Wie kann heute eine Bildung aussehen, die Person und Beruf in den Blick nimmt? Matthias Gronover vom KIBOR Tübingen (Katholisches Institut für berufsorientierte Religionspädagogik) berichtet von einem Bildungskongress in Mainz zum „Religionsunterricht in der Berufsschule“ vom Dezember 2015.
Am 10.12.2015 fand in Mainz ein Bildungskongress der Institute für berufsorientierte Religionspädagogik, dem Zentrum für Bildungsforschung Jena und des Lehrstuhls für Pastoraltheologie und Religionspädagogik Sankt Georgen statt. Das Thema lautete: „Bildungskongress BRU. Person – Persönlichkeit – Bildung“. Der ökumenische Kongress hatte Berufsschulreligionslehrkräfte als Adressaten, Hauptreferenten waren Kardinal Lehmann, Bischof Huber, Prof. Heiner Keupp und Prof.in Kohler-Spiegel. Im Titel kommt das Wort Religion nicht vor. Nicht nur dies lässt vermuten, dass es bei diesem Kongress um mehr ging als um Selbstbestätigung und Imagepflege. Vorträge und die angebotenen zehn Foren machten ersichtlich, dass es im Berufsschulbereich an innovativer Kraft und kreativen Realisierungen religiöser Bildung nicht fehlt. Das ist mit Blick auf die Aufgabe des Berufsschulreligionsunterrichts sehr nötig, zeigt aber auch, wie hoch differenziert Religionsunterricht heute unterwegs ist. Religion ist dabei tragend, ohne immer benannt werden zu müssen.
Person ist Anspruch an sich selbst und Zuspruch von anderen
Religiöse und berufliche Bildung seien zwar, nach dem Berufspädagogen Andreas Schelten, zwei Seiten einer Medaille. Beide seien nicht auf ihre Zwecke reduzierbar, sondern immer auch Zweck in sich, eben Bildung im besten Wortsinn. So ist auch Berufsbildung allererst Bildung, und insofern anschlussfähig an religiöse Bildung. Dennoch wird, folgt man den Ausführungen von Kardinal Lehmann, der Berufsschulreligionsunterricht im Kontext der Berufsausbildung sehr umsichtig mit seinen Zielen umgehen müssen. Soll heißen: religiöse Bildung darf es nicht darum gehen, den Bedürfnissen des Wirtschaftssystems unkritisch zu folgen. Sie muss den Menschen als Ebenbild Gottes in den weiten Horizont des Bundes Gottes mit den Menschen stellen. Der Mensch ist angenommen wie er ist; er muss sich nicht optimieren oder selbst befähigen, die Beziehung zu Gott einzugehen. Dieser Bund ist aber auch eine Verpflichtung des Menschen zum Engagement für die Welt — was Lehmann als die doppelte Relativität der Arbeit als Mühsal und Erfüllung herausstellte. In dieser doppelten Relativität findet sich der Mensch als kreatives Geschöpf genauso wieder wie als Gehilfe anderer, fremder Zwecke, der steinige Wege gehen muss („im Schweiße seines Angesichts“, Gen 3, 19), um leben zu können. In der Arbeit persönliche Erfüllung zu finden ist demnach ein Ideal, das es immer wieder neu einzuholen gelte und das viel damit zu tun habe, was Arbeit mit dem Menschen und was der Mensch durch seine Arbeit mache.
Die Gefahren, die in dieser Spannung von Fremd- und Selbstbestimmung liegen, machte Bischof Huber deutlich. In Zeiten, in denen es nicht mehr nur um die Erledigung von Aufgaben gehe, sondern in allen Aufgaben eine Steigerungslogik angelegt sei, seien auch vielfältige Wege zur Leistungssteigerung beschreitbar, die den Menschen nicht zu sich selbst führten, sondern ihn sich selbst entfremdeten. Dabei hatte Huber nicht nur die meist eng getakteten industriellen Arbeitsabläufe im Blick, sondern beispielsweise auch Möglichkeiten des Neuro-Enhancements. Vor diesem Hintergrund bekäme religiöse Bildung eine neue Dringlichkeit, weil das Selbstbild eines jeden Menschen eben auch bestimmt sei von seinem Fremdbild, dem Bild, das bspw. der Arbeitgeber von einem habe. In der späten Moderne sind wir individuell herausgefordert, das machbar Mögliche vom angemessen Nötigen zu unterscheiden. Und nötig sei vor allem anderen dasjenige, was uns „alt und lebenssatt“ (Gen 25, 8) werden lasse.
