammenhang zwischen der architektonischen Überwachung und der hierarchischen Überwachung – beide sind aufeinander verwiesen. Dadurch kommt es zu einer doppelten Einwirkung auf den Kandidaten. Er wird mit einer Machtfülle konfrontiert, die auf ihn einwirkt.
Dazu passt die völlige Abhängigkeit der Seminaristen von den Ausbildungsverantwortlichen. Es gibt keine Miet – oder Ausbildungsverträge. Getroffene Entscheidungen sind nicht immer nachvollziehbar und bleiben im Letzten intransparent. Der Seminarist kann sich also zu keinem Zeitpunkt sicher sein, ob er nicht mit einer Sanktion oder sogar einer plötzlichen Beendigung seiner Ausbildung rechnen muss. Es gibt niemanden, der ihn gegenüber den Ausbildungsverantwortlichen schützt.
Herzliche Einladungen in einem offenen Haus
Die verwendete Sprache im Seminar erscheint oftmals maximal unverbindlich. Gerade, wenn von der herzlichen Einladung oder dem „offenen Haus“ die Rede ist. Herzliche Einladungen werden z.B. im Kontext des Gotteslobsingens ausgesprochen. Eine Veranstaltung, die für die Seminaristen verpflichtend ist – damit wird vordergründig eine Freiwilligkeit suggeriert. Was ist unter der herzlichen Einladung zu verstehen? Wie verbindlich ist diese und für wen gilt sie? Wird die Überwachung damit nicht sogar verschärft, weil sie nicht gegenwärtig scheint?[4]
Das offene Haus wird zur Karikatur; mit Foucault kann gezeigt werden, welche Mechanismen das offene Haus Priesterseminar zur Überwachung ausbildet. Offen ist es in Ansätzen wohl nur für Besucher. Der Seminarist wird sichtbar gemacht, indem er sich an verschiedenen Stellen bewähren muss. Dazu zählen die Prüfungen an der Universität und die ständig erwartete Bereitschaft, das Seminar in Form von Hausämtern und anderen Aktivitäten mitzutragen. Abweichungen davon werden zur Kenntnis genommen und sanktioniert.
Disziplinierung
Beispielhaft kann hier das Eintragen in die Essenslisten oder in den Messdienerplan genannt werden. Listen dienen indirekt der Sichtbarmachung. „Es geht darum, die Anwesenheiten und Abwesenheiten festzusetzen und festzuhalten; zu wissen, wo und wie man die Individuen finden kann.“[5] Dahinter steht der Gedanke der Disziplinierung. „Die Durchsetzung der Disziplin erfordert die Einrichtung des zwingenden Blicks: eine Anlage, in der die Techniken des Sehens Machteffekte herbeiführen und in der umgekehrt die Zwangsmittel die Gezwungenen deutlich sichtbar machen.“[6]
Der Seminarist ist in dieser Machtasymmetrie der Beherrschte; er ist „Objekt der Information“[7] und nicht „Subjekt in einer Kommunikation“[8]. Es ist die panoptische Logik der Seminarausbildung. Foucault bringt es auf den Punkt, wenn er formuliert: „Der perfekte Disziplinarapparat wäre derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen.“[9]
Grundproblem der Kirche
Wir stoßen hier auf ein Grundproblem der Kirche im Umgang mit Macht; Macht wird durch potestas und nicht durch auctoritas ausgeübt. Die Seminaristen werden folglich in ein System hinein erzogen, in dem sie – wenn überhaupt – erst durch die Weihe etwas zu sagen haben. Die Ausbildung baut schon Vorstufen dieser Erziehung ein. Nach einer gewissen Zeit werden die Kandidaten zum Lektoren und Akolythen beauftragt. Sie werden – bildlich gesprochen – ein Stück weiter im System befördert. Die Beförderung geschieht nur aufgrund der positiven Befürwortung durch die Ausbildungsleitung.