Person-Sein ist immer eingespannt in die Gesellschaft, Arbeitswelt und Familie sowie alle anderen Bezugsgruppen
Person-Sein heißt heute also nicht mehr einfach nur „da“ zu sein. Die Aufgabe, heute ganz Mensch zu sein, korrespondiert mit dem Anspruch, die eigenen Mitmenschen als ganz andere wahrnehmen zu können. Person-Sein ist demnach immer eingespannt in die Gesellschaft, Arbeitswelt und Familie sowie alle anderen Bezugsgruppen. Religiöse Bildung im Berufsschulreligionsunterricht kann deshalb nie aufhören, diese Bezüge und Beziehungen sichtbar zu machen, sie aus dem Nebel der Selbstverständlichkeit heraus zu holen und bewusst zu machen, dass Beziehungen kein Schicksal sind, sondern er- und bearbeitet werden müssen. Einige Foren gingen darauf ganz besonders ein, indem sie etwa die philosophischen Bezüge des je Anderen herausstellten oder die dialogische Gestaltung von Beziehungen thematisierten. Für Auszubildende und Schülerinnen und Schüler ist klar, dass jenseits der Selbstverständlichkeit, da zu sein, die Herausforderung der eigenen Lebensgestaltung steht. Automatismen im Zusammenhang von Person, Arbeit und den ethischen Herausforderungen der heutigen Gesellschaft gibt es jedenfalls nicht.
Religiöse Bildung leistet einen Beitrag für Resilienz und Persönlichkeit
Heiner Keupp machte es deutlich: die Frage nach dem eigenen Ich in einer Welt, die sehr raschen Veränderungen unterliegt, ist eine Herausforderung. Berechenbare, geordnete und verlässliche Modi der Identitätsbildung erweisen sich als unmöglich. Auf diese Situation mit Identitätszwängen zu reagieren ist kontraproduktiv, weil auf das Phänomen der Beschleunigung, Effizienzsteigerung und Fragmentierung sozialer Räume vor allem dadurch reagiert werden müsse, dass die Suche nach einer eigenen, lebbaren Identität immer die Qualität einer Suche und damit der Offenheit haben solle. Das heißt auch, das eigene Scheitern akzeptieren zu lernen und Identität immer wieder neu zu konstruieren. Keupp sieht in diesem Konzept vor allem eine Chance, Jugendliche zu sich selbst zu befreien und Optionen einer Lebensführung aufzuweisen, die Kriterien eines gelingenden Lebens eben nicht nur in oberflächlichen Geglücktsein eines Entwurfs sehen, sondern auch im Abgrund von Leid und Unglück. Gleichwohl setze dieses Gelingen Verwirklichungschancen voraus. Diese Chancen sieht Keupp in den zentralen Kategorien Anerkennung, Zugehörigkeit und Vertrauen durch die äußere Welt sowie — bezogen auf die innere Welt eines Heranwachsenden — in den Kategorien Kohärenz, Authentizität und Selbstvertrauen. Beides müsse in eine Balance gebracht werden, um letztlich in unserer Gesellschaft bestehen zu können und handlungsfähig zu sein. Die Verwirklichungschancen gehen damit einher mit Faktoren der Resilienz positiver Jugendentwicklung, Selbstwirksamkeit, Salutogenese sowie der erfolgreichen Identitätsarbeit.
Diese Bindungserfahrungen prägten die Person und damit auch, wie sie mit Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten sowie Problemen umgehen wird.