Diese Technik bezeichne ich als systemischen Initiationsritus. Das System selber gibt die entsprechenden Parameter zu einer solchen Beförderung vor und es hängt immer von den Vorgesetzten ab, ob der Kandidat zugelassen oder nicht zugelassen wird. Das Problem der Macht und des Machtverhältnisses verdichtet sich im Priesterseminar. Gerade die geringe Zahl an Eintritten in Priesterseminare verschärft diese Situation noch.[10] Die Frage nach dem Umgang mit Macht in der Kirche hat sich in den letzten Jahren doch in hochproblematischer Weise gezeigt.[11]
Hierarchischer Blick und normierende Sanktion
Foucault spricht in diesem Zusammenhang von „Disziplinarmacht“[12]. Sie konstituiert sich aus einem Zusammenspiel von verschiedenen Techniken. „Zweifellos liegt der Erfolg der Disziplinarmacht am Einsatz einfacher Instrumente: des hierarchischen Blicks, der normierenden Sanktion und ihrer Kombination im Verfahren der Prüfung.“[13]
Das Priesterseminar ist ein Brennpunkt der Heterogenität. Männer, die sich entschließen, in ein Seminar einzutreten, kommen mit einem je eigenen Priester- und Kirchenbild; sie kommen mit unterschiedlichen Talenten und Charismen; sie haben unterschiedliche Geschichten und Erfahrungen gemacht. Die Ausgangslage ist divers.
Vereindeutigung des heterogenen Diversen
Ebendiese Heterogenität der Priesterberufungen sollte gefördert werden. Stattdessen wird eine „Vereindeutigung“ gesucht. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat den auch in anderen Zusammenhängen zu beobachtenden Trend zur Vereindeutigung in dem Band „Die Vereindeutigung der Welt“[14] beachtenswert dargestellt.
Heterogenität wird im Seminar über den Disziplinierungsapparat aufgelöst. Dazu dienen die „Disziplinarstrafen“[15]. Daraus wiederum resultiert eine „Ordnung“[16]. Foucault beschreibt zwei Richtungen dieser Ordnung:
- Erstens ist sie künstlich z.B. durch Regeln und Ordnungen oder Programme.[17] Das Seminar in Münster bildet in der Hinsicht eine doppelte Struktur aus. Jeden Tag gibt es einen Programmpunkt, an dem verpflichtend teilgenommen werden muss. Montags ist beispielsweise die Laudes für alle Seminaristen verpflichtend. Darüber hinaus gibt es Programmwochenenden, die ebenfalls verpflichtend sind. Eine Teilnahme wird natürlich überwacht und ein Fehlen entsprechend sanktioniert.
- Zweitens bieten die verpflichtenden Termine eine Möglichkeit, die Seminaristen zu beobachten und in gewisser Hinsicht einer Prüfung zu unterziehen. Wie beteiligen sie sich am Gespräch? Wie interagieren sie untereinander? Wie ist die Stimmung unter den Seminaristen? Mit Foucault fallen diese beiden Charakteristiken zusammen und bilden so die Ordnung, die durch Strafen erreicht wird.[18]
Habhaftwerdung
Um die Heterogenität aufzulösen, muss der Kandidat normiert werden. Dies wird ersichtlich an zwei scheinbar unvereinbaren Paradigmen. So stehen sich das Paradigma der communio-Theologie und das Paradigma der Individualität gegenüber. Der Logik Foucaults’ folgend bringt gerade das Seminarsystem Individualität hervor. Weicht ein Kandidat von der Norm ab, so wird er zum Fall und damit individuell. Er bricht durch sein Verhalten aus der Menge heraus und muss entsprechend normiert werden.
Die Normierung dient also als Mittel der Habhaftwerdung und zur Auflösung von Heterogenität. Dazu Foucault: „Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und Augenblicke der Disziplinaranstalten erfaßt und alle kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend.“[19]
Kriterien grundlegend verändern
Ist es in der spätmodernen Zeit sinnvoll, Heterogenitäten aufzulösen? Sollte man sie nicht viel eher fördern, damit verschiedene Milieus erreicht werden können und erreichbar bleiben? Damit steht die Kirche vor der Herausforderung, die Kriterien zur Überprüfung einer priesterlichen Berufung grundlegend zu verändern und auszuweiten.
Meiner Erfahrung nach haben die oben beschriebenen Strukturen und Mechanismen Auswirkungen auf das Leistungsniveau der Kandidaten und auf deren Kontakt zu Menschen außerhalb des Priesterseminars. Das Seminar wird schnell zu einem Elfenbeinturm, den man nur schwer verlassen kann – es wird mit allen möglichen Mitteln versucht, den Kandidaten ans Haus zu binden. Ermöglicht das menschliche und geistliche Reifung?