Auf den Aspekt der Resilienz ging Helga Kohler-Spiegel ein. Die sogenannte psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber Entwicklungsrisiken entwickelte sich durch die Erfahrung sicherer Bindungsqualitäten gegenüber relevanten Bezugspersonen positiv. Diese Bindungserfahrungen prägten die Person und damit auch, wie sie mit Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten sowie Problemen umgehen wird. Dies lasse sich nicht nur mit Blick auf die Resilienz im allgemeinen beziehen, sondern mit gutem Grund auch religiös deuten. Die Ursprünge des Wortes Religion lägen im „sich zurückbinden“ an Gott und erinnern damit an eine tiefe Geborgenheitserfahrung, die sich gerade in den Krisen des Lebens zeige. Und nicht zuletzt sei das Wort Glaube mit dem Wort „Festhalten“ konnotiert. In der jüdisch-christlichen Tradition sei Glaube ein Angebot, sich binden zu dürfen und das „Fürchtet euch nicht“ als Kernbotschaft der Bibel schlage sich in Gottesnamen JHWH genauso nieder wie in den unterschiedlichen Narrativen des „Ich bin da“ Gottes. Die gesamte Bundestheologie ließe sich darunter subsumieren. Dass diese Kernbotschaft nicht nur alttestamentlich bezeugt ist, zeigt Kohler-Spiegel anhand der Botschaft Jesu. Diese sei geprägt durch Zuwendung und Liebe, wobei diese Begegnungsqualitäten immer Medium von Veränderungen seien. Durch die Begegnung mit Jesus wandelt sich das Leben; das Zeugnis von Jesu Botschaft zeige dabei, dass das Leben nicht einfach leicht sei, aber doch begleitet.
Wer bin ich in meinen Augen? Wer bin ich in den Augen anderer? Und: Wer bin ich im Licht des Glaubens?
Als Therapeutin berichtete Helga Kohler Spiegel eindrucksvoll von ihren Begegnungen mit jungen Menschen, die immer wieder vor die Aufgabe gestellt seien, ihre eigene Person in einen nach innen und außen kohärenten Rahmen zu stellen: Wer bin ich in meinen Augen? Wer bin ich in den Augen anderer? Und: Wer bin ich im Licht des Glaubens? Diese Fragen zu beantworten sei eine schwierige Aufgabe, die auch keine pauschalisierten Antworten erlaube. Vor allem angesichts der Fragmentarität unseres Lebens sei dies nicht möglich. Geradezu katalysiert werde diese Aufgabe in der Pubertät, wenn es um die Ablösung von der engen Beziehungsqualität zu Mutter und Vater sowie den familiär vorherrschenden Deutungsmustern gehe. Daraus folge eine Veränderung von Identifikationen und auch Überzeugungen. Es gehe dann um die Erfahrung von Einsamkeit und Freundschaft, von Schuld und Versagen und von religiösem Zweifel. Dies alles gehe mit einem kognitiven Wandlungsprozess einher, bei dem die Heranwachsenden zu abstrahieren lernen und sich damit auch neue Orientierungen erschlössen.
In Anbetracht dieser Herausforderungen sollte eine Religionspädagogik des Jugendalters Beziehung vor Erziehung stellen und Identitätsarbeit unterstützen, indem Jugendliche eine Sprache erlernen, die das Bedeutsame zum Ausdruck bringen könne und klar mache, dass niemand mit seinen Fragen allein sei. Getragen werden könne dies alles im Glauben, dass jedem Menschen ein Gegenüber zugesagt sei, „Du bist nicht allein“.
Religiöse Bildung bleibt Fragment
Es war Schleiermacher, der die Notwendigkeit von Bildung durch die Generationentatsache begründete. Es ist die gesellschaftliche Pluralität, die die Notwendigkeit religiöser Bildung unterstreicht: Bischof Huber hat dies nochmals mit Blick auf die Herausforderungen durch islamistischen Terrorismus und die vermeintlich christliche Leitkultur deutlich gemacht. Es geht nicht darum, einfache Antworten auf komplexe Fragen zu geben. Wir stehen vor der Aufgabe, die Komplexität der Fragen erst zu erkennen. Dass Religion ein Kernelement bei der Suche nach Antworten ist, ist unbestritten. Gerade deshalb muss die religiöse Bildung in der Berufsschule intensiviert werden. Denn auch die Formel, wonach Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen im Großen (der Politik) gefunden werden und im Kleinen (des Alltags) gelebt werden müssen, stimmt nicht mehr. Mit Blick auf Religion steckt im Alltag immer wieder auch die Herausforderung, sich zu positionieren und für sich Lösungen zu finden. Insofern fragmentiert sich Religion selbst sobald sie alltäglich wird. Zugleich steht jeder Einzelne vor der Aufgabe, im Fragment das Ganze zu erkennen. Und dazu leistet der Religionsunterricht einen entscheidenden Beitrag.
(Dr. Matthias Gronover, KIBOR-Tübingen)