Unterscheidungsarbeit
In Zeiten der kulturellen Unsicherheiten und der Erosion von bekannten Strukturen scheinen die Institutionen immer repressiver zu werden. Die Aufgabe der Ausbildungsverantwortlichen wird nicht einfacher. Zukünftig wird die Herausforderung darin bestehen, Berufungen zu erkennen und zu fördern, auch da, wo diese in Spannung zu den kirchlichen Kriterien stehen. Christoph Theobald macht auf dieses Spannungsfeld und auf die verschiedenen Dimensionen aufmerksam, die in der von den Verantwortlichen zu leistenden „Unterscheidungsarbeit“[20] zu berücksichtigen sind.
Die entscheidende Frage, vor der die Ausbilder und die jungen Menschen stehen, die sich einen Beruf in der Kirche vorstellen können, lautet: „Was unterscheidet wirklich ein ‚Leben mit Gott’ von einem ‚Leben ohne Gott’?“[21] Natürlich bezieht sich die Frage nicht nur auf Menschen, die einen Beruf in der Kirche anstreben, sondern auf alle Christinnen und Christen.
Gottsucher
Ob das Priesterseminar der richtige Ort ist, um diese Frage ansatzweise klären zu können, wage ich zu bezweifeln. Sollten die Seminaristen nicht eher im Sinne von Michel de Certeau „christliche Zeitgenossen“[22] werden und dieser Frage als Vagabunden der Sehnsucht nachgehen? An den Orten, die nicht mehr mit der Kirche oder ihren Zeugen rechnen? An Orten, wo Menschen sind, die durch einen „Gottsucher“ irritiert werden und die den „Gottsucher“ irritieren. Der Geist Gottes weht bekanntermaßen, wo er will (vgl. Joh 3,8).
Maximilian Heuvelmann ist Priesterseminarist und Theologiestudent. Er war einer jener Münsteraner Seminaristen, über die der SPIEGEL in seiner Ausgabe vom 16. August 2019 berichtete. Den SPIEGEL-Redakteur Maik Großekathöfer hat er unter anderem auch deswegen „am stärksten beeeindruckt“, weil er die eigene Ausbildung kritisch reflektierte.
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[1] Vgl. dazu: FOUCAULT, Michel, Überwachen und Strafen, Zur Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 202017, 181.
[2] Vgl. ebd. 222.
[3] Ebd., 222.
[4] Vgl., FOUCAULT, Michel, Überwachen und Strafen, Zur Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 202017, 181.
[5] Ebd.,183.
[6] Ebd., 221.
[7] Ebd., 257.
[8] Ebd.
[9] Ebd., 224.
[10] Vgl. dazu: Regens Hartmut Niehues zur „Nulllinie“, in: https://www.kirche-und-leben.de/artikel/niehues-bei-der-priesterausbildung-quasi-an-der-nulllinie/, recherchiert am: 20.10.2019, 18:29 Uhr.
[11] Vgl. dazu: STRIET; Magnus und WERDEN Rita (HG.) Unheilige Theologie, Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester, Katholizismus im Umbruch Bd.9, Freiburg 2019.
[12] FOUCAULT, Michel, Überwachen und Strafen, Zur Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 202017, 220.
[13] Ebd.
[14] BAUER, Thomas, Die Vereindeutigung der Welt, Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018.
[15] FOUCAULT, Michel, Überwachen und Strafen, Zur Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 202017, 231.
[16] Ebd.
[17] Vgl. ebd.
[18] Vgl. FOUCAULT, Michel, Überwachen und Strafen, Zur Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 202017, 231.
[19] Ebd., 236.
[20] THEOBALD, Christoph, Hören, wer ich sein kann, Einübungen, Ostfildern 22019, 99.
[21] HALIK, Tomáš, Theater für Engel, Das Leben als religiöses Experiment, Freiburg 2019, 35.
[22] BAUER, Christian, Verwundeter Wandermann?, Michel de Certeau – eine biographische Spurensuche, in: BAUER, Christian und SORACE, Marco, Gott andreswo? Theologie im Gespräch mit Michel de Certeau, Ostfildern 2019, 13.